Für viele ist die Fluchtthematik erst seit wenigen Monaten präsent in ihrem Leben. Für Karim El-Gawhary, seit 1991 Nahost-Korrespondent, und Journalistin Mathilde Schwabeneder bestimmt sie seit Jahren den Alltag ihrer Berichterstattung. Sie beschäftigen sich aufgrund ihrer Arbeit mit den Fluchtursachen und den dramatischen Konsequenzen.
Im Verlag Kremayr und Scheriau veröffentlichten die beiden Journalisten Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers, die eindringlich das Elend der Flüchtlinge beschreiben und das schier Unfassbare versuchen in Worte zu fassen. Bereits auf Seite zwei frage ich mich ernsthaft, ob ich es überhaupt schaffe das Buch komplett zu lesen; zu bewegend sind die Geschichten, die Karim El-Gawhary erzählt. Bei einer Veranstaltung auf der Leipziger Buchmesse machte er ebenso wie im Buch deutlich,
dass man kurz innehalten sollte, um sich Gedanken über die Gnade des eigenen Geburtsortes zu machen und sich zu vergegenwärtigen, dass es reiner Zufall ist, dass der Leser oder die Leserin wahrscheinlich im friedlich, relativ wohlhabenden Europa geboren wurde. Man hätte genauso gut in Aleppo, Damaskus, Homs oder Mossul das Licht der Welt erblicken können.
Seit dem Beginn des Syrienkonfliktes vor mehr als vier Jahren sammelt der österreichische Reporter die Geschichten unzähliger Flüchtlinge. Für ihn ist dieses Buch auch eine Art Therapie geworden, eine Möglichkeit das Gehörte zu verarbeiten. Bei vielen seiner Interviews überfiel ihn aufgrund der geschilderten Erlebnisse eine betäubende Ohnmacht: Was sagt man Menschen, die alles verloren haben, einem 13jährigen Jungen, dessen Mutter neben ihm auf einem Schiff erschossen wurde, einer Mutter, die drei ihrer vier Töchter im Mittelmeer verloren hat, die sie loslassen musste, sonst wäre sie selbst ertrunken.
Seinen Reportagen stellt er ein Facebook-Kommentar eines Users voran, das zugleich Ausdruck seiner Motivation ist:
Irgendwann werden mich meine Enkel fragen, was ich damals getan habe, als ich davon wusste, wie viele Menschen täglich bei der Überquerung des Meeres sterben, oder was ich unternommen habe gegen das Unrecht, das Flüchtlingen widerfährt.
Die Schicksale Vertriebener aus Angola bis Mosambik, von Ruanda bis Mazedonien begleiten auch Mathilde Schwabeneder seit ihrem ersten Einsatz 1997 in den Nuba-Bergen im Zentralsudan. Die Leiterin des ORF-Büros in Wien schrieb bereits verschiedene Radio- und Fernseh-Reportagen aus Afrika, Südosteuropa und Lateinamerika.
Neben den Flüchtlingsgeschichten thematisieren die beiden auch die Schicksale der Retter. Teilweise erleben diese bei ihrem Einsatz furchtbare Szenen, von denen sich einige nicht mehr erholen. So erging es dem Fischer Domenico, der bei der Tragödie vor Lampedusa half und nach der Rettungsaktion nicht mehr aufs Meer fahren konnte. Er versank in tiefe Depressionen, immer im Kopf den Gedanken er hätte mehr Menschen retten können. Er musste monatelang in Therapie, verließ Lampedusa und scheut den Kontakt mit der Öffentlichkeit.
Immer wieder werden im Buch politische Zusammenhänge erklärt, so dass selbst der unwissende Leser Zugang zu der hoch komplexen Materie findet. Durch einfache Zahlen und aktuelle Statistiken, wie zum Beispiel die durchschnittliche Lebenserwartung, die in Syrien um ganze zwei Jahrzehnte (!) gesunken ist, erklärt Karim El-Gawhary die momentane Situation im Land und stellt dem Leser immer wieder die Frage: Würden Sie mit Ihrer Familie bleiben oder würden auch Sie Ihre Koffer packen? Damit tritt er aus der beobachtenden Rolle des Journalisten heraus und nimmt Partei.
Neben Syrien werden auch Lybien und der Irak näher beleuchtet. Schmerzlich zu wissen, dass einige der Geschichten schon Jahre alt sind und es sich seitdem nichts an der Situation in den einzelnen Ländern verbessert hat. Karim El-Gawhary findet trotz seiner Zweifel einen versöhnlichen Schluss, in dem er ein bayrisches Dorf und dessen Umgang mit Flüchtlingen beschreibt. Wie ein Wandel und ein Umdenken bei den Dorfbewohnern einsetzt als sie sich direkt mit den ankommenden Flüchtlingen auseinandersetzen müssen.
Beiden Schreibenden gelingt es den Menschen in den Vordergrund zu stellen. Dies ist allein schon deshalb so wichtig, da immer wieder von einer Menschenflut und einer nicht enden wollenden Flüchtlingswelle berichtet wurde und immer noch berichtet wird und so einzelne Lebensgeschichten und individuelle Schicksale in den Hintergrund geraten. Ein wichtiges Buch, das all jenen auf den Nachttisch gelegt werden wollte, die immer noch nicht verstanden haben wie viel Leid, Elend und Hoffnungslosigkeit mit dieser Tragödie einhergeht.
»Sagt der Welt, sie soll uns nicht hier vergessen«, sagten sie zum Abschied.
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