Leonardo Padura: Ketzer

00_Padura_Ketzer.inddOstern 2014 habe ich mit Rembrandt auf Kuba verbracht! So unglaublich das klingt, so unglaublich ist auch der neue Roman „Ketzer“ des kubanischen Erfolgsautors Leonardo Padura. Und mit diesem hat er sich wirklich selbst übertroffen. Er ist eine gelungene Mischung aus spannendem Kriminalroman und interessanter Kunst- und Religionsgeschichte. Ein Schmelztiegel der ganz großen Themen: Glauben, Religion, Liebe, Hoffnung und Freiheit. Bindeglied für die unterschiedlichen Erzählstränge ist ein Bild des niederländischen Meisters Rembrandt van Rijn. Der Roman ist in drei Bücher und einem vierten Teil, der mit Genesis betitelt ist, gegliedert. Ich werde diese Aufteilung übernehmen, da ich sonst der Komplexität wegen den roten Faden verlieren würde. 629 Seiten, für die Padura eine umfangreiche Recherche durchführte und an deren Anfang jene schmerzliche Frage stand:

„Wie viel Ketzerei ist nötig, wenn eine Gesellschaft, in einem historischen Moment und auf einem einzelnen Lebensweg ein Individuum seinen Anspruch auf freie Willensäußerung in die Tat umsetzen will, wenn er das natürliche Bedürfnis nach der eignen Freiheit ausleben will.“

ERSTES BUCH: DANIEL

Kommissar Mario Conde aus Havanna ist in die Jahre gekommen und versucht sich mit Nebenjobs das Alter zu finanzieren. Über Umwege erhält er einen Auftrag von einem jüdischen Amerikaner, dessen Wurzeln kubanische sind. Der Vater des Auftraggebers Daniel Kaminsky flüchtete einst als kleiner Junge vor den Nazis aus Deutschland, um in Havanna ein neues Leben zu beginnen. Sein Onkel Joseph, der bereits in der kubanischen Hauptstadt lebte, nahm ihn bei sich auf. Mit der tragisch berühmt gewordenen MS St. Louis sollte Daniels Familie nachkommen. Das Schicksal dieser Überfahrt hat Geschichte geschrieben: Über 900 deutsche Juden wollten 1939 der Judenverfolgung entfliehen, nur wurde den Passagieren das Betreten kubanischen Territoriums nicht erlaubt. Das Schiff samt Ladung musste nach einer Woche die Rückkehr nach Europa und den damit verbundenen Tod antreten. Einzige Chance für wenige war damals der Freikauf. Und auch Familie Kaminsky versuchte es auf gleiche Weise, in dem sie einen echten Rembrandt, der sich seit Generationen im Besitz der Familie befand, an Bord tauschte: Meisterbild gegen Leben. Das Tragische: Trotz des Handels schafften es die Eltern und die kleine Schwester von Daniel nicht an Land. Ein traumatisches Erlebnis für den Jungen.

„Als sie diese Nachricht erhielten, die einer Verurteilung zum angekündigten Tod gleichkam, traf Daniel Kaminsky in seinem Schmerz die gewichtige Entscheidung, sich aus freiem Willen und aus tiefsten Herzen von seinem Judentum loszusagen. […] Vor allem wollte er nicht mehr der jüdischen Kultur angehören, denn er hatte den Glauben an den Gott verloren, der sie prägte. Und an alle Götter. Über den Menschen waren nichts als Wolken, Luft und Sterne, zu diesem Schluss war der Junge gekommen. Denn in keinem kosmischen, göttlichen Plan konnte so viel Leid und Schmerz festgeschrieben sein als Preis für den notwendigen Übergang eines tränenreichen Lebens auf Erden ins Paradies, eines Lebens überdies voller Verbote und Mühsal. […] Nein, einen solchen Gott gab es nicht … oder er war tot. Und, fragte sich der Junge häufig, ohne Unterdrückung dieses tyrannischen Gottes, was bedeutet es da, Jude zu sein?“

Kommissar Conde soll nun herausfinden, wo sich das Bild, das plötzlich bei einer Auktion in London auftaucht, all die Jahre in Kuba befunden hat. Ein schwieriger aber fesselnder Fall, der ihn in die wechselhafte Geschichte Kubas führt und das Leben der einstigen jüdischen Kolonie auf der Insel widerspiegelt.

ZWEITES BUCH: ELIAS

Ein Zeitsprung versetzt den Leser in das 17. Jahrhundert und man kehrt ein bei Rembrandt van Rijn, dem niederländischen Meister der Malerei. Dieser Teil des Buches beleuchtet die Entstehungsgeschichte des Gemäldes aus dem Buch Daniel. Ich gestehe, dass ich zunächst nicht sonderlich erfreut war, ob der 200 Seiten, die sich mit diesem Zeitabschnitt beschäftigen. Am Ende des Buches konnte ich mich aber plötzlich für den Künstler begeistern, habe angefangen zu recherchieren und fand ihn und sein Werk regelrecht faszinierend. Padura schafft es mich für das alte Amsterdam einzunehmen, das die jüdische Bevölkerung aufgrund des toleranten Miteinander aller als „guten Ort“ bezeichnete. Er stellt die damaligen Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinde in Amsterdam sehr präzise dar. Elias, ein junger Sepharde, fühlt sich von der Malerei magisch angezogen und will vor allem selbst zu den Farben greifen. Ein Affront, ist doch das Malen oder Zeichnen für Juden eine Sünde – Ketzerei. Er geht dennoch seinen Weg, wird Meisterschüler bei Rembrandt und sitzt ihm am Ende Modell für das berühmte Bild: Ein Christus nach dem Leben. Und so wendet sich, wie schon Daniel, auch Elias vom Judentum ab. Der Eine als Konsequenz aus der geschichtlichen Entwicklung, der Andere aufgrund seiner Leidenschaft.

