Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling

„Im Schatten der Toten hatten auch wir gelebt“

haratischwiliNach sieben Jahren Abwesenheit kehrt Ivo zurück, und Stellas Leben zerbricht innerhalb von Stunden, weil Ivo ihre große Liebe ist, ihr Schicksal, ihr Untergang, weil sie seit einem verhängnisvollen Nachmittag, an dem beide sechs Jahre alt waren, untrennbar mit ihm verbunden ist: „Ivo und ich freundeten uns schnell an. An den langen Liebesnachmittagen unserer Eltern fanden wir zueinander. Dadurch, dass wir ein Geheimnis gemeinsam hüten mussten, entstand schnell eine sehr starke Bindung. Denn wir beide wussten um die Gefahr, wir beide sahen sie unentwegt im Haus auf uns lauern und beschlossen in unserer kindlichen Einfalt, die Erwachsenen davor zu bewahren.“ Das ist eine Last, eine viel zu schwere Last, die Ivo und Stella noch 30 Jahre später niederdrückt. Ihre Körper sind aneinander festgewachsen, sind eins geworden, und so sehr die Adoptivgeschwister auch versuchen, sich voneinander zu lösen, sie reißen sich gegenseitig immer wieder mit in den Abgrund. Die Familie ist wild zusammengewürfelt, sie besteht aus Stella, ihrem Vater, ihrer Schwester Leni, Ivo und Großtante Tulja, die alle großgezogen hat, Stellas Mutter lebt mit einem neuen Mann in Amerika. Schmerz ist das prägende Gefühl in der Beziehung zwischen Stella und Ivo, die nicht lieben können und es so sehr versuchen. Sieben Jahre hatte Stella Zeit, sich ein unabhängiges Leben aufzubauen, ohne Ivo, und kaum ist er urück, verfällt sie ihm erneut: „Ich schwieg, ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, ob ich überhaupt einen klaren Gedanken im Kopf hatte, außer einer nackten, sprachlosen Angst um mich, um meinen Sohn, um meinen Mann, um mein mühsam zusammengeflicktes Glück.“ Doch dieses Mal ist Ivo gekommen, um Antworten zu erhalten auf die Fragen, die seit 30 Jahren nicht gestellt werden, er muss dazu nach Georgien – und Stella, seine Schwester, seine Liebe, die zweite Hälfte seiner Seele, soll ihm folgen …

Mein sanfter Zwilling der aus Georgien stammenden Autorin Nino Haratischwili ist ein Raubtier von einem Buch, als ich den Buchdeckel öffne, wirft es mich zu Boden, mit voller Wucht, hält mich gefangen, überwältigt mich. Ich stelle mich diesem Roman entgegen, mit all meiner Kraft, doch er findet gezielt die Lücken in meinem Schild, schleicht sich hindurch, bezwingt mich. Mit seiner unbezähmbaren, reichen, eindringlichen Sprache beschert er mir literarische Glücksmomente, „Die Nähe glich einem dünnen Faden, und wir waren zwei Seiltänzer darauf“ ist so ein Satz, in den ich mich verliebe, „Meine Liebe zu ihm glich einem seltenen, kostbaren Wein, den man nicht öffnen möchte, sondern die Flasche hütet, aufbewahrt und sich insgeheim auf das Trinken freut, das Kosten jedoch immer weiter aufschiebt, für einen besonderen Anlass aufspart, der aber nie eintritt, denn kein Anlass scheint gut genug für diesen Wein“ ein anderer. Berührend, schockierend und fesselnd erzählt Nino Haratischwili in Mein sanfter Zwilling von einer Wunde, die nicht heilt, von einer Liebe, die nicht sein kann, und von zwei Kindern, die ihr ganzes Leben unter der Schuld leiden, die von den Erwachsenen auf die abgewälzt wurde. Eine Bekannte aus Italien hat mir einmal berichtet, sie habe eine „morböse“ Beziehung mit einem Priester geführt – abgeleitet von lateinisch morbus für „Krankheit“. Ich möchte diesen genial konstruierten Ausdruck gern ausleihen, weil er so gut zu der kranken Liebe zwischen Stella und Ivo passt, die einander verletzen, sich der eigenen Existenz durch den Körper des anderen versichern müssen: „Und meine Abdrücke auf ihm suchend, fand ich mich überall, in dem kleinen Fleck unter der Brustwarze, neben dem Kratzer am Bauchnabel, an seiner kleinen Narbe am Kinn.“

Knapp drei Wochen vor Jahresende schafft es Nino Haratischwili mit Mein sanfter Zwilling, Emma Donoghue und Room von meinem persönlichen Platz-1-Siegertreppchen zu verdrängen. Ich lese dieses Buch mit einem Schauder auf der Haut, einem Kloß im Hals und Tränen in den Augen, es ist eine schmerzhafte, aufwühlende, extrem intensive Begegnung, die ich mit dem Zwilling erlebe. Die Geschichte ist kompliziert und rätselhaft, sie dreht sich um Sehnsucht, Schuld, Vergebung und Tod, um zwei Menschen, die sich aneinander klammern, um nicht zu ertrinken, und die paradoxerweise beinahe aneinander zugrunde gehen. Nino Haratischwili ist eine derart talentierte Erzählerin, dass es ihr gelingt, am Schluss alle Verwicklungen zu lösen, alle Enden zusammenzuführen. In einer wirbelnden Sprache entblößt sie ihre Protagonisten bis ins Innerste und fordert den Leser auf, all den Schmerz, all die Wut, all die Trauer zu ertragen. Dieses Buch ist wie ein Schnitt in den Zeigefinger, der tagelang brennt bei allem, was man tut, wie das Zusammentreffen mit einem charismatischen Menschen, an den man lang noch denken muss, an seine nussbraunen Augen, seine Narben, das scheue Lächeln. Und deshalb möchte ich mich einreihen in die Zahl derer, die Nino Haratischwili für ihr schriftstellerisches Können loben: Mein sanfter Zwilling ist für die Hotlist das beste Buch aus unabhängigen Verlagen 2011 – und für mich das Buch des Jahres.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …

… fürs Auge: das Cover wirkt nackt und verletzlich, wie die Protagonistin.
… fürs Hirn: die Erkenntnis, wie tief manche Wunden aus der Kindheit gehen können und wie hilflos die Erwachsenen sind, die die Schuld daran tragen.
… fürs Herz: der über die Maßen große Schmerz von Ivo und Stella, die fast sterben an ihrer Liebe zueinander, die sich verletzen müssen, um sich überhaupt zu spüren.
… fürs Gedächtnis: eines der vielen wunderbaren Zitate: “Tulja sagte immer, dass, wenn wir lieben, wir nie den Mann, die Frau, das Kind, die Mutter oder den Vater, den Bruder allein lieben. Dass wir immer alles und alle zugleich in einer Person lieben wollen. Dass die Kategorisierung der Liebe eine dekadente Sucht unserer Zeit sei, allen Gefühlen eine Struktur zu verleihen. Sie sagte, dass wir alles von dem einen Menschen brauchen, den wir lieben. Dass wir uns immer danach sehnen, all die Personen in einer zu vereinen, und dass die Sehnsucht die Liebe letztlich immer in den Schatten stellt. Weil wir eben nie alles sein können, niemals gleichzeitig.”

Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling. Frankfurter Verlagsanstalt 2011, 379 Seiten, 22,90 €.

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