Eine Schifffahrt nah am Untergang
„Nachts sinkt die Umdrehungszahl der Schiffsmotoren, aber es wird niemals wirklich Nacht. Tag auch nicht. Sie sind die ganze Zeit von der gleichen anthrazitgrauen Masse umschlossen, egal, welche Tageszeit gerade ist.“ Sie ist jung, und sie ist auf einem Schiff voller Männer: Die Inspektorin Mari soll in der Eiswüste Grönlands den Robbenfang dokumentieren. Doch als das Töten beginnt, packt sie das kalte Grauen: Nicht nur, dass die Männer die Vorschriften nicht einhalten, sie verletzen die Tiere zum Spaß, morden und schlachten ohne Rücksicht auf Verluste. Als Mari das anspricht, sieht sie sich offenen Anfeindungen ausgesetzt, die zu Drohungen werden. Schnell erkennt sie: Sie ist in größter Gefahr. Und es gibt für sie keinen Ausweg.
Habt ihr schon mal ein Buch gelesen, das von der ersten bis zur letzten Seite aus Beklemmung bestand – in Worte gegossen? So ist Ins Westeis von Tor Even Svanes, der aus dem Oslofjord stammt. Er bringt darin seine Protagonistin Mari in eine unmögliche Situation: Er schickt sie mit dem Schiff gnadenloser Robbenjäger in eine unwirtliche, für Menschen tödliche Gegend. Dann nimmt er ihr nach und nach jede Schutzzone weg, bis sie völlig schutzlos ist, und das geht erstaunlich schnell. Die Regeln des Anstands, jegliches respektvolles Benehmen verschwinden rasch, wenn es niemanden mehr gibt, der darauf achtet, ob sie eingehalten werden. Keine höhere Instanz, keinen Gesetzeshüter. Schnell übernehmen Gier, Grausamkeit und Selbstjustiz das Ruder. Die Tiere sind den Männern herzlich egal – und Mari auch.
Dieses Buch ist eigentlich kein Roman, sondern eine Kurzgeschichte. Auf die Seitenzahl kommt es nur, weil es außerordentlich luftig gesetzt ist – oft nur ein Absatz pro Seite. Wenn man es als Short Story liest, ergibt es mehr Sinn und passt vom Tempo her besser. In seinem dritten Buch hat der Autor vieles unausgesprochen und unerklärt gelassen – das macht das beklemmende Gefühl natürlich nur umso größer. Sehr detailliert beschreibt er dagegen das skrupellose Morden der Tiere, die Methoden, die Geräusche, das Blut, das Leiden. Dies ist eine sehr eindringliche Geschichte, die ich in kurzer Zeit gelesen habe – dank des oben erwähnten luftigen Satzes –, die mir aber lange im Gedächtnis blieb. Ein Buch über die kälteste Kälte, die es gibt: die menschliche.
Tor Even Svanes: Ins Westeis. Osburg Verlag, 198 Seiten, 18 Euro.
Dürfen wir denn über ein Buch, das „von der ersten bis zur letzten Seite Beklemmung“ auslöst, auch erfahren, wer diese Beklemmung auf Deutsch „in Worte gegossen“ hat? Solche sprachliche Dichte zu erzeugen, wäre schließlich keine geringe Leistung auch des Übersetzers oder der Übersetzerin.
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