»Ein Vater, ein Sohn, ein Geheimnis.«
Es gibt Momente im Leben, die du nicht vergisst. Sie rauben dir die Sprache und schubsen dich in eine Wolke des Schweigens, weil du nicht glauben kannst, was dir passiert ist. Deine Worte fliegen wie Vögel davon und du schaust ihnen ratlos hinterher. So ist es mir mit „Wie keiner sonst“ von Jonas T. Bengtsson ergangen. Ein Buch von unglaublicher Intensität.
Der dänische Autor erzählt in seinem Roman die Geschichte eines Vaters und seines Sohnes. Beide führen ein recht seltsames Leben. So wohnen sie anonym in verschiedenen Unterkünften und ziehen ständig um. Besonders suspekt ist die gute Laune, die sich dann beim Vater einstellt. Warum sie wie Flüchtige umherziehen bleibt ein großes Geheimnis. Der Vater schickt seinen Sohn auf keine Schule, unterricht ihn stattdessen selbst und verrät ihm lebenskluge Weisheiten: „Wenn man die Dinge sieht, wie sie sind. Dann trägt man auch Verantwortung. Dann ist man gezwungen, etwas zu tun“.
Der Junge fügt sich dem Nomadenleben, wirkt erstaunlich erwachsen, hat jedoch keine Freunde. Stattdessen entdeckt er für sich das Zeichnen, taucht in eine Welt, mit der er sich die Zeit des Wartens vertreibt und später das Geschehen um ihn herum reflektiert, während der Vater unterschiedlichen Jobs nachgeht. Obwohl der Junge ein unstetes Leben führt, habe ich in keiner Minute das Gefühl, dass er viel vermisst, ist er doch erfüllt von der Vaterliebe, die ihn wie ein warmer Schal vor der Kälte beschützt. Immer wieder erzählt ihm sein Vater abends vorm Einschlafen das Märchen von der “Weißen Königin” und den “Weißen Männern”. “Vor den Weißen Männern muss man immer auf der Hut sein”, sagte er. Sie wollten immer den König und den Prinzen fangen. Damit erzeugt der Autor einen märchenhaften Glanz, der wie ein heller Lichtstrahl der düsteren Kulisse eine beruhigende, verträumte Nuance verleiht.
Der Vater bleibt ein Mysterium. Ein Nebelschleier durch den ich nicht schauen kann. So sehr ich die Augen auch zusammenkneife, ich steige nicht durch das Versteckspiel, bin wie ein Wachhund, der jede Regung des Vaters aufmerksam beobachtet, wie seine Eigenart, sich stundenlang in Zeitungen zu vertiefen und dabei alles um sich herum zu vergessen. Sucht er etwas Bestimmtes? An anderen Stellen beeindruckt er mich, indem es ihm wie von Zauberhand gelingt, Unwirkliches wahr werden zu lassen und seinem Sohn auch ohne Geld Dinge zu ermöglichen. Wie er das anstellt, ist sein Geheimnis. Doch manchmal öffnen sich die Schleusen zur verborgenen Vaterwelt. Wenn er nachts von Albträumen heimgesucht wird und sich sein Sohn rührend um ihn kümmert. Genau dann verschwindet der Nebelschleier, erahne ich den Kern des Ganzen und bleibe trotzdem enttäuscht mit leeren Händen zurück. Eine Auflösung gibt es nämlich nicht, nur eine Ahnung, die schattenhaft durch den Roman schleicht. Irgendetwas ist passiert. Nur was? Statt auf eine Antwort stoße ich auf tiefes Schweigen. Also bewege ich mich weiter mit den beiden durch dieses befremdliche Leben – bis es zum Eklat kommt. Eine unerwartete Wendung, mit der ich insgeheim gerechnet habe und doch kracht sie überraschend laut in den Lesefluss.
Der Roman erfasst mich wie ein Schlag. Obwohl der dänische Autor in einem nüchternen Ton erzählt, rüttelt er an den Festungen meiner Gefühle. Nicht zuletzt auch durch die Geschichte, die unter die Haut geht. Einerseits ist der Ich-Erzähler ein Verlorener am Rande der Gesellschaft, ein isolierter junger Mensch, der nie seinem Herzenswunsch – dem Schulbesuch – nachgehen kann und ganz allein bleibt. Andererseits ist er ein leuchtender Stern im dunklen Universum seines Vaters. Von ihm erhält er die Aufmerksamkeit und Zuneigung, die man sich als Kind wünscht. Nach dem großen Eklat seiner Kindheit, folgt bald der nächste, als er älter ist. Ein Ereignis, das kein Richtig und kein Falsch duldet. War es nur eine notwendige Konsequenz oder ein Akt der bedingungslosen Liebe?
Jonas T. Bengtsson verwandelt mit seiner Erzählkunst einen ruhigen Fluss in einen tobenden Strudel, darin liegt für mich die Kraft dieses Romans. Unglaublich, wie ihm das mit seiner schlichten Sprache gelingt. Er bringt Glas zum Dampfen. Im Mittelpunkt leuchtet die Liebe zwischen Vater und Sohn, die keine Schranken kennt und den Normen der Gesellschaft trotzt. Es zählt einzig und allein das Band, das sie verbindet. Ein Vater, der nur das Beste für seinen Jungen will und für ihn da ist. Eine Beziehung, die den Jungen für sein Leben prägt. Dieses Band ist widerstandsfähig, es brennt sich in das Herz des Jungen und der Leserin – bis zum Schluss.
Jonas T. Bengtsson: Wie keiner sonst. Aus dem Dänischen von Frank Zuber. Kein & Aber 2013, 448 Seiten, 22,90 €.