Evelyn Grill: Der Sammler

der-sammlerEvelyn Grill erzählt in „Der Sammler“ auf ironische Weise, was passiert, wenn eine Hand voll Menschen versucht, einen Eigenbrötler in die gesellschaftliche Norm zu pressen.

Alfred Irgang ist Sammler. Er liebt es, öffentliche Mülleimer nach vermeintlichem Unrat zu durchsuchen und darin verkannte Schätze zu bergen. Wann immer er etwas in seinen Augen Brauchbares findet, nimmt er es mit nach Hause, wo sich bereits ganze Sammlungen weggeworfener Tagebücher, geleerter Joghurtbecher und ausgedienter Gebissprothesen stapeln. Alfreds Bett ist ein alter Sessel, der auf dem letzten freien Platz im Wohnzimmer steht. Um am Ende des Tages dahin zu gelangen, muss er sich einen Weg durch gefährlich wankende Kartonberge bahnen. In seiner Küche haben sich die Kakerlaken häuslich eingerichtet und aus Angst, seine letzten Haare zu verlieren, hat er sich seit Monaten nicht mehr den Kopf gewaschen.

Trotz seiner Unansehnlichkeit und der ausufernden Sammelleidenschaft hat Alfred gute Freunde, die er regelmäßig beim Stammtisch trifft. Während der Eigenbrötler seine Suppe schlürft und den Gesprächen der anderen lauscht, machen diese sich längst große Sorgen um ihn. Im Geheimen schmieden sie einen Plan, wie sie ihren Freund vor sich selbst schützen können und als der Zeitpunkt der Umsetzung endlich kommt, schreiten sie fleißig zur Tat. Doch leider haben sie die Rechnung ohne Alfred gemacht…

Zwar kann man sich ausmalen, wie Alfreds Reaktion am Ende des Buches ausfällt, doch diese Vorhersehbarkeit mindert nicht die Qualität des Geschriebenen. Es ist nicht nur der Inhalt, der das Interesse des Lesers weckt, es sind vor allem die Charakterschöpfungen der Autorin. Sie spielt mit Überzeichnung, verwendet sprechende Namen und stellt mithilfe dieser Stilmittel den perfekt durchschnittlichen Bürger demjenigen, der vom Weg abgekommen ist, gegenüber.

Was ist normal und was ist es nicht? Wie viel Handlungsfreiheit tut einem Menschen gut? Ist gut gemeint wirklich das Gegenteil von gut gemacht? Und darf man in das Leben eines anderen eingreifen, wenn man glaubt, dass er sich selbst schadet oder schadet man ihm damit nur noch mehr?

Grill schildert diesen Konflikt auf distanzierte Art. Bisweilen mutet der Schreibstil etwas altmodisch an, doch zugleich liegt zwischen den Zeilen so viel versteckte Ironie und Kritik, dass ich mich dem Sog des Erzählten nicht entziehen konnte. Der Roman beginnt unaufgeregt, steuert allerdings kontinuierlich auf den Höhepunkt der Handlung zu, sodass mit jeder weiteren Seite eine zunehmende Spannung aufkommt.

Mich hat „Der Sammler“ zum Nachdenken angeregt, weil ich mich gefragt habe, ob ich bezüglich gewisser Einstellungen auch so angepasst bin wie Irgangs Freunde. Sollte nicht jeder so leben dürfen, wie er möchte oder ist es manchmal besser einzugreifen?
Die Antwort auf diese Frage wird in Evelyn Grills Roman auf mehrdeutige Weise gegeben. Klar ist jedoch, dass die Vorstellung von einem erfüllten Leben ganz unterschiedlich sein kann und dass das persönliche Glück bisweilen vollkommen andere Formen annimmt, als es einem die Gesellschaft vorgibt. Doch ganz gleich, für welchen Weg man sich entscheidet, den möglichen Schaden muss am Ende jeder selbst tragen.

Evelyn Grill: Der Sammler. Haymon 2010, 208 Seiten, 9,95 €.

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