Das Buch Elias verstehe ich als ein Bekenntnis zur Toleranz und zur Akzeptanz der unterschiedlichen Perspektiven auf Gott und das Leben. Es ist gleichfalls eine kleine Geschichte zur jüdischen Religion. Ich merke immer wieder, wie sehr mir das Hintergrundwissen fehlt. Padura macht es mir aber leicht in die Lektüre und den damit verbundenen komplexen Sachverhalt einzusteigen. Er nimmt mich bei der Hand und führt mich durch die einzelnen Episoden der Religionsgeschichte, klärte mich auf und beleuchtet Zusammenhänge.

DRITTES BUCH: JUDITH

Der Fall um das Gemälde liegt schon einige Zeit hinter Kommissar Conde als sich plötzlich eine entfernte Verwandte von Daniel Kaminsky an ihn wendet. Yadine, ein 17jähriges Mädchen, bittet ihn ihre Freundin Judy zu finden. Beide sind Emos. Emos?

„Die Emos waren die Enkel einer ungeheuren großen historischen Ermüdung und die Kinder zweier Jahrzehnte kollektiver Armut. Menschen, die der Möglichkeit zu glauben beraubt waren, nur darauf aus, sich in einem Winkel zu verkriechen, den sie als den ihren annehmen konnten und der für all die unerreichbar war, die nicht zu ihrem Kreis gehörten. […] Der Grund für dieses Verhalten ist immer eine große Unzufriedenheit, häufig mit der Familie. Und das überträgt sich dann auf die ebenfalls repressive Gesellschaft, mit der sie brechen oder von der sie sich zumindest zu distanzieren versuchen, um sich alternativen familiären und sozialen Umfeldern zuzuwenden. […] Freiheit um jeden Preis, bei null Druck von Seiten der Familie, der Gesellschaft oder der Religion, von der Politik gar nicht zu reden. Doch geht es nicht nur um die Befreiung von einem überholten Beziehungssystem und seinen Normen, sondern auch um die Befreiung des Geistes vom Körper, den er bewohnt.“

Hat sich Conde mit seinem vorherigen Fall vor allem mit der Geschichte Havannas beschäftigt, verschlägt es ihn nun in die Neuzeit und er muss erschrecken, wie alt er geworden ist. Denn auf der Suche nach Judy entdeckt Conde die neue kubanische Generation, die sich zur Vergangenheit, zur Generation der Eltern und des Systems abgrenzen will. Das Denken und Fühlen der jungen Menschen übersteigt jedoch seinen Horizont und er findet nur sehr langsam und über viele Gespräche Zugang zu dieser Welt.

„Die Katastrophen, deren Zeugen und Opfer diese Jugendliche gewesen waren, hatten Individuen hervorgebracht, die entschlossen waren, sich jeder Verpflichtung zu entziehen und ihre eigenen Gemeinschaften zu gründen. Räume zu suchen, in denen sie sich selbst fanden, weit, sehr weit weg von Siegesrhetorik, Opfern, geplanten Neuanfängen (immer auf Siege gerichtet, immer Opfer fordernd), die verkündet wurden, ohne sie, die Generation der Zukunft, mit einzubeziehen. Das Schreckliche daran, dass links und rechts dieser engen Pfade Abgründe gähnten, die in vielen Fällen tödlich waren. Auch begleitete ein widernatürliches Element die Suche einiger dieser Jugendlichen: die Selbstzerstörung durch Drogen, Selbstverstümmelung, angebliche Depressionen und Ablehnung, die Verletzung traditioneller ethischer Grenzen durch einen promiskuitiven, hohlen und gefährlichen Sex, häufig frei von Emotionen und Gefühlen.“

Immer tiefer taucht Conde in die Szene ab und muss am Ende seiner privaten Ermittlungen jedoch eine schwere Niederlage einstecken. Trotz allem schließt sich der Kreis im Buch Judith. Er beweist den richtigen Riecher und erfährt endlich wo das berühmte Gemälde all die Zeit versteckt war und wie es nach London gekommen ist. Aus der Auseinandersetzung mit der neuen Generation formiert sich im Text immer mehr Kritik am System und an der mangelnden Fähigkeit sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Man mag darüber diskutieren, ob die Geschichte nicht zu sehr konstruiert ist aber Padura wird seiner eingangs angeführten Fragestellung gerecht. Jeder der drei Hauptprotagonisten: Daniel, Elias oder Judith entscheidet sich für die individuelle Freiheit, für die sie – jeder auf ihre Art – kämpfen. In der Genesis, im letzten Teil des Buches, erfahre ich wie das Gemälde von Elias in die Hände der Familie Kaminsky gerät.

Padura, der sich in seinem Roman so vieler Themen, die am Ende doch eine Einheit bilden, annimmt, schenkt dem Leser aber auch ein detailliertes Porträt seiner widersprüchlichen Heimat Kuba. Sehr genaue Beobachtungen der Menschen und der politischen Entwicklungen geben einen Einblick in ein Land, das „weder das romantische Paradies, das naive Linke sehen wollen, noch die kommunistische Hölle, vor der die Rechte immer warnt“ ist.

Leonardo Padura: Ketzer. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein. Unionsverlag 2014, 648 Seiten, 24,95 €.

Die Rezension ist zuerst auf glasperlenspiel13 erschienen.

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