»Die Wirklichkeit wird immer unglaubwürdiger, merkwürdiger auf jeden Fall.«
Erst neulich habe ich ein Buch gelesen, das in jeder Hinsicht erstaunlich war: Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen von Martin Lechner, dreiundsechzig Kurz- und Kürzestgeschichten irgendwo zwischen zärtlich, komisch und exzentrisch. Ein paar Wochen später kommt mir erneut ein Werk unter, das sich nicht um Konventionen schert, angefangen bei der Gattung. Xaver Bayers Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich, vor zwei Jahren im Salzburger Jung und Jung Verlag erschienen, ist weder Roman noch Erzählband, es ist genau das, was der Titel ankündigt: ein geheimnisvolles, knisterndes, zauberhaftes Buch.
Eine Sammlung von Miniaturen, ja, so könnte man es beschreiben: Momentaufnahmen, Beobachtungen, Gedanken. Da gibt es ein Ich, das erzählt, doch keine zusammenhängende Geschichte, die erzählt wird; man folgt dem Ich durch seine Tage und Nächte, durch sein Leben und seine Träume, ist dabei ein bisschen orientierungslos und verwundert, aber irgendwie auch entzückt. »Die Wirklichkeit wird immer unglaubwürdiger, merkwürdiger auf jeden Fall«, heißt es an einer Stelle: Die allermeisten Menschen mögen blind dafür sind, nicht aber der Erzähler, dessen Wahrnehmung und Einordnung der Dinge einen immer wieder ins Staunen versetzt.
»Das ist kein Ort, an dem ein Gedicht entsteht, und doch, dann, wie aus Trotz, scheint mir das mit Soulmusik durchtönte Warenhaus ein Geheimnis zu bergen, ein schönes.«
»Bis in den anderen Wohnungen allmählich die Wasserleitungen benutzt werden und der Hausmeister seinen Morgenschleim heraufhustet, dauert es noch Stunden. Man hat den Garantieschein für das Morgen verloren. Vielleicht sollte man aufstehen und Marmelade einkochen, wie früher die Großmutter, wenn es sie nächtens nicht im Bett hielt. Aber es gäbe nicht einmal die Früchte dafür im Tiefkühlfach, weil man sie im Sommer auf den Bäumen und Sträuchern verfaulen ließ, abgesehen davon, dass man gar keine Ahnung hat, wie man Marmelade einkocht, und so sitzt einem eine bis auf Weiteres alles verhindernde Vergeblichkeit im Körper.«
»Wieder ein Morgen, ein Vormittag, ein Tag, an dem mir nichts gelingt. Freilich – die Banküberweisung geht mir leicht von der Hand, auch das mit der Hose, die ich von meinem türkischen Schneider hole, und die zu reparierende Uhr trage ich gekonnt zum Uhrmacher. Aber es gelingt mir nicht, Tritt zu fassen in der Wirklichkeit, mich ins Gewebe der Ereignisse miteinwirken zu lassen. Wie soll man sagen? Beim Gehen durch die Straßen und Gassen fühle ich mich wie im Nachhinein dazumontiert, eine retuschierte Existenz.«
»Eine Schraube steckt zwischen den Brettern der Sitzbank. Eine Sirene, wie üblich. Der Wind. Eine Fliege im Kies. Ein Moped wird gestartet, wieder der Wind, kühl. Meine Haare, die mir ins Gesicht fallen. Alles ist in Klammern gesetzt. Die Müllsäcke. Schon wieder eine Sirene. Heute ist ein Glückstag. Ich sehe den Schatten. Ich werde nach dem Weg gefragt. Ich setze mir eine Mütze auf. Das ist die große Straße. Das ist die Kirche. Das sind die Kinder in bunten Farben. Das ist meine Erinnerung. Das ist deine Gegenwart.«
»Tagelanger Schneefall. Ich passe mich der Situation an, stecke eine Patrone mit weißer Tinte in meine Füllfeder und mache mich daran, einen Brief zu schreiben. Welchen Namen ich danach auf den Umschlag setzen werde, weiß ich noch nicht. Ich lasse mich überraschen. ›Lieber Freund! Die Tage hier sind helle Nächte und die Nächte dunkle Tage. Statte mir doch wieder einmal einen Besuch ab!‹ Ich setze eine unleserliche Unterschrift darunter und füge, nach kurzem Überlegen, noch ein Postscriptum hinzu: ›Trinkst Du immer noch so gerne Orangensaft?‹«
»Ja, das Für-möglich-Halten der Idylle. Es ist nicht so abwegig. Selbst als die gelangweilte Kellnerin in mittleren Jahren im leeren Marktcafé eine Münze in den Spielautomaten wirft und wiederholt auf die Taste drückt, die die Reihen mit den Ziffern und Buchstaben und Symbolen zum Rotieren bringt, liest sich da am Bildschirm kurz zwischen zwei Anschlägen die Letternkombination J und A, seitlich eingerahmt von einem Goldbarrenstapel und einem Horusfalken.«
Nicht viel geschieht in diesem Buch, der Schnee fällt, Menschen halten sich in Cafés auf, eine Taube geht vor einer Konditorei spazieren. Doch diese kleinen Begegnungen und Bewegungen lösen im Erzähler eine Fülle an Assoziationen aus und es entspinnen sich unzählige fantastische Geschichten. Ganz am Ende drückt er selbst es einmal so aus: »Meine Gedanken sind wie die Ausläuferranken einer Glyzinie, die im leeren Raum geduldig nach etwas tasten, woran sie sich festhalten, das sie umschlingen und (je nachdem) in Besitz nehmen können, das Gewächs ein Krückenwesen neben anderen.«
Im Vergleich zu Lechners Erzählungen ist die Dichtung des österreichischen Autors Xaver Bayer zwar leiser und subtiler, setzt weniger auf Pointen – ein Knistern eben, kein Rauschen. Allerdings ist sie mindestens genauso verblüffend, voller sonderbarer Einfälle und Bilder, die das Ungewöhnliche im Alltäglichen aufzeigen, den Zauber des Unscheinbaren. Nach der Lektüre erinnert man sich kaum an Einzelheiten, nur an eine Stimmung, an das Gefühl, die Welt in diesem Buch sei leicht verschoben oder aber man selbst ihr entrückt. Und das ist ein sehr schönes Gefühl.
Xaver Bayer: Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich. Jung und Jung, Salzburg 2014, 208 Seiten, 19,90 €.
Die Rezension ist zuerst auf SchöneSeiten erschienen.
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