Kann man sich in eine Autorin verlieben? Die Frage holte mich wiederholt ein, als ich mir mit Herrn Klappentexter Das literarische Quartett anschaute. Exakt den gleichen Gedanken hatte ich bereits vor zwei Jahren, als ich Maeve Brennan erstmals las. Thea Dorn sagte, dass sie in die Autorin verliebt sei, und Volker Weidermann schien kurz etwas irritiert. Er sei ganz angetan von der Autorin, gewiss, aber verliebt, nein. Ulrich Matthes indes schritt ein und hielt eine derart begeisternde Rede über die Autorin, dass ich Tränen in den Augen hatte. Und ob man sich in eine Autorin verlieben kann! Ich saß mit hochrotem Kopf auf der Couch, neben mir glühte die Schmuckausgabe »Sämtliche Erzählungen« von Maeve Brennan, die kürzlich bei Steidl erschienen ist. Die Gesamtausgabe ist kein Massenprodukt, sondern ein ganz besonderes Geschenk an alle Leser, die sich in die Autorin verliebt haben und es noch werden. Obendrein ist sie wieder ein Beweis für den Mut der unabhängigen Verlage, die sich solche Projekte trauen und uns damit beglücken.
Ich habe euch bereits zum Beginn des Jahres von dieser bemerkenswerten Autorin berichtet, die 2017 hundert Jahre alt geworden wäre. Seit ich den Band New York, New York gelesen habe, zähle ich zum Kreis derjenigen, deren Augen leuchten, sobald sie an Maeve Brennan denken. Ich habe in der Zwischenzeit mit vielen gesprochen und bin erstaunt, wie unbekannt die Autorin bei uns ist. Das dürfte sich jetzt hoffentlich ändern.
Die Werkausgabe ist liebevoll aufgemacht, schlicht und von einer zurückhaltenden Schönheit. Das Papier seidenweich und das Schriftbild angenehm groß, so dass man zu jeder Tageszeit darin verweilen kann. Fehlerfrei und erstklassig von Hans-Christian Oeser übersetzt, der zu Recht in meinem Interview von »einer literarischen Großtat« spricht. Der Übersetzer hat alle Bände der Autorin übersetzt und konnte sie nun vereint bei Steidl herausbringen.
Die Aufteilung in zwei Bände ist sehr gelungen, und so sah man mich in den letzten drei Wochen abwechselnd mit einem der beiden Bücher durch die Wohnung schleichen. Der Geist weilte entweder in New York, in Dublin oder am Strand von East Hampton. Ich war stets hell erleuchtet, inspiriert, berührt oder hatte ein Herz voller Mitgefühl für die Protagonisten. Waren mir bislang Maeve Brennans Kolumnen aus dem New Yorker vertraut, erkundete ich nun langsam ihre Erzählungen und rief leise wie Gollum aus dem Herr der Ringe: »Mein Schatz, mein Schatz!«
Wo nun also beginnen? Am besten bei der Einführung, die Anne Enright verfasst hat. Wir erfahren ein paar biographische Details der Autorin sowie allerhand Wissenswertes über ihre Arbeit und ihr Leben. Da eilen auch gleich zwei wichtige Sätze über die Autorin ins Blickfeld, denen ich zustimmen kann. »Brennan bleibt präzise, unnachgiebig. Was man bei ihr liest, ist schön und unerträglich zugleich.« Ihre messerscharfe Beobachtungsgabe, die kein Sandkorn, keine Biene, kein Schuldgefühl übersieht und es uns Lesern mit ihrer feinen Feder präsentiert. Wir können nicht anders, als ihr leise und staunend zu folgen – ob mit weit aufgerissen Augen oder einem Seufzen im Hals. Manches ist wunderschön, manches ähnelt einem Höllenfeuer und brennt wie Chili. Doch langweilig ist es in keiner Minute.
»Bluebell« ist eine Erzählungsreihe, die es auch separat in einer wundervollen Ausgabe bei Steidl gibt. Die Autorin schreibt die Geschichte des Hundes Bluebell, »eine ziemlich feiste schwarze Labradorhündin«. Schon in den ersten Zeilen zeigt sich Maeve Brennan mit ihrer außerordentlichen Beobachtungsgabe, als wäre sie selbst ein Mikroskop. Dort beschreibt die Autorin eine Biene, die auf dem Rücken im nassen Sand liegt und versucht, sich aufzurappeln, was ihr jedoch nicht gelingt. Bis die Spaziergängerin mit ihrer Hündin Bluebell vorbeikommt und das verunglückte kleine Tier behutsam in den Seidenschal legt. Während Mary Ann mit ihrer Rettungsaktion zugange ist, stürmt Bluebell auf »eine Reihe Möwen«. Mich streift sofort der scharfe Wind des Atlantischen Ozeans, ich höre die Gischt des Meeres an den Strand preschen und sehe die Szenerie genau vor mir. Bald schon schaue ich aus Bluebells Augen in die Welt. Wie sie auf die sieben Kinder aus dem Nachbarhaus wartet, die der Hündin ein Gefühl von großer Wichtigkeit verleihen. Maeve Brennan wechselt in diesen Erzählungen oft die Perspektive und überlässt Bluebell das Feld. Sie spricht nicht, nein, das ginge zu weit, aber ich erahne, was Bluebell fühlt. Das ist erstaunlich, unglaublich tröstlich und beglückend.
Während ich die Geschichten lese, möchte ich all die Gefühle und Gedanken festhalten, die mir in den Sinn kommen und scheitere. Sie rutschen mir aus der Hand, der Stift sinkt tief. Bluebell bellt vergnügt. Und ich? Ich lache und bemerke: Es passiert bei der Lektüre etwas Erstaunliches, das sich einfach nicht in Worte fassen lässt. Außer mit dem einem Wort, diesem strahlenden, warmen: Liebe. Vielleicht ist es das. Liebe. Ich bewundere die eleganten Sätze, deren Kraft weit hinausreichen. Ich kann mich nicht von den wunderschönen Beschreibungen lösen. Lese vor und zurück.
