Clemens J. Setz: Die Frequenzen

»Ein einziges, großes Liebesgeständnis an das nichtlineare Wesen der Zeit«

setzEin Familienroman, doch ein ausgesprochen unkonventioneller Familienroman ist dieses 700 Seiten starke Werk von Clemens J. Setz. Es ist, nach Söhne und Planeten, das zweite Buch des 1982 in Graz geborenen Schriftstellers, 2009 wurde es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt, auf die es im vergangenen Jahr auch Setz’ neuester Roman, Indigo, schaffte. Für den Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes erhielt der Autor den Preis der Leipziger Buchmesse. Schon häufig wurde im Zusammenhang mit dem studierten Germanisten und Mathematiker die etwas wuchtige Bezeichnung »Genie« verwendet, aber ganz gleich, ob man dieses Wort nun in den Mund nehmen mag oder nicht: Genial ist das, was ich in den Frequenzen vorfinde, allemal.

Eine Familiengeschichte also, eine doppelte genau genommen, denn sie kreist um zwei Vater-Sohn-Konstellationen. Da ist zum einen der Ich-Erzähler Alexander Kerfuchs, der mit Anfang zwanzig sein Studium geschmissen hat, um eine Weile als Altenpfleger zu arbeiten, und der nun gekündigt hat – vielleicht um das Studium fortzusetzen. Alexander ist ein Sonderling, der vor den Heiminsassen schwere Stürze inszeniert und zuhause in dem aus weißem Klebeband gebastelten Umriss einer Tatort-Leiche schläft. Als er noch ein Kind war, verließ der Vater die Familie: ließ Ehefrau und Sohn buchstäblich zurück, indem er einfach davonfuhr, als das Auto »in einer unwirklichen Winterlandschaft« eine Panne hatte und die beiden ausstiegen, um es anzuschieben.

Der andere Protagonist ist Walter Zmal, zu Schulzeiten ein Freund von Alexander, bis sie sich eines Tages aus den Augen verloren. Walter ist ein Gescheiterter, dessen Vater, ein erfolgreicher Architekt, allen Anzeichen zum Trotz von der künstlerischen Begabung des Sohnes überzeugt ist und ihm immer neue Praktika und Stipendien vermittelt. Zum Schauspieler bringt Walter es schließlich doch noch, wenn auch eher zufällig, engagiert von seiner Therapeutin Valerie, die ihn für Gruppensitzungen in die Rolle eines Patienten schlüpfen lässt (die er ja eigentlich auch innehat). Und ausgerechnet mit dieser Valerie beginnt Alexander eine Affäre, zum ersten Mal nach vielen Jahren kreuzen sich die Wege der beiden jungen Männer erneut.

In den Nebenrollen: Lydia, Alexanders vereinnahmende Freundin aus Jugendtagen; Gabi, eine Patientin in Valeries Gesprächsgruppe, die sich in Walter verliebt; die Hündin Uljana, die einst Valerie gehörte und nun herrenlos durch die Stadt streift; Alexanders Vermieter, der den Verstand verloren hat und – laut einem Eintrag im (fiktiven) Konversationslexikon der Jenseitsmythen – »die geheime Schlüsselfigur des Textes« ist. In ebenjenem Lexikonartikel, der auf den Vorsatzblättern des Buches abgedruckt ist, steht auch geschrieben: »Der Roman ist ein einziges, großes Liebesgeständnis an das nichtlineare Wesen der Zeit. Viele Leser haben sich nachweislich mit dem Basteln bunter Ereignis-Mobiles geholfen, um einen besseren Überblick über die handelnden Figuren zu bekommen«.

Dabei ist das Figurenpersonal gar nicht so umfangreich, zu den oben genannten kommen noch zwei, drei weitere Charaktere hinzu. Was die Lektüre zu einem nicht ganz einfachen Unterfangen macht, ist die komplexe, nur schwer durchschaubare Struktur des Romans. Er funktioniert wie eine dieser Rube-Goldberg-Installationen, von denen an einer Stelle die Rede ist: eine jener mechanischen Apparaturen also, die auf möglichst komplizierte Weise eine ganz simple Aufgabe ausführen – »ein großer Aufwand für ein winzig kleines Ergebnis«. Für die Geschichte, die in den Frequenzen erzählt wird, würden im Grunde zweihundert Seiten genügen, doch Setz webt um sie herum einen Teppich aus sympathisch-schrulligen Details, bedient sich verschiedener Perspektiven, Zeitebenen und Textsorten (ein »Solo für Nokia 6151« gibt es etwa, ein zehnseitiges Telefonat, das wie ein Monolog daherkommt) und erzählt unzählige skurrile Mikrogeschichten innerhalb der eigentlichen Geschichte.

