Digitale Heimarbeit in Rumänien
Es ist Anfang Dezember, der erste Schnee fällt in der Region Siebenbürgen in Rumänien. Der Karpatenbogen trennt die Region vom Rest des Landes, die in ihrer wechselvollen Geschichte lange Zeit zur österreich-ungarischen Doppelmonarchie gehörte und in der ein Großteil der ungarischen und deutschen Minderheit Rumäniens angesiedelt ist.
Auf meiner Forschungsreise durch Rumänien mache ich in einer mittelgroßen siebenbürgischen Stadt halt, um eine meiner Interviewpartner*innen Alexandra (Name geändert) zu treffen, die auf der australischen Plattform Appen arbeitet. Über die Berufsnetzwerkplattform Linkedin hatte ich sie einige Wochen zuvor kontaktiert. Wir treffen uns gegen frühen Abend in einem Café, während ihr Partner auf das gemeinsame 8 Monate alte Baby aufpasst.
Alexandra ist um die dreißig Jahre alt und arbeitet als Geschäftsführungsassistenz im Personalmanagement. Bei ihrem Arbeitgeber handelt es sich um ein multinationales Unternehmen, das Teile seiner Produktion nach Rumänien ausgelagert hat. Aufgrund ihres Babys ist sie zurzeit in Elternzeit. Ihr sprachwissenschaftliches Studium musste sie aufgrund von finanziellen Gründen aufgeben. Vor ca. einem Jahr begann sie mit der Arbeit auf Appen, nachdem sie schon lange Zeit nach einer Möglichkeit gesucht hatte, von zuhause aus zu arbeiten.
Appen bezeichnet sich selbst als „AI-assisted data annotation platform“, die darauf spezialisiert ist, menschlich-annotierte Daten bereitzustellen, die für maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz erforderlich sind, zum Beispiel für die Optimierung von Suchmaschinen oder die Entwicklung von Spracherkennungsprogrammen. Zu seinen Kunden zählen Amazon und Facebook. Bereits 1996 gegründet und seit 2015 an der Börse, versucht sich das Unternehmen in den letzten Jahren als Marktführer für KI-Trainingsdaten zu etablieren und kaufte im letzten Jahr die Microtasking-Plattform Figure Eight (ehemals Crowdflower) auf, um seine globale Crowd von (nach eigenen Angaben) 1 Millionen Arbeiter*innen mit 180 unterschiedlichen Sprachkenntnissen zu erweitern. Appen hat einen spezifischen Bedarf an einer solchen globalen und heterogenen Arbeiter*innenschaft, um beispielsweise Spracherkennungsalgorithmen mit unterschiedlichen Akzenten und Dialekten füttern zu können.
Alexandra hat über eine Online-Werbung zu Appen gefunden. Das Plattformunternehmen schaltet beispielsweise Anzeigen in Facebook-Gruppen für IT Jobs in Rumänien. Wie die folgende Werbeanzeige zeigt, versucht es dabei spezifisch Menschen zu erreichen, die Sorgeverantwortlichkeiten wie beispielsweise Kinderbetreuung haben und auf die ein oder andere Art und Weise an ihr Zuhause gebunden sind.
Auf dem Blog des Unternehmens finden sich zahlreiche Artikel, in denen Crowdwork als ideale Lösung zur Vereinbarkeit von Lohnarbeit und reproduktiven Tätigkeiten präsentiert wird:
„Remote work allows you the flexibility to set your own schedule and complete job tasks from a variety of places. Working from home can even help you and your family spend quality time together. If you’re a stay-at-home mom or a stay-at-home dad, it’s just one of the benefits of a flexible job.“
Für Alexandra klingen solche Werbestrategien allerdings wie ein Märchen. Auf der Plattform arbeiten kann sie nur nach 20 Uhr, wenn sie ihr Kind ins Bett gebracht hat. Wenn sie nicht zu müde ist, versucht sie dann bis Mitternacht zu arbeiten. Die Tätigkeiten findet sie oft ermüdend, vor allem wenn sie Audio- oder Videomaterial transkribieren muss. Anonymisierte Aufnahmen von Social-Media-Nutzer*innen, bei denen sie akribisch jedes menschliche und nicht-menschliches Geräusch notieren muss. Tagsüber, während ihr Partner bei der Arbeit ist, hat sie höchstens mal eine halbe Stunde zwischen der Kinderbetreuung Zeit. Einen Babysitter können sie sich nicht leisten. Trotz alledem bringt der Job ihr Vorteile. Während des Mutterschutzes darf sie eigentlich nichts dazu verdienen, aber die Online-Arbeit auf Appen kann sie informell über ihren Ehemann abrechnen. Sie verdient durchschnittlich 5 Dollar pro Stunde auf der Plattform, bei ihrem regulären Arbeitgeber bekommt sie nur halb so viel. Der Mindestlohn in Rumänien lag 2019 bei 446€ pro Monat, das durchschnittliche Nettoeinkommen betrug um die 650€. Appen bezahlt seine Crowd zum Teil nicht nur stücklohnbasiert, sondern schließt temporär begrenzte Verträge mit den Selbstständigen ab, beispielsweise für ein 2-monatiges Projekt à 20 Stunden pro Woche.
