»Wenn die Liebe dunkle Schatten wirft.«
Ich finde ja: Auch im Herbst kann man Sommerbücher lesen. So eins wie »Die Schatten von Race Point« von Patry Francis bringen Licht in dunkle Herbstabende. Ist es ein Buch über die Liebe? Jein. Denn hier geht es um die tragische Version der Liebe, nämlich die unerfüllte. Aber nicht nur das: Dieser opulente Roman begeistert mit einer Fülle an Themen und ist so spannend wie mitreißend erzählt, dass sich die 588 Seiten wie ein Sechser im Lotto anfühlen.
Aber der Reihe nach. Zuerst begegne ich der jungen Hallie, die mit ihrem Vater in einer portugiesischen Fischergemeinschaft am äußersten Zipfel von Cape Cod lebt. Das Meer singt mir sein vertrautes, raues Lied.
Hallie wohnt mit ihrem Vater in einem riesigen Haus, das eigentlich viel zu groß für die beiden ist. Aber Im Thorne House wollte ihre verstorbene Mutter den Traum einer großen Familie verwirklichen. Leider hat das Schicksal Tochter wie Vater einen wichtigen Menschen genommen. Im ersten Stock halten seitdem drei unbenutzte Zimmer ihren Geisterschlaf, trotzdem ist die Mutter immer noch überall präsent. Einzig auf dem Dach spürt Hallie eine erfüllende Freiheit. Und ist dort ihren geliebten Sternen ganz nah: »Sie streckte die Arme in die Nachtluft und stellte sich vor, dass sie ein langes Rüschenkleid und Knöpfstiefel trug, anstelle ihres zusammengewürfelten Schlafanzugs und der nackten Füße, und dass sie auf die Rückkehr eines gut aussehenden Kapitäns wartete. Von da an überkam sie jedes Mal, wenn sie die schwere Luke aufdrückte, ein berauschendes Gefühl von Erlösung und – ja, Verheißung.« Was Hallie in dieser Nacht aus dem Schlaf geweckt hat, weiß sie noch nicht. War es die Kälte? Oder ein Geräusch? Nein, viel schlimmer – aber das erfährt sie erst am nächsten Morgen. Nur wenige Meter entfernt hat sich eine Familientragödie ereignet, deren Zeuge ein kleiner Junge wird. Ein Mensch, »mit dem ihr Geist sich auf eine Weise verbunden hatte, die sie niemals, ihr Leben lang nicht würde erklären können.«
Der Junge heißt Gus. Und sein gewalttätiger Vater hat in der Nacht seine Frau zu Tode geprügelt. Gus kauert ängstlich im Schrank. Ein grauenvolles Erlebnis, das ihn fortan wie ein Schatten begleiten wird. Hallies Vater wurde in der Nacht zum Ort des Grauens gerufen. Hallies Vater Nick ist Arzt und gleichzeitig die gute Seele der Kleinstadt, der auch nachts unterwegs ist, um betrunkene Männer nach Hause zu bringen. Oder wie in diesem Falle zum Ort des Verbrechens eilt, um sich dem Jungen anzunehmen. Nach dem Mord an seiner Mutter igelt sich Gus ein, spricht nicht mehr und bleibt der Schule fern. Dies führt zu den wildesten Gerüchten, von wegen, er sei von einem Voodoo-Zauber befallen. Ein Blick in seine Augen würde genügen, und schon würde man verrückt. Hallie will von diesen Spekulationen nichts wissen und macht sich eines Tages selbst auf den Weg zu der Tante, bei der Gus seitdem lebt. Als Geschenk hat sie zwei Elritzen dabei und ein dickes Buch: »David Copperfield«. Selbstbewusst stellt sie sich der kritischen Tante in den Weg. Als sie Gus sieht, erkennt sie sofort die große Traurigkeit, die ihn umgibt wie ein dicker, schwerer Mantel. Also nichts mit Voodoo, einfach nur tiefste Trauer. Hallie schlägt das dicke Buch auf und liest daraus vor. Es bleibt nicht bei diesem einen Mal, weitere Lesestunden folgen, die aus zwei Fremden innige Vertraute machen, und Gus langsam wieder zurück ins Leben führen. Gus’ bester Freund Neil beobachtet Hallie derweil im Schatten der Bäume, und eines Tages entdeckt ihn Hallie.