Viel kälter, beinah unheimlich und richtig grau ist es mitunter in Maeve Brennans Novelle »Die Besucherin«, einer atmosphärisch dichten und berührenden Geschichte. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die nach dem Tod der Mutter aus Paris nach Dublin zurückkehrt, in das Haus der Kindheit und dort bleiben möchte, aber von der Großmutter abgewiesen wird. Weil sie ihr und der Mutter bis heute nicht verziehen hat, dass sie ihren Sohn seinerzeit allein gelassen haben. Was ihre Mutter dazu bewegt hat, scheint Mrs King egal zu sein. Was zählt, ist der begangene Fehler, für den es offenbar keine Entschuldigung gibt. Das ist hart. Der Blick zu ihrer von Einsamkeit eingenommenen Enkelin berührt sie nicht. Noch ein Schlag ins Herz der Leserin. Trotz der Trostlosigkeit erzeugt Maeve Brennan einen Sog, streut hier und da bedeutende, lebenskluge Sätze ein, die den Lesefluss stolpern lassen und gleichzeitig bereichern: »Zuhause ist ein geistiger Ort. Wenn er leer ist, füllt er sich. Mit Erinnerungen, Gesichtern, Stätten, vergangenen Zeiten. Geliebte Bilder steigen ungerufen auf und halten der Leere einen Spiegel vor. Welch verärgertes Staunen, welch ziellose Suche!«
Ebenso beklemmend und gleichsam anziehend empfinde ich »Mr und Mrs. Derdon. Geschichten einer Ehe«. Die sieben Erzählungen winden sich um das Leben des Liebespaares, bei dem die Autorin eine Phase übersprungen hat: die der großen Verliebtheit. Gab es sie je? Die Lovestory beginnt mit der Erzählung »Eine freie Wahl«, als Rose und Hubert noch kein Paar sind, sich vorsichtig herantasten und Rose auf der Party mit einem Mädchenschwarm tanzt, diesen aber zusehends mit ihren Äußerungen verwirrt, und daraufhin Ausschau nach Hubert hält. In der zweiten Erzählung sind beide bereits verheiratet, sie heißen nicht mehr Rose und Hubert, sondern Mr und Mrs. Derdon. Dort treffe ich auf eine einsame, verunsicherte Frau, deren Tage einander gleichen. Wenig Licht streift Rose, deren einziger Trost ihr Garten und ihre Tagträume sind. Der Sohn hat das Elternhaus verlassen, weil er Priester werden wollte. Und ihr Mann ist ein komischer Kauz. Mich erinnert er an einen kalten Schatten, dessen Herz lange keine Sonne mehr gesehen hat. Es sind ruhige Erzählungen unter deren Oberfläche stets ein sanftes Vibrieren zu spüren ist, und sogar kafkaeske Augenblicke aufblitzen.
Wenn ich Trost brauche, schnappe ich mir einfach das blaue Buch und tauche in den Erzählzyklus »Tanz der Dienstmädchen«, der mir die Leichtigkeit zurück in die Augen legt. Dort verweile ich u.a. bei Herbert’s Retreat, einer Wohnanlage fünfundvierzig Kilometer von New York entfernt, eine eigene Welt für sich. Hier hängt der Luxus zwischen den Bäumen und die Häuser haben alle nur einen Wunsch: »Sie alle schielen nach dem Fluss. Das bedeutet nicht, dass wirklich alle auf den Fluss blicken. Einige von ihnen blicken etwas zögerlich in Richtung Hauptstraße, als seien sie nicht ganz sicher, wo diese eigentlich liegt. Einige blicken auf die Privatstraße, kaum mehr als ein Fuhrweg, der sie miteinander verbindet. Einige blicken einander an und bleiben doch auf Abstand bedacht, und ein paar scheinen allem die kalte Schulter zu zeigen.«
Allein schon diese Passage bezeugt davon, was für eine literarische Größe Maeve Brennan besitzt. Es fällt mir schwer, Christine Westermanns Meinung anzunehmen, die sich bei den über 1168 Seiten offenbar gelangweilt hat. Wirklich schade, dass sie nicht den Zauber dieser Autorin gespürt hat. So wie auch die wunderschöne Erzählung »Ich sehe dich, Bianca«. Darin zeichnet eine Ich-Erzählerin ein liebevolles Bild eines offenbar völlig anspruchslosen Freundes, der in einer heruntergekommenen Wohnung in New York wohnt und eine Katze an seiner Seite hat, die Maeve Brennan akribisch beobachtend mit ihren ganz eigenen Worten beschreibt. Wieder ein rundherum stimmiges und bezauberndes Stück, aus dem ich hinterher glücklich hervortrete.
Nun, mit Büchern verhält es sich ja so wie mit der Kunst, den einen begeistern sie, den anderen nicht. Und manchmal passiert da noch mehr. So schließe ich voller Dankbarkeit die Werkausgabe, die leise und schimmernd in meinem Bücherregal steht. Solltet ihr euch unglaublich wohl darin fühlen, wortlos glücklich sozusagen, spätestens dann wisst ihr: Ihr seid verliebt.
Maeve Brennan: Sämtliche Erzählungen. Herausgegeber und Übersetzer: Hans-Christian Oeser. Steidl, Mai 2017, 1168 Seiten, Pappband im Schuber, mit Lesebändchen, 48,- €.
Oh, das klingt sehr verheißungsvoll!!! Kommt unbedingt auf meine Bücherliste!
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