Alexandra ist nur eine von vielen digitalen Plattformarbeiter*innen in Rumänien. Eine 2015 erschienene Studie der Weltbank zu globalem Online Outsourcing hob Osteuropa, insbesondere Serbien und Rumänien als Länder hervor, in denen sich im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Länder am meisten Online-Arbeitende befänden. Das bereits beschriebene niedrige Lohnniveau ist sicherlich einer der zentralen Gründe für die hohe Konzentration von Crowdworkern in der europäischen Peripherie. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Beispielsweise die digitale Infrastruktur, eine der wichtigsten Voraussetzungen für die zeiträumliche Rekonfiguration von Arbeit durch Crowdwork-Plattformen. Rumänien befand sich bis 2017 auf Platz 5 der schnellsten Internetverbindungen der Welt. Oder die hohe Zahl an IT-Spezialist*innen, die auf Plattformen wie Upwork als Software-Entwickler*innen arbeiten. Die IT-Industrie ist derzeit einer der wichtigsten ökonomischen Sektoren des Landes und die Regierung versucht, beispielsweise durch steuerliche Begünstigungen für freiberufliche IT-Spezialist*innen, insbesondere junge Menschen zur Arbeit in der Tech-Industrie zu motivieren. Hierbei handelt es sich allerdings nicht nur um eine neuere Entwicklung. Rumänien bildete schon während seiner sozialistischen Periode hoch spezialisierte Arbeitskräfte im Bereich Informatik und Kybernetik aus (Erin McElroy 2019).
Allerdings besteht 75 Prozent der derzeitigen Aktivität auf dem rumänischen IT-Markt aus Outsourcing-Arbeit. Viele westeuropäische Länder bevorzugen das sogenannte „Nearshoring“ in osteuropäische Länder wie Rumänien aufgrund der ähnlichen Zeitzonen und argumentieren mit der „kulturellen Nähe“ gegenüber Outsourcing-Standorten im globalen Süden. Eine weitere interessante Zahl: 20-32 Prozent der 125.000 IT-Spezialist*innen sind nicht fest angestellt, sondern als Freelancer tätig (Cluj IT Cluster, November 2019).
All diese Hintergründe machen deutlich, dass die Auslagerung von Tätigkeiten nach Rumänien über Crowdwork-Plattformen wie Appen, Upwork oder Clickworker, die erst in den letzten zehn Jahren populär geworden sind, auf einer langen Geschichte des Outsourcing nach Rumänien aufbaut. Deutschland spielt in dieser Geschichte keine unbedeutende Rolle. Die deutsche Minderheit des Landes zählt zwar derzeit nur noch 40.000 Menschen, aber gerade in der Region Siebenbürgen siedeln sich viele deutsche Unternehmen an, die von den deutschsprachigen Arbeitskräften profitieren. Auch auf Crowdwork-Plattformen wie Upwork findet man deutschsprachige Freelancer, die als virtuelle Assistent*innen, Übersetzer*innen oder Recruiter für deutsche Unternehmen temporär begrenzte Aufträge erledigen. Weder müssen diese Unternehmen nunmehr Teile ihrer Produktion nach Rumänien auslagern, um auf die billigen Arbeitskräfte zugreifen zu können, noch müssen sie migrantische Arbeiter*innen in Deutschland anwerben. „Virtuelle Migration“ ermöglicht so neue Formen globaler Arbeitsteilung und rekonfiguriert gleichzeitig das Verhältnis von produktiver und reproduktiver Arbeit.
Für Alexandra stellt die Plattformarbeit bei Appen keine gute langfristige Beschäftigung dar. Nach Ende eines der zeitlich begrenzten Projekte muss sie jedes Mal wieder um eine Weiterbeschäftigung bangen und sich für ein neues Projekt bewerben. Die Verfügbarkeit von Arbeit und die intransparenten Kriterien der Jobvergabe sind die am meisten diskutieren Themen im eigens eingerichteten Diskussionsforum der Plattform. Es gleicht einem Wartezimmer, in dem sich Arbeitende von überall in der Welt treffen und ihren Frust über das Warten auf ein neues Projekt miteinander teilen. Auch die unterschiedlichen Lohnniveaus sind Thema im Forum. Während Alexandra 5 Dollar pro Stunde verdient, bekommen philippinische Arbeiter*innen nur 3 Dollar und deutsche Crowdworker bis zu 18 Dollar.
Aber auch innerhalb Rumäniens hat die Arbeit auf einer Crowdwork-Plattform je nach Region eine unterschiedliche Bedeutung. In Bukarest wäre sie auf so einen Job beispielsweise vermutlich nicht angewiesen, meint Alexandra. Doch in der mittelgroßen Stadt in Siebenbürgen, die in einer sehr ländlichen Region liegt, gibt es nicht viele Optionen:
“If you have a job that pays well and you don’t live from one month to the other – to be honest, then you don’t need to do this kind of job. This is for people like...us. In this city actually. I wouldn’t say Bucharest either. [...] For people like us who are not having that much and are not earning that much.”
Mira Wallis, 18.12.2019
Plattform
Plattformen sind Transaktionsflächen. Sie schaffen Modi der Verbindung und bestimmen Regeln der Interaktion. Plattformen sind Abstraktionen. Sie regieren durch Vermittlung. Uber besitzt keine Taxis, Airbnb keine Wohnungen, Deliveroo keine Fahrräder und doch revolutionieren sie ganze Sektoren. Plattformen vermitteln niemals neutral; sie rekonfigurieren ökonomische, soziale und politische Organisationweisen und Machtverhältnisse. Sie nehmen die unterschiedlichsten Funktionen ein und dringen in immer neue Bereiche vor. Plattformen reorganisieren Arbeitsverhältnisse. Die Fabrik wird zur Plattform, die Plattform zur Fabrik.
