Irgendwo im Land gibt es den Ort, die Straße, das Haus, wir haben dort die Kindheit verbracht, wir kommen schwer davon los.
Acht Jahre lang hat Guntram Vesper geschrieben, als Material dienten lebenslang geführte Notizhefte und Tagebücher, sorgfältig angelegte Sammelmappen und gespeicherte Erinnerungen. Das Ergebnis war Frohburg, »1.000 Seiten und kein bisschen zu lang«, urteilte Andreas Platthaus in der FAZ. »Mammuts sind ausgestorben«, konterte Malte Bremer auf literaturcafe.de. Beides stimmt, Frohburg ist ein störrisch-schwerfälliger Koloss, der sich aus einer untergegangen Literaturepoche in unsere Zeit hinübergerettet hat, und Frohburg ist ein schillerndes Erinnerungsbuch, das Autobiographie, Geschichtsschreibung und fabulierfreudige Fiktion unter einen Hut bekommt.
Frohburg ist ein Heimatroman, allerdings keiner im Sinne einer verklärten Rückschau. Das Städtchen, südlich von Leipzig, das Vesper im Alter von 16 Jahren mit seinem Bruder und den Eltern Richtung Bundesrepublik verließ, dient lediglich als Nukleus und als Anker einer Biographie des 20. Jahrhunderts. Selbst Erinnertes und die Erzählungen des Vaters, dritter und vierter Personen mischt, schichtet, faltet und verschränkt Vesper zu (s)einer Lebenserzählung, der Biografie eines Landes, einer Zeit. Die fällt immer wieder auf das zurück …
…was ich auch jetzt noch mit Frohburg verbinde, der Vaterstadt, der Mutterstadt, sie lieferte im rein guten, so es das gibt, und im weniger guten, die Meßlatte, die Richtschnur und, im heutigen Sprachgebrauch, die Grundkonfiguration.
Ein Irrtum wäre zu denken, es gehe nur um Anekdoten aus der Provinz. Die liefert Vesper zwar auch, aber die Ortschaft zwischen den Braunkohlegruben und den in die Ebene tastenden Ausläufern des Erzgebirges, der Fleck im unbedeutenden Nirgendwo, wird zum Kristallisationspunkt eines mäandernden »Heimat-Lebens-Jahrundertromans«. Frohburg setzt auf die Kraft mündlicher Überlieferung und ihrer schriftlich fixierten Simulation, amalgiert Literatur und Historiografie, sucht den Zusammenhang zwischen großer Geschichte und den kleinen privaten Details. Frohburg ist phantastisch und realistisch zugleich, historisch exakt und frei im Erfinden. Das privatime Erzählen verbindet sich mit dem kollektiven Gedächtnis.
Der Roman liefert seine eigene Poetologie frei Haus. Daheim in Frohburg hat Vesper in jungen Jahren gelernt, so zu erzählen, wie er es nun im Alterswerk Frohburg praktiziert. Wenn die Großeltern, später der Vater, in endlosen Gesprächen und über Abende hinweg, Anekdoten, Erzählungen, Erlebtes austauschten, sich die Lust am Fabulieren über die eigene Familie, über Freunde und Bekannte Bahn brach, dann wurde im Reden mit- und übereinander der Alltag kommentiert, die Welt erklärt und Zeitläufe gedeutet. Darum geht es im Kern: wie die Zeiten tief ins Leben des Einzelnen greifen.
Außerdem sinniert Vesper immer wieder auch über Literatur und Literaten. Das beginnt beim Balladendichter Börries von Münchhausen und zieht sich über Erich Loest bis hin zu Uwe Johnson und Walter Kempowski. Häufig gehen dabei Urteil (und Verurteilung) oder Hommage Hand hin Hand. Johnson, auch er ein begnadeter, literarischer Historiograf, dessen Jahrestage mit Frohburg durchaus verwandt sind, kommt besser weg als der Tagebuchsammler und an historischer Erinnerungsforschung interessierte Kempowski. (Vesper erinnert die Szene eines gemeinsamen Abendessens, in der Kempowski einen wenig schmeichelhaften Auftritt als eitler und unhöflicher Wichtigtuer hinlegt. Für Kempowskis Person und Werk hegt Vesper augenscheinlich wenig Symphatie.Auch so etwas steht in Frohburg.)
Ein Museum, Ein Archiv, ein Lebenswerk.
