Ein Attentat in Schweden, 1940
Gerade in einem Land wie Deutschland, das nach 1945 dazu gezwungen war, sich intensiv mit seiner Rolle im 2. Weltkrieg auseinanderzusetzen (weil es ihn lostrat und seine Bevölkerung entsetzliche Verbrechen in den besetzten Gebieten verübte), könnte leicht der Eindruck entstehen, dass die Geschichte dieser Zeit und dieses Krieges eine aufgearbeitete ist. Es erscheinen jedes Jahr zahlreiche neue Publikationen mit Erinnerungen, Analysen, Schauplatzgeschichten etc., und keine größere deutsche Zeitung hat nicht mindestens eine Sondernummer zum Dritten Reich und dem 2. Weltkrieg gemacht.
Von der deutschen Warte aus gesehen ist diese Zeit ein Dreh- und Angelpunkt, ein hochaufragendes, bis ins letzte Detail ausgearbeitetes Mahnmal. Aber es gibt noch viele Details und Geschichten dieser Zeit, die unerzählt sind. Es war nicht nur die Zeit des Dritten Reichs, es war auch generell eine Zeit des Umbruchs, des Chaos und der Verbrechen. Japans Invasion Chinas, Russland Bürgerkriege und Säuberungen und das in beinahe jedem Land stattfindende Aufeinanderprallen rechter und linker Gesinnungsvertreter, all das geschah in derselben Epoche.
Kein Land, keine Region blieb von diesen Zerreißproben verschont, auch wenn mancherorts, wo die Auswirkungen eher gering blieben oder die Einzelschicksale in dem großen Ganzen der Kriege und Kämpfe unscheinbar schienen, kein Bericht, keine Aufarbeitung davon zeugt. Manche dieser Orte wirken zunächst wie Inseln im tosenden Meer der Geschichte – in Europa sind das Länder wie die Schweiz oder Schweden, die offiziell neutral waren und die beide letztlich mit den Alliierten kooperierten.
In beiden Ländern gab es allerdings auch gegenteilige Bestrebungen – in der Bevölkerung und auch auf der Ebene der staatlichen Politik. In Schweden besonders zur Zeit des finnisch-russischen Winterkriegs von 1939/40. Man befürchtete, die Russen könnten, bei einem Sieg über den Nachbarn im Osten, direkt bis nach Norwegen durchmarschieren und sie würden von den Kommunisten in Schweden auch noch willkommen geheißen. Lange Zeit war es ein gesellschaftliches und politisches Tauziehen – sollte Stockholm nicht mehr als nur ein Freiwilligenkorps nach Finnland entsenden? Sollte man sich nicht lieber hilfesuchend an das starke Deutschland wenden?
Ein Tauziehen, das auch in Ann-Marie Ljungbergs Buch Dunkelheit, bleib bei mir beschrieben wird. Ihr Protagonist, Paul Wilhelmsson, Journalist bei einer schwedischen Zeitung (wie alle Figuren einem realen Vorbild nachempfunden – auch das Attentat hat es wirklich gegeben), ist wie viele seiner Landsleute in großer Sorge ob des Krieges und der politischen Stimmung in seinem Dorf Luleå. Denn hier wird auch eine bedeutende kommunistische Zeitung gedruckt, die teilweise breiten Anklang findet. Er und einige andere Leute wollen etwas gegen diese Zeitung unternehmen. Die Regierung zaudert nur, schreitet nicht ein. Wie es schließlich dazu kommt, dass der kleine Kreis von Verschwörern die Redaktionsräume der Zeitung in die Luft sprengt (wobei 5 Menschen zu Tode kommen, darunter 2 Kinder), ist Inhalt von Ljungbergs Buch. Minutiös beschreibt sie darin das Umfeld von Wilhelmsson, die Dorfgemeinschaft und die Geisteshaltungen der Verschwörer, ihre Ansichten zum Krieg und zu den potenziellen Gefahren und Möglichkeiten der Zukunft (darunter auch ihre Gedanken zum Dritten Reich und dem Krieg zwischen Deutschland und England).
Im Zuge dessen gelingt ihr etwas weitaus Subtileres als eine bloße Schilderung der Vorkommnisse vor und nach dem Attentat. Von der kleinen Warte des Dorfes Luleå und seiner Bevölkerung aus zeichnet sie ein Panorama der schwedischen Befindlichkeit im Winter des Jahres 1939. All die Angst, die Großtuerei, das rausgeputzte Pflichtbewusstsein, die Panik, die Verlassenheit, die in diesen Tagen zusammenkommen, fängt sie ein und erzählt somit nicht nur die Geschichte einer politischen Tat, sondern vor allem die Geschichte einiger Täter, die sich in den Mentalitätsstricken ihrer Zeit verfangen; einiger Menschen, deren Leben sich zwar in etwas Größeres, Bedeutenderes strecken will, die aber eigentlich gefangen sind in ihren persönlichen Wünschen, Verfehlungen und Ängsten.
Beeindruckend ist, wie die Autorin dabei mehrere Zeitebenen miteinander verschränkt und zwischen dem Prozess und der Geschichte vor dem Attentat hin- und herspringt, aber nicht kopflos, sondern um Ausgewogenheit und Anknüpfungspunkte bemüht. Auf die Schilderung, die Auslotung des Innenlebens ihres Protagonisten, verwendet sie viel Zeit und nimmt sich dabei auch erstaunlich viel heraus – dennoch gelingt ihr ein sehr ungeheischtes und kongruentes Bild, man fühlt sich manchen Charakteren sehr nah, ganz unabhängig von ihren Taten, was noch einmal mehr die seltsame Sinn- und Hilflosigkeit der Geschehnisse unterstreicht.
Das ganze Buch ist düster gehalten, düster wie der schwedische Winter. Es gibt wenige Lichtblicke; oft ist von Kälte, menschlicher und meteorologischer, die Rede. Die meisten Schilderungen sind luzid, detailliert und wirken dennoch porös, verblasst, was der Geschichte einen fernen Anstrich gibt. Insgesamt: ein faszinierendes Buch, sicherlich kein Unterhaltungsschlager, aber es liegt darin ein sanfter Sog, eine erzählerische Kraft. Und ein weiteres verschüttetes Kapitel des aus den Fugen geratenen 20. Jahrhunderts.
Ann-Marie Ljungberg: Dunkelheit, bleib bei mir. Aus dem Schwedischen von Eva Scharenberg, mit einem Vorwort von Björn Sandmark. Weidle Verlag, Bonn 2016, 208 Seiten, 23,00€.
Wir danken Timo Brandt, der auf www.lyrikpoemversgedicht.wordpress.com über Lyrik bloggt, für diesen Gastbeitrag!