Virtuelle Küchen und Geisterrestaurants: Plattformen und logistischer Urbanismus
Ein Hinterhof in Berlin Kreuzberg. Neben einer unscheinbaren schwarzen Tür hängt ein dezentes Schild mit dem Firmennahmen Keatz und den Logos verschiedener Essenslieferdienste. Zahlreiche Fahrradkuriere gehen ein und aus. Hinter der Tür öffnen sich die Räume zu einem virtuellen Restaurant. Essen nur zur Auslieferung zubereitet, präzise portioniert und streng getaktet. An einem Regal hängen zahlreiche Tablets, über die die im Minutentakt Bestellungen eingehen, die irgendwo in der Stadt auf einer Plattform wie Deliveroo getätigt wurden. Einige der beliebtesten „Restaurants“ auf diesen Plattformen existieren tatsächlich nur in diesem Raum. In diesen Geisterrestaurants werden mexikanische Burritos, Thaicurry, vegane Hot Dogs oder Hawaiianische Poke Bowls direkt nebeneinander gekocht. Den meisten Kund_innen wird das nicht auffallen: In den Apps der Lieferdienste treten die verschiedenen Küchen, die Keatz offeriert, wie andere Restaurants auf. Nur dass diese meist primär für jene Gäste kochen, die zu ihnen kommen und an den Tischen des Lokals Platz nehmen. In dieser virtuellen Küche ist hingegen alles für die Auslieferung optimiert. Die üblichen kulturellen Insignien eines Restaurants fehlen vollständig, Alles findet unter der Maßgabe von Sterilität und Effizienz statt.
Die Betreiber dieser virtuellen Restaurants, die sich inzwischen in mehreren Stadtteilen Berlins finden, setzen ganz auf den Essensliefertrend. Erst in diesem Jahr konnte das Berliner Start-Up in einer Finanzierungsrunde 12 Millionen Euro einsammeln und plant, in alle großen europäischen Städte zu expandieren. Immer mehr Leute bestellen sich Mittag- oder Abendessen ins Büro oder nach Hause und immer mehr nutzen dafür digitale Plattformen, die eine Vielzahl verschiedener Essen von unterschiedlichen Restaurants im Angebot versammeln. Weltweit erreichte der im Wachsen begriffene Markt für Essenslieferungen 2016 ein Volumen von $83 Milliarden.
Effizienz und Geschwindigkeit
Global entstehen in urbanen Kontexten immer mehr solcher Restaurants, in denen nur für die Lieferung gekocht wird, oft auch als „dark kitchens“, „cloud kitchens“ oder „ghost kitchens“ bezeichnet. Nachdem die Aufmerksamkeit lange den Lieferplattformen wie Deliveroo, Just Eat, Uber Eats oder Lieferando galt, interessiert sich "die Branche" – und neues Venture Kapital – zunehmend für die Infrastruktur der Zubereitung des Essens für die Auslieferung. Weil die bestehenden Restaurants, die gleichzeitig Laufpublikum bedienen müssen, oft zu langsam und ineffizient für die Anforderungen der Auslieferung sind und gleichzeitig oft hohe Mieten für beliebte Innenstadtlagen zahlen müssen, steigt die Zahl dieser Geisterrestaurants und der verschiedenen Geschäftsmodelle um sie herum. So gründete Travis Kalanick, der Mitgründer und ehemaliger CEO von Uber, die Firma Cloud Kitchens, die an bestehende Restaurants zur Auslieferung optimierte virtuelle Küchen vermietet, so dass diese ihre Lieferküchen und Restaurants trennen können. Eccie Newton, die Gründerin von Karma Kitchen, bezeichnet dieses Geschäftsmodell mit Bezug auf den bekannten Co-Working Giganten als „WeWork für Küchen“. Kitchen United, ein von Google finanziertes Start-Up bietet neben den Räumen und der Küchenausstattung auch Software für Lieferküchen und verspricht dazu Personaleinsparrungen von 75-80 Prozent im Vergleich zu gebräuchlichen Küchen.
Auch die Lieferplattform Deliveroo hat auf die Erfahrung reagiert, dass viele Restaurants mit der Nachfrage nach Essenlieferungen überfordert sind und das Programm „Deliveroo Editions“ aufgesetzt. Auf einem heruntergekommenen Parkplatz im Londoner Stadtteil Blackwell, einst Umschlagplatz für Kleidung und Wolle zur Zeiten der Industrialisierung, stehen jetzt zehn fensterlose Container, die in den Farben der Plattform gestrichen sind. In jedem dieser kleinen Container arbeitet Küchenpersonal von beliebten Restaurants aus der Umgebung und kocht Essen ausschließlich für die Auslieferung, zum Beispiel in die benachbarten Bürotürme von Canary Wharf, früher Teil des Hafens, jetzt neues Finanzzentrum.
Die Container, die mit Metallzäunen abgesperrt unter den Schienen der Hochbahn stehen und mit Flutlicht beleuchtet werden, bieten ein trostloses Bild. Teile des Personals beschweren sich über die Temperaturen in den fensterlosen Containern; je nach Jahreszeit ist es zu kalt oder zu heiß. In anderen Londoner Stadtteilen oder Städten Großbritanniens, Australiens, Frankreichs oder in Hong Kong, wo solche Geisterküchen existieren, nutzt Deliveroo für das Editions-Programm alte Warenhäuser oder Fabrikgebäude.
