Bei dem Roman “Selbstmord” ist es unmöglich, nicht auf die besondere Entstehungsgeschichte einzugehen: der Autor Édouard Levé, 1965 geboren, war französischer Schriftsteller, Künstler und Fotograf, der zahlreiche Foto- und Prosabände veröffentlicht hat. Im Oktober 2007 hat er das Manuskript von “Selbstmord” an seinen Verleger geschickt, der begeistert war, ihn anrief und einen Termin zu einem Treffen ausmachte. Zu diesem Treffen kam es nicht mehr: nur zehn Tage nach dem Telefonat, erhängte sich Édouard Levé im Alter von 42 Jahren in seiner Pariser Wohnung.
Über diese außergewöhnliche Entstehungsgeschichte wird der Leser sowohl durch den Klappentext als auch die Informationen auf dem Buchrücken informiert und es ist eigentlich nicht möglich den Text losgelöst von diesem Kontext zu lesen. Ich fände es interessant zu wissen, wie jemand den Roman “Selbstmord” lesen würde, der nicht über diese Hintergrundinformationen verfügt. Handelt es sich dann möglicherweise um ein anderes Leseerelebnis? Bewertet man den Text vielleicht anders? Beim Lesen von “Selbstmord” fiel mir häufig der Vergleich zu David Foster Wallace ein: auch bei ihm fällt es mir schwer, seine Texte losgelöst von der Information zu lesen, dass er sich das Leben genommen hat.
Édouard Levé erzählt seinen Roman “Selbstmord” aus der Perspektive eines Mannes, der einen Freund durch einen Selbstmord verloren hat.
An einem Samstag im August verlässt du in Tenniskleidung deine Wohnung. Deine Frau begleitet dich. In der Mitte des Gartens lässt du sie wissen, dass du deinen Tennisschläger im Haus vergessen hast. Du kehrst zurück, um ihn zu holen, doch statt dich dem Schrank im Flur zuzuwenden, wo du den Schläger normalerweise aufbewahrst, steigst du hinunter in den Keller. Deine Frau bemerkt davon nichts, sie ist draußen geblieben, es ist ein schöner Tag, sie genießt die Sonne. Einige Augenblicke später hört sie den Schuss. Sie stürmt ins Haus, sie schreit deinen Namen, merkt, dass die Tür zum Keller offen steht, läuft hinab und findet dich. Du hast dir eine Kugel in den Kopf geschossen […]. Du hast auf dem Tisch einen Comicband aufgeschlagen liegen lassen. In ihrer Erschütterung stützt sich deine Frau auf den Tisch, das Buch fällt herunter und klappt zu, bevor sie begreifen kann, dass sich darin deine letzte Mitteilung befand.
Mit diesen Sätzen beginnt der Roman. Der Erzähler spricht seinen Freund direkt an und wendet sich während des Romans durchgehend an dieses namenlose “du”.
Du bist fünfundzwanzig. Du weißt jetzt mehr über den Tod als ich.
Der Einstieg in den Roman wirkt wie eine tragische Inszenierung: der Mann und seine Frau sind auf dem Weg zum Tennis, der Mann kehrt um, die Frau hört einen Schuss. Auf den folgenden Seiten erzählt der Erzähler das Leben des jungen Mannes nach, das wie rückwärts erzählt wirkt: die Erzählung beginnt mit dessen Tod, nicht mit seiner Geburt.
Beide – der Erzähler und der junge Mann, der sich selbst das Leben nimmt – bleiben namenlos. Kennengelernt hat der Erzähler seinen Freund, als dieser siebzehn war. Zum ersten Mal gesehen haben sie sich in dessen Zimmer.
Eigentlich sprichst du noch immer, durch jene, die wie ich dich wieder aufleben lassen und dich befragen. Wir hören deine Antworten und bewundern ihre Klugheit. Und wenn die Tatsachen deine Aussagen widerlegen, beschuldigen wir uns selbst, sie falsch interpretiert zu haben.
Eine Möglichkeit, über die man noch hätte kommunizieren können, ist abgerissen. Der aufgeschlagene Comic, der neben dem jungen Mann lag, ist zugeklappt. Aus Versehen, doch unwiederbringlich. Auch wenn sein Vater immer noch “sucht nach der Seite und auf der Seite nach dem Satz, den du möglicherweise ausgewählt hattest.”