Bald schon sind Hallie, Gus und Neil unzertrennlich, ein wunderbares Dreiergespann entsteht. Bis zu jenem Tag, an dem Hallie und Gus sich ineinander verlieben und es nach einer Party zu einem Zwischenfall zwischen Gus, Neil und Hallie kommt. Neil ist nämlich ebenfalls in Hallie verliebt und versucht ihr, in dieser Nacht näherzukommen. Das bekommt Gus mit, schreitet dazwischen und… mehr möchte ich nicht verraten. Nur dies: Das, was eben noch angenehm, bezaubernd auf meiner Haut kribbelte, wird danach vom steifen Wind weggepustet und schubst mich in einen tiefen Graben. Nun stehe ich mit Hallie im Regen und suche verzweifelt die Sonne. Denn Gus entscheidet sich gegen die Liebe zu Hallie und tritt dem Priesterseminar bei. Ein Seufzer weht durch mich hindurch. Verdammt! Es war doch so wunderschön mit Gus und Hallie! Aber eine glückliche Lovestory wäre zu durchschaubar und zu einfach. Dies ist schließlich kein Märchen, sondern ein Roman, der vom wirklichen Leben erzählt. Und das ist bekanntermaßen unberechenbar wie der Wind und das Meer.
Neben der Liebesgeschichte, die berauscht und zu Tränen rührt, hat Patry Francis einen äußerst spannenden Familien- und Freundschaftsroman geschrieben, in dem ich vollkommen versinke und ihn wie eine Auster wegschlürfe. Die Figuren sind liebevoll gezeichnet und wachsen mir ans Herz. Gleichzeitig liest sich »Die Schatten von Race Point« wie ein wunderbarer Entwicklungsroman. Obendrein erzählt die Autorin von Freundschaft, und was sie an ihre Grenzen führt.
Eine weitere tragische Wendung bekommt die Geschichte, als Gus von einer fremden Frau aufgesucht wird. Sie behauptet, von ihrem Mann misshandelt zu werden. Als Priester versucht er natürlich, die Frau und ihre Tochter zu beschützen. Tragischerweise gerät Gus dabei zwischen die Fronten und wird des Mordes an der inzwischen verschwundenen Frau angeklagt. Obwohl ihre Leiche nie gefunden wird, muss er ins Gefängnis. Zu Recht? Hat er das gewalttätige Gen seines Vaters geerbt? Während ich noch mit Zweifeln kämpfe, ergibt sich Gus seinem Schicksal, bricht sämtliche Kontakte zur Außenwelt ab und wird mit dem harten Leben zwischen den Gefängnismauern konfrontiert. Hallie – inzwischen verheiratet – nimmt bald seine Spur auf und kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück. Sie ist hin- und hergerissen: Was soll sie glauben und was nicht? Sie spürt das Flattern in ihrem Herzen, wenn sie an ihren Freund denkt. Darf sie ihrem Herz trauen?
Es ist schlichtweg unmöglich, sich dieser Geschichte zu entziehen. Patry Francis hält durch unerwartete Wendungen eine vibrierende Spannung aufrecht und gibt ihrem Roman besonders im letzten Drittel den Charakter eines Krimis. Die Suche nach der Wahrheit (ist Gus wirklich ein Mörder?) und der Wunsch, Gus und Hallie wiedervereint zu sehen, treiben mich fast in den Wahnsinn. In alldem spüre ich förmlich die Meeresbrisen in den eigenen Haaren tanzen, schmecke das Salz der Tränen und sehe am Horizont das Lächeln der Hoffnung. »Die Schatten von Race Point« geht unter die Haut, verzaubert und bewegt bis in die hintersten Kammern des Herzens. Ein großartiges und packendes Leseabenteuer, das genug Seiten hat für einen langen Herbstabend.
Patry Francis: Die Schatten von Race Point. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. mare Juli 2015, 588 Seiten, 20,- €.
Eine weitere Rezension findet ihr bei Literaturen.
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