Neben den Aspekten von Kapazität und Mieten sind Geschwindigkeit und Effizienz zentrale ökonomische Faktoren von virtuellen Küchen. Deliveroo Gründer Will Shu setzt auf die Editions-Küchen, auch weil deren Essen durchschnittlich fünf Minuten schneller als von herkömmlichen Restaurants ausgeliefert sind. Für die Projektierung solcher Editions-Küchen nutzt Deliveroo ihren Datenbestand, mit dem die Nachfrage nach bestimmten Restaurants und Küchenstilen für potentielle Standorte bestimmt wird. Die Editions-Küchen sowie eine zunehmende Automatisierung des Kochens spielen für das Ziel, die gelieferten Essen preislich an die Kosten für selbst gekochtes Essen anzunähern und den Lieferdienst profitabel zu machen, eine zunehmende Rolle. Dass die Editions-Küchen einen neuen Knotenpunkt in der Operation von Deliveroo darstellen, haben allerdings auch protestestierende Fahrer_innen bemerkt, im Rahmen eines Arbeitskonflikts die Deliveroo Editions in Leeds mit einer Streikpostenkette blockierten.
Plattformurbanismus
Diese Entwicklungen zeigen einmal mehr, dass Plattformen wie Deliveroo Teil tiefgreifender Veränderungen sind, die nicht nur de Welt der Arbeit betreffen, sondern auch die Transformationen des urbanen Raums. Produktion und Konsum von Essen stellen ein wichtigen Faktor dar, der den urbanen Raum und seine Sozialität insbesondere in Innenstädten prägt. Essenslieferdienste und Onlineshopping sind dabei nicht nur Konsumverhalten auch die Innenstädte zu verändern. Die Architektin und Urbanistin Clare Lyster beschreibt die Logistik als entscheidenden Impetus in der Produktion des urbanen Raums, der Städte immer mehr zu „integrierten Serviceplattformen“ umwandle. Die letzte Meile der Auslieferung – des Essens oder von Paketen aller Art – ist zentraler Bestandteil dieses neuen logistischen Urbanismus. Die on-demand-Logik der Plattformen setzt an bestehenden Infrastrukturen an und beginnt zunehmend diese zu rekonfigurieren, greift in die Nutzkonflikte und -konkurrenzen um verschiedene städtische Räume ein und verändert die politische Ökonomie des Essens.
Wenngleich viele Essenslieferdienste weiterhin nicht profitabel arbeiten, herrscht in der Industrie Goldgräberstimmung, wie zuletzt die Investition von Amazon in Deliveroo zeigte. Milliardeninvestitionen in Essensplattformen sind eine Wette auf die Zukunft. Eine Wette auf die voranschreitende Transformation der allgemeinen Ökonomie und Kultur des Essens. Bob van Dijk, der Geschäftsführer von Naspers, einem der relevanten Investoren im Bereich der Essenslieferung, beschreibt für seine Wette die Vision des Endes des privaten Kochens: „Vor 150 Jahren haben die meisten Leute ihre Kleidung selbst hergestellt. Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass wir in 20 Jahren unser Essen kaum noch selbst kochen werden“. Wir befinden uns im Testlauf.
Anmerkung: Der überraschende Rückzug von Deliveroo aus Deutschland bedeutete auch das Ende für das oben beschriebene virtuelle Restaurant von Keatz, das seinen Umsatz hauptsächlich über die Plattform von Deliveroo generierte. Keatz hat alle virtuellen Restaurants in Deutschland geschlossen und das Küchenpersonal entlassen.
Infrastruktur
Infrastruktur ist das »technologische Unbewusste« (Clough/Thrift) des gegenwärtigen Kapitalismus. Eine Struktur also, deren Bedeutung und Rolle oft unsichtbar bleiben und erst im Krisenfall zutage treten. Sie ist Materie, die andere Materie bewegt (Larkin). Heute komplettieren Unterseekabel, Satelliten und Datenzentren, aber auch algorithmische Architekturen bestehende Infrastrukturen wie Straßen, Brücken und Häfen. Infrastruktur erlaubt die globale Zirkulation von Waren und Daten und damit die räumliche, zeitliche und personelle Neuverteilung und Neuzusammensetzung der Arbeit. Während Infrastrukturen lange tendenziell von Staaten gebaut, kontrolliert und monopolisiert wurden, sind die Infrastrukturen des Digitalen von Datenzentren bis Unterseekabeln vor allem in der Hand großer Konzerne.
Logistik
Logistik ist die zentrale Disziplin des gegenwärtigen Kapitalismus. Sie organisiert die Bewegung von Menschen und Waren und stülpt ihre Logik zunehmend über den kompletten Kreislauf von Produktion, Distribution und Konsum. Sie ist heute mehr und mehr die Form der ökonomischen Planung, eine Rationalität, sogar eine Wissensform. Logistik ist im Zuge der Globalisierung nicht nur zu einem bedeutenden ökonomischen Sektor geworden, sondern durchzieht und prägt Arbeit und Alltag. Sie durchdringt nach und nach alle Lebensverhältnisse mit ihrer Rationalität – auch die Regulation menschlicher Mobilität, der Migration. Logistik ist die »Kriegskunst des Kapitals« (Bernes), ihre Schlüsseltechnologien sind Container und Algorithmen, ihr Antrieb ist die Standardisierung und Modularisierung. Ihr Versprechen von Reibungslosigkeit, Messbarkeit, Geschwindigkeit löst sie selten ein. Widersprüche, Unfälle, Hindernisse und Arbeitskämpfe sind allgegenwärtig.
Digitalität
Digitalität bezeichnet die Hegemonie einer bestimmten Form der Verarbeitung, Speicherung und Übertragung von Daten. Binär und diskret. Eine alte Logik, enorm beschleunigt durch die Entwicklung immer kleinerer und leistungsfähigerer Prozessoren seit den 1960er Jahren und immer vernetzter durch die Entstehung und Verbreitung des Internets. Digitale Kommunikation und Datenverarbeitung beruht auf einer globalen Infrastruktur aus Endgeräten, Unterseekabeln, Satelliten, Datenzentren, Sendemasten, Sensoren. Digitalität ist immer materiell, immer real. Die digitale Technologie verlässt gegenwärtig den Computer und wird Umgebung. Sie durchdringt immer weitere gesellschaftliche Bereiche und transformiert so Arbeit, Alltag, Reproduktion, Raum, Souveränität, Mobilität.

