„Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen? Wie viele Chancen hat man? Und wie oft kann man das eigentlich aushalten? Wie oft kann ich mich häuten, bis nichts mehr von mir übrig ist?“ Harte Worte. Es sind die Gedanken von Laurits Simonsen, dessen Leben Anne von Canal in ihrem Roman „Der Grund“ erzählt. „Heimat interessiert mich nicht. Sie ist eine Erfindung jener Leute, die nicht den Mut haben, auf ihre Fähigkeit zur Anpassung zu vertrauen.“
Was muss alles passiert sein, damit ein Mensch so denkt? Wie kommt es zu einer solchen Entwurzelung? Das Buch beginnt mit einem Schiffbruch, die erste Seite zitiert den Funkverkehr zwischen zwei Schiffen, eines davon in Seenot geraten. Es ist ein kurzer Dialog, der immer panischer wird und dann abbricht. Es folgt der dramatische Bericht eines Schiffuntergangs, bei dem 852 Menschen in den eisigen Fluten der Ostsee ertranken. Am 28. September 1994. Das Schiff war die Estonia.
Der Leser wird durch den Einstieg unmittelbar mit dieser Katastrophe konfrontiert, ohne dass klar ist, was das Unglück mit der Romanhandlung zu tun haben wird. Aber es schwingt fortan bei der Lektüre wie ein dunkles Omen mit. Schließlich beginnt man die Zusammenhänge langsam zu erahnen, und als aus der leichten Ahnung nach und nach eine dunklere und dann eine Gewissheit wurde, hatte ich mir beim Lesen unwillkürlich vor Entsetzen die Hand vor den Mund gehalten.
Laurits Simonsen ist ein Kind des Stockholmer Großbürgertums, er wächst auf in einer Welt voller Konventionen, Reichtum und konservativem Gedankengut. Der patriarchalische Vater bestimmt über die Familie, die verschüchterte Mutter kann ihm immerhin abringen, dass Laurits Klavierstunden erhalten darf. Musische Beschäftigung hält der Vater, seines Zeichens einer der renommiertesten Ärzte Schwedens, für völlige Zeitverschwendung. Auch als sich herausstellt, dass sein Sohn über ein großartiges Talent verfügt, kann das seine Meinung nicht ändern. Laurits liebt die Musik, doch nachdem er wider Erwarten die Aufnahmeprüfung für das Stockholmer Musikkonservatorium nicht besteht, fügt er sich dem Wunsch seines Vaters und beginnt ein Medizinstudium.
Zehn Jahre später ist Laurits selbst Arzt, glücklich mit seiner Frau Silja verheiratet und liebt seine Tochter Liis. Bei einem Familienfest kommt es zum Eklat, als ihm plötzlich klar wird, wie sehr er Zeit seines Lebens unter der Fuchtel seines Vaters stand und immer noch steht, mal offensichtlich, aber viel öfter völlig subtil. Wie sein Vater die Fäden zieht, an denen er zu tanzen hat, und „als er begriffen hatte, dass seine Existenz auf Sand gebaut war, dass allem, was ihm solide und gut erschien, ein haltbares Fundament fehlte und dass er vermutlich nicht der war, der er sein sollte, war Laurits in den dunkelsten Niederungen seines Charakters gestrandet wie ein abgestürzter Heißluftballon in einer Baumkrone.“
Als er beschließt, sein Leben und das seiner Familie grundlegend zu ändern, um der Bevormundung zu entkommen, trifft er zum ersten Mal in seinem Leben eine völlig eigene Entscheidung. Eine, die sich gut und richtig anfühlt. Eine, die dramatische Folgen haben wird. Eine, die eine Kettenreaktion auslöst, bis er letztendlich vor den Trümmern seiner Existenz steht. Aber das kann er nicht wissen, wie auch, denn seinem Schicksal kann man nicht entfliehen. Wenn es so etwas wie Schicksal wirklich gibt. Der Moment, als er zum letzten Mal vor dem Haus seiner Eltern steht, ist eine starke Stelle im Text: „Er dachte an die Standuhr in der Halle, das sommerliche Knarzen des Parketts und den Geruch der Ledersessel in der Bibliothek. Drei Sekunden reichten, um endgültig Abschied von allem zu nehmen, was ihm wichtig war. Er richtete sich auf, umfasste das Lenkrad mit beiden Händen und ließ die Kupplung kommen. Der Wagen fuhr über die Kreuzung, und im Rückspiegel sah er, wie das Grün immer dichter wurde, wie die Straße verschwand, bald war nichts mehr da, und hinter ihm gab es keinen Hinweis mehr auf Erinnernswertes.“
Als der Leser Laurits zu Beginn des Romans begegnet, sind viele Jahre seit diesen Ereignissen vergangen. Wir erleben ihn als Pianist, der auf Kreuzfahrtschiffen arbeitet und entwurzelt über die Meere fährt. Einsam, abgeklärt, verhärmt. „Die Musik ist meine Tarnkappe. Ich wünschte, ich könnte sie ewig tragen. Verschwinden und trotzdem alles sehen.“ Das ist der eine Teil der Handlung, ein innerer Monolog, in dem nach und nach Details aufblitzen, wie es dazu kam, dass er aus seinem eigenen Leben verschwunden ist.
Parallel dazu wird in regelmäßigen Rückblenden von diesem Leben erzählt, von seinem lieblosen Aufwachsen, vom Finden seiner großen Liebe, vom Versuch, der erdrückenden Einflussnahme seines Vaters zu entkommen. Und von seiner Tragödie. Anne von Canal verknüpft diese beiden Erzählebenen meisterhaft miteinander; die Erzählstränge fließen an dem einen, dramatischen Punkt zusammen, alle Andeutungen ergeben plötzlich einen Sinn. Der Roman wirkt in seiner Sprache so perfekt komponiert wie eines der Klavierstücke, die Laurits spielte, als er jung war und noch glaubte, sein Leben würde ihm offen stehen und ihm selbst gehören. Doch ganz am Ende, als alles gesagt ist, als alle schicksalshaften Zusammenhänge klar vor Augen stehen, liegt bei aller Tragik auch die vage Möglichkeit einer Hoffnung in der Luft.
Keine leichte Lektüre. Aber ein echtes Leseerlebnis und ein wundervolles Buch, das mich tief berührt hat.
Anne von Canal, Der Grund, mare Verlag 2014, 272 Seiten, 20 €
Schöne Rezension zu einem großartigen Buch! Ich mochte es auch sehr.
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Vielen Dank, das freut mich!
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Das klingt nach einem sehr lesenswerten Roman. Danke für diesen Tipp!
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Gerne! Ich war sehr, sehr begeistert von diesem Buch. Merkt man vermutlich…
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Oh ja, das kommt rüber!
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