Die Reaktionen der Angehörigen, das Weiterleben der Zurückgelassenen ist etwas, das bei Édouard Levé sehr stark thematisiert und in den Fokus gerückt wird – dies geschieht jedoch immer aus der Perspektive des jungen Mannes, der sich das Leben genommen hat.
Dein Selbstmord war das Wichtigste, was du in deinem Leben gesagt hast, aber du wirst die Früchte davon nicht ernten.
Der junge Mann hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, seine Angehörigen lässt er mit ihren offenen Fragen zurück.
Du hast deinen Nächsten keinen Brief hinterlassen, um deinen Tod zu erklären. Wusstest du überhaupt, warum du sterben wolltest? Wenn ja, warum hast du es nicht aufgeschrieben? […] Die Menschen, die dich überleben, haben sich all das gefragt; sie werden keine Antworten auf ihre Fragen erhalten.
Vor dem Hintergrund, dass auch der Autor dieser Sätze – Édouard Levé – sich das Leben genommen hat, empfinde ich manches von dem, was er schreibst schon fast als makaber. An einer Stelle beschreibt er den Selbstmord als eine Handlung von ”skandalöser Schönheit”. Natürlich ist mir bewusst, dass ich Gefahr laufe, dass sich in meiner Bewertung die Grenzen zwischen Autor und Erzähler verwischen. Für mich ist es jedoch schwer, zwischen dem Autor, dem Erzähler und dem jungen Mann zu trennen. Sie verschmelzen vor meinen inneren Auge immer wieder zu einer Person. Schwer erträglich ist für mich, wie der Erzähler die Perspektive des jungen Mannes in den Mittelpunkt rückt, dessen Tat und deren Bedeutung für die Angehörigen jedoch kaum hinterfragt. Deutlich wird das, wenn der Erzähler sich vorzustellen versucht, wie es der Frau des jungen Mannes heutzutage geht:
Was ist aus ihr geworden? Hat sie sich wieder gefangen nach deinem Tod? Denkt sie an dich, wenn sie mit jemandem schläft? Hat sie wieder geheiratet? Hast du auch sie getötet, als du dich getötet hast? Hat sie einen Sohn nach dir benannt? Falls sie eine Tochter hat, hat sie ihr von dir erzählt? Was macht sie an deinem Geburtstag? Und an deinem Todestag? Pflanzt sie Blumen auf dein Grab? Wo sind die Fotos, die sie von dir gemacht hat? […] Hat sie dir ein Museum errichtet?
Ich empfinde diese und ähnliche Beschreibungen stellenweise als sehr selbstzentriert und egoistisch und sie hinterlassen bei mir einen schalen Geschmack beim Lesen – vor allem auch vor dem Hintergrund, dass auch Édouard Levé sich das Leben genommen hat.
“Selbstmord” ist kein einfaches Buch, SpiegelONLINE vergleicht die Lektüre mit Pilzen, denen man nachsagt, schwer verdaulich zu sein. Auch für mich war der Roman schwer verdaulich, auch wenn ich noch nicht genau sagen kann, ob dies positiv oder negativ ist. “Selbstmord” lässt seine Leser nicht kalt, es regt an, bewegt, wühlt auf, verärgert. Der Roman endet mit einer Sammlung von Terzetten, das letzte von diesen ist für mich das eindrücklichste:
Das Glück überholt mich
Die Traurigkeit verfolgt mich
Der Tod erwartet mich
“Selbstmord” ist ein lohnenswertes und lesenswertes Buch, das Anstoß zum Nachdenken bietet. Doch glaube ich auch, dass es gefährlich sein kann, da es ein verklärtes Bild des Selbstmords zeichnet. Ich hab die Lektüre als schwer zu ertragen empfunden, jedoch nicht als traurig.
Édouard Levé: Selbstmord. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz 2012, 110 Seiten, 17,90 €.
Kommentar verfassen - Mit dem Absenden des Kommentars geben Sie gleichzeitig ihr Einverständnis zur Datenschutzerklärung auf dieser Seite