Im Frühjahr 2017 erregte die Crowdwork-Plattform "Fiverr" Aufsehen mit ihrer Werbekampagne "In Doers We Trust", mit der sie nach eigener Aussage den gegenwärtigen "Zeitgeist unternehmerischer Flexibilität" einzufangen versuchte. Als Reaktion erntete das Unternehmen von unterschiedlicher Seite Kritik, unter anderem vom Magazin New Yorker, das die Kampagne als Ästhetisierung der prekären Arbeitsbedingungen in der Gig Economy bezeichnete. Mittlerweile hat Fiverr seine Marketingstrategie angepasst und setzt in seiner neuen Kampagne "Each Other" auf die sozialen Verbindungen der Plattform-Community.
Künstliche Intelligenz und ihr „Geheimnis“: die menschliche Arbeitskraft
„Künstliche Intelligenz hat ein kleines schmutziges Geheimnis: Sie wird angetrieben durch Hunderttausende echte Menschen. Von Visagist_innen in Venezuela zu Frauen in konservativen Teilen von Indien, Menschen rund um die Welt erledigen das digitale Äquivalent von Näharbeit – sie zeichnen Kästen um Autos in Straßenaufnahmen, kennzeichnen Bilder, und transkribieren Sprachfetzen, die Computer nicht entziffern können“ (eigene Übers.).
Dieses Zitat ist von „iMerit“ (2018), einem 2012 gegründeten Datendienstleistungsunternehmen mit Firmensitzen in Indien und den USA. iMerit hat sich darauf spezialisiert, Datensätze zu bearbeiten, die zur Entwicklung und Optimierung von künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen erforderlich sind. Die rund 2000 Mitarbeiter_innen des Unternehmens kategorisieren Millionen von Bildern oder Modeartikeln, sprechen Beispielsätze ein oder klassifizieren die emotionale Stimmung von Liedern, um so die Algorithmen zu „trainieren“, die zur Optimierung von Bild- und Spracherkennung, für Suchmaschinen oder für automatisierte Kaufvorschläge notwendig sind. 90 Prozent der Kunden von iMerit stammen aus den USA – darunter Microsoft, Ebay, TripAdvisor oder Getty Images.
Der Bereich künstliche Intelligenz ist nur ein Beispiel für den Aufstieg digitaler Ökonomien, in denen Algorithmen am Werk vermutet werden, während de facto menschliche Arbeit benötigt wird. In ihrer Werbestrategie knüpft iMerit an die Mystifizierung von künstlicher Intelligenz in der öffentlichen Debatte um Automatisierung an und „enthüllt“ ihr vermeintlich „schmutziges Geheimnis“. Gleichzeitig präsentiert sich das Unternehmen als „social impact for-profit model“, das keinesfalls „schmutzige“ Arbeitsplätze schafft, sondern im Gegenteil gesellschaftlich benachteiligten Gruppen zur Partizipation an der neuen digitalen Ökonomie verhelfe.
Das Geschäftsmodell von iMerit lässt sich vor dem Hintergrund eines steigenden Bedarfs an menschlicher Arbeitskraft für die Entwicklung von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen skizzieren und kontextualisieren. Der Werbeslogan deutet außerdem an, wie diese Arbeitskraft mobilisiert wird – und welche geschlechts- und kulturspezifischen Dimensionen damit einhergehen.
Nicht durch Zufall ruft iMerit in ihrem Werbeslogan Arbeiter*innen aus Venezuela und Indien auf. Laut des Online Labour Index der Universität Oxford sind beide Länder unter den TOP 15, von denen aus digitale Arbeiter*innen auf Online-Arbeitsplattformen arbeiten, wobei Indien mit über 25 Prozent die meisten Marktanteile auf der „Angebotsseite“ von Online-Arbeit besitzt. Über sogenannte Crowdwork-Plattformen werden die eingangs beschriebenen Aufgaben wie beispielsweise die Kategorisierung von Bildern an digitale Arbeiter*innen auf der ganzen Welt vergeben, die diese in vielen Fällen vor ihren heimischen Bildschirmen und mobilen Endgeräten lösen. Entlohnt werden die zeitlich begrenzten Aufträge, auch „gigs“ genannt, meist über das Stücklohnprinzip. Für manche Aufträge wie beispielsweise das Einsprechen eines Satzes bekommen die Arbeiter*innen nur Cent-Beträge. Ebenfalls nicht durch Zufall spricht iMerit also vom „digitalen Äquivalent von Näharbeit“. Insbesondere in Indien ist „traditionelle“ industrielle Heimarbeit keinesfalls Relikt einer vor- oder frühkapitalistischen Vergangenheit, sondern nach wie vor weit verbreitet, vor allem in der Bekleidungsindustrie. Im Vergleich dazu liegt für viele Menschen der durchschnittliche Stundenlohn auf digitalen Arbeitsplattformen über dem, was sie auf dem lokalen Arbeitsmarkt verdienen können.