(Die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse)
Vesper versteckt große Geschichte im Kleinen und hinter jeder der assoziationsreichen Mikroepisoden, mal nur wenige Zeilen lang, mal über zig Seiten gedehnt, lauern historische Dimensionen. Berichtet wird von Racheakten der sowjetischen Besatzer, einer abenteuerlichen Flucht von 5 Tschechen quer durch die DDR, inklusive wilder Verfolgungsjagden und Schießereien, von grausamen und unaufgeklärten Mädchenmorden, langen Streifzügen durchs Erzgebirge, der Geburtsstunde der Wismut AG, jenes Unternehmens, das zum Staat im Staate mutierte. Aber auch wie er Schallplatten hört, auf denen Will Quadflieg Rilke rezitiert, teilt Vesper mit, und wie er erste Einkäufe in Antiquariaten tätigt oder auf dem Darss nach der Wende Ahrenshooper Urlaubserlebnissen der Kindheit nachlauscht und hinterherforscht. Ein pralles Kompendium, das dem Leser bisweilen uferlos und endlos erscheint und ihn herausfordert, indem es seine Aufmerksamkeitsspanne willentlich überfordert.

Vespers Sprache ist dicht und verdichtet, er schachtelt seine Sätze oder verkürzt sie, ist in Satzbau und Interpunktion eigenwillig. Direkte Rede wird vermieden, Fragezeichen und Ausrufezeichen kommen nicht vor. Der Text fließt ohne Absätze über die Seiten, sträubt sich und formt einen hermetischen Block, der mühsam aufgebrochen werden will. Die Chronologie ist aufgebrochen, Erzählstränge werden drei-, vierfach ineinander verflochten. Ja, es gibt auch Passagen, die ermüden und langweilen, aber die differieren von Leser zu Leser.
Vespers Roman, allein über die Gattungsbezeichnung ließe sich trefflich streiten, ist bei aller Finesse und Süffigkeit kein Genussbuch. Die große Qualität des Vesperschen Prosa-Mammuts birgt gleichzeitig ein gewisses Manko. Es fehlt am Ende doch die übergreifende Struktur und der erkannbare, rote Faden, das ausgebreitete Mosaik fügt sich zu einem nur verschwommenen Gesamtbild. Deswegen aber das Buch zu verurteilen, wäre ungerecht. Frohburg enthält so viele großartige, erzählerische Höhepunkte, so viele Passagen enormer, dichterischer Kraft und Wahrheit, die anderen (minderbegabteren) Schriftstellern mühelos zu mehrere Werke ausgereicht hätten, dass unterm Strich das Urteil dennoch nur lauten darf und muss: große Literatur, in Form und Inhalt einzigartig. (Ganz nebenbei: das ursprüngliche Manuskript hat Guntram Vesper noch um 400 Seiten ausgedünnt. Es entfielen Passagen, die sein Verleger allesamt nicht zwingend als verzichtbar beurteilte.)
Guntram Vesper; Frohburg. Gebunden, 1008 Seiten. Frankfurt/M.: Schöffling & Co. 2016
Bildnachweis: Vesper und sein Manuskript – Foto von Ida Schönling / Verlag Schönling & Co.
Hier ziehe ich einfach nur den Hut, dass du es gelesen hast.
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Ach, den Hut zu ziehen ob der „Leistung“ wäre übertrieben. Es hat wirklich Spaß gemacht, sich mit Vesper an Privates, Historisches, große und kleine Episoden zu erinnern. Und es war sprachlich anregend, denn schreiben kann der Mann.
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Mich reizt es, trotz der Dicke, weil ich aus der Gegend stamme. „Unbedeutendes Nirgendwo“ trifft es übrigens sehr, sehr gut. Allerdings frage ich mich deswegen auch wie er es geschafft haben will irgendetwas spannendes aus seinem Aufwachsen in so einem faden Landstrich herauszuarbeiten.
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Frohburg ist nur der Kern. Die Erzählungen schweifen weit ins Land und durch die Zeiten. Es geht hinein ins Erzgebirge, bis nach Tschechien. Leipzig, natürlich. Und viele Dörfer und Staädtchen drumherum. Bedingt durch die Flucht, später auch Hessen und Göttingen; weiterhin Ahrenshoop, der Darss, und, und, und…
(Mit der (weiteren) Umgebung von Frohburg vertraut zu sein, ist reizvoll bei der Lektüre. Ich habe z.B. 1990 für eine Nachrichtenagentur in Leipzig gearbeitet und bin viel herumgekommen in der südlichen DDR. Jetzt die Ortsnamen alle bei Vesper zu lesen war amüsant. Es ist auch ein Heimatroman. lg_jochen
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