Ein Hauch von Michael Ende umweht den neuen Roman von Christoph Werner. Mit viel Magie und gleichzeitig doch einem bewundernswert festen Stand in der Wirklichkeit schafft der Theaterregisseur aus Halle ein hochaktuelles Märchen, das einen bis in seine Träume hinein verfolgen kann.
Die Welt, wie wir sie kennen, mag fehlerhaft sein,aber die Welt, die diese Leute wollen, wird vor allem eins sein: effizient. Effizient, effizient, effizient.
Voll kindlicher Verbundenheit erinnern wir uns an die grauen Herren bei Michael Ende. Jeder wollte und sollte fortan Zeit sparen, Mußestunden aus seinem Leben streichen, die Pflege sozialer Kontakte zugunsten horrender Zeitersparnisse anderen überlassen. Denen vielleicht, die keinen Erfolg haben, die ihre Zeit auf Erden sinnlos vertun wollen. In Christoph Werners Roman findet sich nun gewissermaßen ein neuzeitliches Pendant zu Endes Zeitsparkasse. Das weltweit operierende Unternehmen All Day Industries (kurz: ADI). Wir befinden uns in einer Welt, in der Schlaf nicht mehr eine Sache des Müssens, sondern eine des Wollens ist. ADI hat ein Verfahren entwickelt, das jedem Menschen ermöglicht, tagelang wach zu bleiben – sofern er das nötige Kleingeld besitzt und das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.
Marie Marne ist erst dreizehn. Sie hatte noch nie einen ADI-Traum, für ihren Vater hingegen, einen vielbeschäftigten Komponisten, gehören ADI-Sitzungen zum Alltag. Mit einer derart gesteigerten Leistungsfähigkeit ist ihm der Erfolg gewiss, er kann tagelang komponieren und auf Partys glänzen, ohne eine Sekunde zu schlafen. Wie lange dieser künstliche Wachzustand anhält, ist abhängig vom individuellen ADI-Wert eines Menschen. Als Marie Marne ihn eines Tages ins ADI-Zentrum begleitet und man zufällig ihren Wert misst, gerät die bisherige Ordnung ins Wanken. Niemals bisher wurde ein höherer Wert gemessen – und Marie Marne wird für das Unternehmen plötzlich zu einer wichtigen Spielfigur im Kampf gegen Schlaf und Nachlässigkeit.
Jetzt müssen wir unsere Müdigkeit überwinden. Sie ist nicht mehr zeitgemäß. Die Dunkelheit stellt kein unüberwindbares Hindernis mehr für uns dar. Und es gibt so viele Aufgaben, die von uns erledigt werden wollen, Probleme, die wir angehen sollten. Wer eine bessere Welt will, kann sich nicht ins Bett legen und schlafen. Er sollte in die Hände spucken und anpacken.
Ein zwielichtiger Mann mischt sich im Auftrag von All Day Industries in Marie Marnes Leben ein und infiziert ihren Vater mit einer seltsamen Krankheit, die kein Arzt zu behandeln imstande ist. Apathisch sitzt er im Krankenhaus, kichert, singt vor sich hin, ist von niemandem ansprechbar. Nur Marie kann ihn retten, sagt man ihr und schickt sie damit auf eine Mission, die nicht nur ihren Vater retten, sondern viele andere ins Elend stürzen wird. Durch Schlaflosigkeit.
Christoph Werner gelingt es, ein Szenario zu entwerfen, das, unter bestimmten Gesichtspunkten, erschreckend möglich erscheint. Wie viele, die sich ganz und gar ihrer Arbeit verschrieben haben, würden dankend jede Möglichkeit annehmen, noch mehr zu arbeiten, Karriere zu machen? Ohne die Arbeit durch lästiges Ruhen unterbrechen zu müssen. Lange Reisen, die Pflege eines kranken Kindes, die Zeit vor einer wichtigen Prüfung – jedem ist die eigene Erschöpfung einmal denkbar unpassend erschienen. Wie weit würden wir gehen für unsere Leistungsfähigkeit? Und wer könnte auf welche Weise davon profitieren?
Für Kinder und Jugendliche aufbereitet ist ,Marie Marne und das Tor zur Nacht’ ein höchst gelungenes literarisches Mischwesen aus Momo und der unendlichen Geschichte, geeignet nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene, die in dieser spannend erzählten Geschichte Bezüge zur Realität erblicken, die ihren Kindern glücklicherweise noch nicht bewusst sind. Aufputschmittel haben sich längst ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft erobert und die Frage, die auch Christoph Werners brilliantes Märchen hinterlässt, sollte uns hin und wieder innehalten lassen: Wie viel ist Leistung uns wert?
Christoph Werner: Marie Marne und das Tor zur Nacht. Osburg Verlag 2014, 220 Seiten, 17,99 €.
Hallo Sophie,
bin gerade selber dabei dieses Buch zu lesen. Man merkt ihm zwar den Einschlag zur Jugendliteratur an, aber das stört nicht im geringsten, da die Geschichte spannend (bisher) spannend geschrieben ist. Zusätzlich wird mit den ADI-Träumen und den damit verbundenen Konsequenzen eine Art Droge in die uns bekannte Realität gepflanzt, die in einer um Optimierung ringenden Gesellschaft gerade richtig scheint. Ich bin zwar erst im ersten Drittel des Romans, aber er fühlt sich gut an.
Erstaunlich finde ich auch, dass das Buch mit Christoph Werner von einem Mann verfasst wurde, da er die Gedanken und die Gefühle von Marie sehr gut zum Ausdruck bringen kann.
Ich bin gespannt wie es weitergeht, weshalb ich von deiner Rezension bisher erstmal nur Einleitung und Fazit durchgelesen habe, um mir die Spannung zu erhalten.
Liebe Grüße.
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Eine sehr schöne Besprechung eines Buches mit einem ganz aktuellen Thema. Lustig: grade komme ich wieder mal aus dieser Welt der Schlaflosigkeit und Optimierung, bin furchtbar auf die Schnauze gefallen und habe dafür ein paar Zeilen gefunden:
ich komm jetzt wieder in meine Zeit
ziemlich abgerissen inzwischen
voll Hoffnung und Angst
und auch wieder schmerzbereit
war schon zu lang in der fremden Zeit
in der andern Welt die sich nur hält
wenn sie aufs Tempo drückt
und keine Zeit mehr hat für die Zeit
meine Zeit soll jetzt wieder ein Zimmer sein
im Haus auf der Welt mit dem Meer davor
wo das Salz als Kristall noch zu sehen ist
und die Wände nicht Engnis doch Schutz
Liebe Grüße, Kai
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Ich habe mir sofort die Leseprobe besorgt.
Danke für die Rezi!
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