Bei iMerit handelt es sich allerdings nicht um eine klassische digitale Arbeitsplattform (wie z.B. Amazon Mechanical Turk oder Figure Eight), die zwischen Auftraggeber*innen und Auftragnehmer*innen vermittelt und die ortsungebundenen Arbeiter*innen mittels des Stücklohnprinzips und digitaler Technologien kontrolliert. Laut Website sind alle 2.000 Mitarbeiter*innen Vollzeitbeschäftigte und arbeiten in unterschiedlichen „outposts“ des Unternehmens. Dieses Geschäftsmodell deutet auf eine weitere Ausdifferenzierung der „workforce solutions“ innerhalb der Ökonomie digitaler Arbeit hin, insbesondere mit Blick auf die Entwicklung künstlicher Intelligenz. Die gestiegene Nachfrage an hochpräzisen Trainingsdaten, beispielsweise für autonomes Fahren oder die Steuerung des Smart Home führt zu einem enormen Anstieg von Anbietern von Crowd-KI-Kombinationen, die Lösungen für eine flexible Integration menschlicher Arbeitskraft in teilautonome Arbeitsprozesse anbieten (Schmidt 2019). iMerit nennt diese Integration “data for machines with a human touch” oder “human-in-the-loop“-Dienstleistungen. Nun arbeiten aber viele der KI-Entwickler mit sehr vertraulichen Daten und Forschungsergebnissen, die sie der unbekannten „crowd“ der Crowdwork-Plattformunternehmen nicht anvertrauen wollen. Genau hier greift das Geschäftsmodell von iMerit mit seiner Belegschaft in Indien und den USA, die vermutlich mit ähnlich günstigen Lohnkosten verbunden ist, dafür aber durch die räumliche Konzentration in den „outposts“ des Unternehmens stärker gesteuert werden kann. Ein Beispiel ist die kürzlich veröffentlichte Zusammenarbeit von iMerit mit „Amazon SageMaker Ground Truth“, einem neuen Service von Amazon Web Services, der Unternehmen beim Aufbau von Trainingsdaten für maschinelles Lernen unterstützt und damit wirbt, die Kosten von Datenkennzeichnungen durch die Kombination von Automatisierung und menschlicher Arbeitskraft um bis zu 70 Prozent zu senken. Amazon SageMaker Ground Truth bietet den Unternehmen zwei Optionen an: Entweder können sie per Integration mit Amazon Mechanical Turk als klassischer Crowdwork-Plattform „auf eine öffentliche Belegschaft aus über 500.000 Kennzeichnern zugreifen“. Oder sie können „von Amazon vorausgewählte professionelle Kennzeichnungsfirmen einsetzen“, falls die zu behandelnden Daten „Vertraulichkeit oder besondere Fähigkeiten erfordern“ – und hier kommt iMerit ins Spiel. Mit Blick auf die Zukunft werden solche Kombinationen von KI und Crowdwork und damit verbunden der flexible Einsatz digitaler Arbeit, vermittelt über unterschiedliche Plattformen und Datendienstleistungsunternehmen, sicher an Bedeutung gewinnen.
Die Entwickler von KI sind allerdings noch mit einem weiteren Problem konfrontiert und auch hier bietet iMerit eine Lösung an: In der öffentlichen Debatte werden zunehmend die Vorurteile und Diskriminierung diskutiert, die in Algorithmen eingeschrieben sind – etwa wenn ein Chat-Bot rassistische Beleidigungen reproduziert oder ein Gesichtserkennungsprogramm nur mit Datensätzen von Bildern weißer Personen gefüttert wird. Radha Basu, Geschäftsführerin von iMerit, hob demgegenüber im Interview mit dem Magazin Fortune hervor, dass mehr als 50 Prozent der Mitarbeiter*innen des Unternehmens Frauen seien und neben Menschen mit einem Doktorabschluss viele Arbeiter*innen „weniger gebildet“ seien und „mit Armut gekämpft hätten“. Dieser „Mix“ stelle sicher, dass so viele unterschiedliche Perspektiven wie möglich im Datenkennzeichnungsprozess vertreten seien.
Eine weitere Besonderheit des Geschäftsmodells von iMerit besteht dann darin, dass es sich nicht nur als ökonomisches, profit-orientiertes Unternehmen präsentiert, sondern als „social impact for-profit model“, das „unterprivilegierten“ Menschen zur Teilhabe an der neuen digitalen Ökonomie verhelfe, ja gar den Sozialvertrag „neuschreibe“. Während im Eingangszitat im Fall von Venezuela Menschen erwähnt werden, die in einem Land mit einer massiven politischen sowie Wirtschafts- und Währungskrise kein Auskommen in der „offline“-Arbeitswelt finden, werden im Fall von Indien Frauen genannt, denen eine Arbeit außerhalb des Privathauses aufgrund patriarchaler Strukturen nicht möglich sei. In einem ergänzenden Zeitungsartikel wird eine Arbeiterin von iMerit in Metiabruz in Indien zitiert, deren Beschäftigung in dem „all-female outpost“ von iMerit „ihre einzige Chance sei, außerhalb des privaten Zuhauses in einer konservativen muslimischen Region von Indien zu arbeiten“. 2018 eröffnete iMerit einen weiteren Standort in New Orleans, der bilingual auf Spanisch und Englisch operieren soll und einen Schwerpunkt auf Übersetzungsservices legt. Dass die Wahl auf New Orleans – eine Stadt mit hoher Arbeitslosenquote, die immer noch enorm unter den Folgen des Hurrikan Katrina leidet – fiel, ist sicherlich kein Zufall. So zitiert iMerit in ihrer Pressemitteilung zur Eröffnung des Standorts den Vertreter einer ökonomischen Entwicklungsorganisation, der betont, dass iMerit nicht nur lokale Jobs kreiere, sondern einem „unterversorgten Teil der Bevölkerung“ zu Beschäftigung verhelfe.