Der Riss war in meinem sechsten Lebensjahr aufgetaucht, gegen Ende eines ungewöhnlich heißen Sommers. Im Unterschied zu all den anderen Gegenständen meiner Kindheit war er etwas, das man nicht besitzen konnte; der Riss besaß einen, wenn überhaupt. Aber seine eigentliche Natur war die völliger Ungreifbarkeit, jenseits aller Fragen von Besitz.
Er erschien eines Morgens plötzlich an einer Kellerwand, erstreckte sich bis zum Rand eines alten Regals, in dem längst nicht mehr verwendete Geräte und Werkzeuge lagerten. Und vielleicht hört er da auch auf.
Er tat es nicht.
Mein Vater, verschwitzt, seine Hände schmutzig und müde vom Verrücken des schweren Eisenregals, betrachtete das Ausmaß des Risses. Die ganze Wand entlang. Meine Mutter und ich standen im Hintergrund, hilflose Statisten, die auf das nächste Stichwort des Regisseurs warteten.
– Dreck, sagte mein Vater. Verdammter Dreck.
– Da hinten hört es vielleicht auf, sagte meine Mutter.
– Unsinn. Der geht immer weiter. Dass da die Wand ist, bedeutet nichts.
[…]
– Aber –
– Was aber? Red nicht über Dinge, von denen du nicht die geringste Ahnung hast.
Meine Mutter sagte nichts mehr. Ich war verwirrt. Die Idee eines Risses, der sich weiter erstreckte als alle Wände, war mehr, als ich mir vorstellen konnte. Konnte ein Riss ohne eine Wand überhaupt existieren? […]
Den ganzen Abend dachte ich über die unbegreiflichen Eigenschaften des Risses nach. Ich sah aus dem Fenster. Ging der Riss da unten einfach weiter, durch die Luft, als unsichtbare Verwerfung? War der Raum an dieser Stelle entzweigebrochen? Und was geschah, wenn man ahnungslos hindurch rannte? Man knickte einfach in der Mitte ein oder platzte an der Seite auf. Wie sah ein Mensch überhaupt aus, innen? Ich brütete über die sonderbaren Einsichten, die meinem Vater den ganzen Tag durch den Kopf gehen mussten. Wie fühlten sich solche Einsichten wohl an? Es war ohne Zweifel unangenehm, sie zu besitzen. Er geht einfach weiter.

Dieses mäandernde Erzählen kann bei Setz im Übrigen auch ‚live’ beobachtet werden. Zweimal habe ich ihn nun schon erlebt, diverse Interviews habe ich mir im Internet angeschaut, und doch ist es immer wieder aufs Neue ein Vergnügen, ihm zuzuhören. Seinen Auftritt am 17. Januar in Frankfurt, bei dem ich gemeinsam mit der Bücherliebhaberin zugegen war, als »Lesung« zu bezeichnen würde der Veranstaltung nicht gerecht werden: Gelesen hat Setz in den anderthalb Stunden kaum zwanzig Minuten, den Rest der Zeit füllte er mit allerlei kuriosen, mal traurigen, meistens aber irre komischen Geschichten, die nicht zwingend im Zusammenhang mit dem Roman standen. Ein großartiger Abend, ebenso dicht an Anekdoten, Ab- und Ausschweifungen wie das schrift-stellerische Werk des Österreichers.

Was Clemens Setz – mündlich wie schriftlich – vor allem auszeichnet, ist sein kreativer Umgang mit der Sprache. Von »Buchstaben in Reizwäsche« spricht er und meint damit die Frakturschrift, die in Indigo Verwendung findet. In den Frequenzen gibt es zahllose solcher kühnen, eigenwilligen, höchst poetischen Formulierungen: »Jetzt sah man auch das geheimnisvolle Glühen am Horizont […]. Es war eine Mischung aus Blau und Gelb, ohne auch nur in Ansätzen so etwas wie Grün zu sein. Sosehr es sich auch anstrengte, das Licht blieb wie ein unaufgelöster Dominantseptakkord stehen«. Immer wieder erhalten die Objekte bei Setz ein eigenes Seelenleben, wie etwa auch der im Sterben liegende Weihnachtsbaum. Oder der Rettungswagen, der »seinen einsamen Ruf aus[stößt]. Da er sich nicht von der Stelle rührt, muss es ein Hilferuf sein. Ein Rettungswagen, der selbst um Hilfe ruft«. Oder »ein kleines, graues Zeppelinjunges«, das oben am Himmel kreist, »auf der Suche nach seiner Herde«.

Der Roman wurde wegen seines überambitionierten, ausufernden Wesens vielerorts kritisiert, und zugegeben: Den Faden verliere auch ich mehr als einmal. Aber das ist mir in diesem Fall einerlei, ich schließe mich jenen Kritikern an, denen allein die überbordende Fabulierlust des Autor Freude genug ist. Die originelle Sprache und der daraus hervorgehende Witz halten alles zusammen, es bereitet mir ein unsägliches Vergnügen, mich in den außergewöhnlich geistreichen und schrägen Bildern zu verlieren – ungeachtet der Tatsache, dass ich schon längst orientierungslos durch die Geschichte irre wie die Hündin Uljana durch Graz. Als »Semi-Lebewesen aus Papier und Karton« werden Bücher an einer Stelle bezeichnet: Die Frequenzen sind genau das für mich – ein Lebewesen, ein Werk voller Leben, farbenprächtig und sprachlich opulent. Clemens J. Setz ist für mich die Entdeckung des vergangenen Jahres.

Clemens J. Setz: Die Frequenzen. Residenz Verlag 2009, 714 Seiten, 24,90 €.

Die Rezension ist zuerst auf SchöneSeiten erschienen.

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