Ein offener Widerspruch besteht sowohl mit Blick auf den Standort in New Orleans als auch Indien allerdings zwischen der Unternehmensphilosophie, junge Menschen durch „das richtige Training und die richtige Gelegenheit“ in „Technologiefachkräfte“ zu verwandeln und der Tatsache, dass es sich bei der Arbeit mit Trainingsdatensätzen für künstliche Intelligenz um eine oftmals extrem monotone Tätigkeit handelt, die weder Qualifikation erfordert noch befördert. Auch hier wird die geschlechtsspezifische Dimension digitaler Mikroarbeit deutlich.
Mira Wallis, 28. Februar 2019
Algorithmus
Algorithmen sind Rechenregeln. Ketten von Anweisungen, um Probleme zu lösen. Handlungsvorschriften. Eindeutig. Wiederholbar. Endlich. Algorithmen sind Logik plus Kontrolle (Kowalski). Algorithmen sind wichtige Infrastrukturen der Plattform. Sie organisieren, steuern und kontrollieren Arbeitsprozesse. Algorithmisches Management erlaubt die Organisation geographisch verteilter Arbeitskräfte. Ihre Kriterien und ihre Effekte sind oft opak. Selbst noch für jene, die sie programmieren. Algorithmen sind nicht neutral. Sie reproduzieren und sie reduzieren soziale Verhältnisse. Algorithmen werden gefüttert. Ihre Nahrung: Datensätze. Diese Datensätze sind nicht roh. Datensätze müssen von Menschen klassifiziert werden. Algorithmen »lernen« nie allein. Sie sind auf menschliche Arbeitskraft angewiesen.
Heimarbeit
Digitalisierung bringt die Heimarbeit zurück. Auch wenn sie nie verschwunden war. Die Nähnadel ist zur Tastatur geworden. Heimarbeit ist Lohnarbeit von Zuhause. Heimarbeit eignet sich als Puffer für schwankende Auftragslagen. Heimarbeiter*innen bilden eine latente Reservearmee. Heimarbeit ist ein Geschäftsmodell, eine eigenständige Form der Ausbeutung von Arbeit. Stücklohn reguliert Heimarbeit; er ersetzt die direkte Kontrolle über die Arbeit. Heute ermöglicht der Computer neue Formen von Heimarbeit, digitale Infrastrukturen, eine neue geographische Verteilung. Jetzt kann sie von überall erledigt werden. Digitale Heimarbeit erlaubt neue Kombinationen von Lohnarbeit und unbezahlter Sorgearbeit. Heimarbeit war immer vergeschlechtlicht. Sie ist es auch heute. Der Rohstoff digitaler Heimarbeit sind Daten. Ihre Produktionsmittel private Computer. Die Plattformen wirken als ihr neuer Verleger.
Stücklohn
In der Plattformökonomie heißt das »Stück« des Stücklohns »Gig«. Ein Gig kann die Lieferung eines Mittagessens sein. Oder die Recherche einer Mailadresse. Die Plattform vermittelt und verteilt die Gigs. Die Plattform kombiniert das Stücklohnprinzip mit algorithmischem Management. Sie setzt auch die Höhe des Stücklohns fest. Die Prinzipien dahinter sind oft intransparent. Der Stücklohn macht die direkte Arbeitskontrolle überflüssig. Wer nicht liefert, wird nicht bezahlt. Wer mehr Stundenlohn will, muss schneller arbeiten. Wer krank wird, ist selbst schuld. Er ermöglicht die Auslagerung von Produktionsarbeit in private Haushalte. Der Stücklohn ist kein neues Mittel der Arbeitsregulation, sondern mindestens so alt wie der Kapitalismus selbst. Er individualisiert die Arbeiter*innen und erschwert ihre Organisierung.
Gamification
Manche Plattformen machen Arbeit zum Spiel. Und Spiel zu Arbeit. Gamification meint den Einsatz von spielerischen Methoden, Elementen, Metaphern (Fuchs) in neuen Bereichen. Schon fünf Sterne für die Arbeitsleistung erhalten? Schon den Geschwindigkeitsrekord geknackt? Schon einen Award für Freundlichkeit gewonnen? Logiken des Spiels werden in nicht-spielerische Zusammenhänge integriert. Gamification arbeitet mit positiven Anreizen und Belohnungen statt mit Strafen. Gamification steht in Zusammenhang mit permanentem Tracking und Rating der Arbeit und befördert Konkurrenz zwischen Arbeitenden. Der Auftrag wird zum Wettbewerb, die Bezahlung zum Gewinn.
Soziale Reproduktion
Digitalisierung verändert nicht nur die Sphäre der Produktion. Sie reorganisiert auch die der Reproduktion. Soziale Reproduktion meint nicht nur alle Aktivitäten, die notwendig sind, um die menschliche Arbeitskraft (wieder)herzustellen. Es geht auch um die Reproduktion der Gesellschaft. Sowohl alltäglich als auch intergenerationell. Sowohl individuell als auch kollektiv. Der Kapitalismus ist abhängig von sozialer Reproduktion. Diese Abhängigkeit produziert Widersprüche und Krisen. Die Krise der Arbeit ist immer auch eine Krise des Zuhauses. Die Plattformökonomie trägt zur Verschiebung der Grenze zwischen den Sphären der Produktion und der Reproduktion bei. Digitale Arbeit auf Plattformen ermöglicht zeit-räumliche Flexibilität. Menschen, die aufgrund von Sorgearbeit an ihr Zuhause gebunden sind, können parallel digitale Lohnarbeiter*innen werden. Reproduktionsarbeit wird selbst digitalisiert und neu verteilt – zunehmend auch über Plattformen.
Virtuelle Migration
Virtualität bezeichnet eine Sache, die zwar nicht physisch, aber doch in ihrer Funktionalität oder Wirkung vorhanden ist. Virtuelle Migration (Aneesh) ist Migration ohne die räumliche Bewegung des Körpers über Grenzen hinweg. Sie ist immer real. Digitale Arbeiter*innen verweilen physisch in ihren Heimatländern und arbeiten gleichzeitig zu den rechtlichen, zeitlichen und kulturellen Rahmenbedingungen anderer Länder. Virtuelle Migrant*innen bleiben also an ihren Ursprungsorten und machen doch Erfahrungen der Migration. Anstelle des Körpers werden Unmengen von Daten in kürzester Zeit über Grenzen hinweg bewegt. Raum und Territorium verlieren aber keinesfalls an Bedeutung. Sie werden rekonstruiert. Die Plattform organisiert den weltweiten Zugriff auf diverse Arbeitskraftressourcen. Virtuelle Migration ermöglicht so neue Formen globaler Arbeitsteilung.
Citizenship
Citizenship schließt sowohl die institutionell verbrieften wie die praktizierten Formen von Bürgerschaft ein. Diese produzieren ein ständiges Spannungsfeld. Neue Formen digitaler Konnektivität haben gravierende Auswirkungen auf Bürgerschaft. Die Bedeutung nationaler Territorien und Gesetzgebungen verlieren keineswegs ihre Bedeutung, sie sind aber massiven Veränderungen unterworfen. Zu den Prinzipien des ius sanguinis und des ius soli tritt das ius algoritmi (Cheney-Lippold) hinzu. Mit ius algoritmi bezeichnen wir Regime von Bürgerschaft, deren Operationsmodi weiterhin auf Identifikation, Kategorisierung und Kontrolle beruhen, mit dem »algorithmischen Recht« aber zugleich auf die Verwendung von Software verweisen, die darüber mit entscheidet, welche Rechte einer Person wann gewährt werden oder nicht. Die territoriale Souveränität des Nationalstaats überschneidet sich im globalen Internet mit der anderer Staaten, von Unternehmen und ihren Plattformen. Rechte – auch jene der Arbeit und der Mobilität – werden nicht nur opak, sondern unbeständig.
Mobilität
Digitalisierung von Arbeit erfordert und befördert neue Mobilitätspraxen. Mobilisiert werden nicht nur Daten, Waren, Kapital, sondern auch Menschen. Der Begriff der Mobilität entkräftet das Dogma der Sesshaftigkeit als Normalfall sozialen Lebens und entwirft einen weiten Begriff mobiler Akteure. Er betont einen Grad an unregulierter Bewegung. Die Aus- und Verbreitung von Informationen, die Praktiken eines multi-lokal organisierten Alltags rücken durch den Blick auf mobile Lebensstile, Konsumpraktiken sowie mobile Arbeitsformen in den Vordergrund. Mobilität meint auch soziale Mobilität. Mobilität erlaubt Analysen und Theorien des Sozialen, die statische und strukturelle Grundierungen aufweichen und durchkreuzen. Der Begriff birgt auch einige Schwierigkeiten. Denn keineswegs ist alles in grenzenloser Bewegung. Mobilität ist nicht nur im Fluss, sondern lokale, nationale und regionale Bedingungen spezifischer Umwelten befördern oder verhindern Mobilität, setzen fest und entwurzeln.
Differentielle Inklusion
Differentielle Inklusion (Mezzadra/Neilson) ist heute der primäre Regulationsmodus mobiler Arbeit. Sie wird flexibler in nationale Arbeitsmärkte eingebunden und gleichzeitig werden mobile Arbeiter*innen auf unterschiedliche Weise von sozialen und politischen Rechten ausgeschlossen. Digitale Technologien tragen zu einer Entwicklung bei, in der die klare Unterscheidung von Innen und Außen, Inklusion und Exklusion in Frage steht. Stattdessen begegnen finden wir mehr und mehr neuen Formen und Praktiken der abgestuften, temporären, teilweisen und variablen Inklusion in Arbeitsmarkt und Gesellschaft. Digitale Vernetzung verändert die Mobilität der Arbeit. Sie wird virtuell, partiell und in neuen Rhythmen gebunden. Die Modi der differentiellen Inklusion produzieren neue Grenzen und Verbindungen, neue Widersprüche und Konflikte.
Migration
Migration ist menschliche Mobilität, oftmals grenzüberschreitend gedacht. Sie konstituiert, prägt und verändert alle gesellschaftlichen Bereiche. Ihr Verständnis erfordert heute eine integrative Perspektive und Untersuchung existenter und emergenter Mobilitäts- und Arbeitsregime. Migrationspolitik ist Bevölkerungspolitik über Grenzen hinweg. Sie beansprucht territoriale Souveränität und fordert Dispositionsmacht über Bevölkerungen diesseits und jenseits von Grenzen; sie setzt sie zur Arbeit fest, hält ihre Mobilität latent oder setzt sie in Bewegung. Wenn Arbeit stets einen zentralen Antrieb zur Migration darstellte, dann verändert sich Migration durch Digitalisierung. Unter digitalen Bedingungen werden neue Geopolitiken von Arbeit produziert und transformieren sich Grenzlandschaften und Bürgerrechte. Im Rahmen von Mobilitäts- und Grenzkontrollen organisiert, kontrolliert und überwacht digitale Technologie menschliche Mobilität. Sie schafft Korridore, Drehkreuze und Anlaufstellen. Im Rahmen von Erfassungstechniken identifiziert, kategorisiert und überwacht sie die Bezeichnungen mobiler Menschen und stellt ihren bürgerrechtlichen Status fest.