Alice Rühle-Gerstel
“Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Ein Prag-Roman“
Nachwort/Herausgeberin
Mit historischen Pragfotos und Stadtplan
Roman
Aviva Verlag
444 Seiten
24,50 Euro
Ich habe schon einige Bücher über Flucht und Emigration gelesen, doch mir stockte der Atem, als ich die ersten Seiten von Alice Rühle-Gerstels Roman gelesen habe. Ich war dabei, als Hanna mit Hilfe eines Genossen durch den Wald über die Grenze tritt. Ihre Zweifel über sich, ihre Flucht und ihre Lebenssituation waren so unmittelbar, dass ich einen Platz an ihrer Seite eingenommen habe und sie auf ihrer Flucht durch den „dunklen Wald“ und in ihr neues Leben in Prag begleitet. Hanna Last flüchtet aus Berlin in die Tschechoslowakische Republik. Sie kehrt in ihre Heimatstadt Prag zurück. Bei der Flucht hilft ihr ein junger Genosse aus der Kommunistischen Partei, der als Spiegel dient: Wir sehen Hanna aus seiner Sicht, aber auch aus ihrer eigenen Sicht, weil sie sich in ihn hineinversetzen will und sich reflektiert. Im Gegensatz zu ihm kommt sie nicht aus prekären Verhältnissen, sondern wuchs „großbürgerlich“ auf, bevor sie sich dem Kommunismus verschrieb. In Berlin wollte sie ihre Herkunft vergessen, in Prag wird sie mit diesem Gegensatz immer wieder konfrontiert, was spannende Fragen zur Rolle einer Identität aufwirft.
Sie ist nun eine Emigrantin in ihrem eigenen Land, arbeitet Hanna nach einer kurzen Zeit in einem „Emigrantenhaus“ illegal bei einer kommunistischen Zeitung. Hanna ist allein, ihr Mann sitzt in einem deutschen Gefängnis. Doch nach kurzer Zeit lernt sie andere Emigranten, misstrauische Parteimitglieder und die Prager Straßen kennen und lieben. In manchen Rezensionen wird die Liebesbeziehung zu dem Chefredakteur Svoboda besonders hervorgehoben, doch diese Liebesgeschichte ist nur ein kleiner Teil von Hannas Leben und Suche. Sie arbeitet in der gleichnamigen Zeitung „Svoboda“, das tschechische Wort für Freiheit, und letztendlich löst sie sich sowohl von diesen Versionen der Freiheit ab als auch von der kommunistischen Partei (wegen des immer stärker werdenden Stalinismus). Die „Svobodas“ kann man durchaus als Metapher verstehen. Gleich am Anfang zeigt Alice Rühle-Gerstel, wie sie gerne mit Bildern arbeitet:
Vor Minuten noch war Hanna in der Taghelle bergan geschritten, nun kroch und sprang sie bergab im Dunkel. […] Ach, heute nimmt alles gleich ein symbolisches Gesicht an! [S. 22]
Nach eigenen Aussagen ist ihr Roman autobiografisch gefärbt, was die Beschreibungen der Prager Intellektuellenszene noch spannender erscheinen lassen. Die Tochter (geb. 1894) eines Prager Möbelfabrikanten entschied sich, trotz oder gerade wegen ihrer großbürgerlichen Herkunft, Kommunistin zu werden. Sie war Krankenschwester im Ersten Weltkrieg, studierte, hielt Vorträge in Berlin und München und gründete später einen eigenen Verlag in Dresden. Alice Rühle-Gerstel schrieb Romane, Feuilletons und wissenschaftliche Arbeiten zur Individualpsychologie, zum Feminismus und Marxismus. Mit ihrem Mann, dem Politiker Otto Rühle, flüchtete sie in den 1930ern vor den Nazis zurück nach Prag. Dort arbeitete sie unter anderen beim Prager Tagblatt.
Durch ihre zahlreichen Publikationen zur sozialen Stellung der Frau gilt sie als Vorkämpferin des Feminismus der Zwischenkriegszeit und als einer der führenden marxistischen Individualpsychologin.
Sie folgte ihrem Mann etwas später, 1936, nach Mexiko. Dort fühlte sie sich, wie die Herausgeberin Marta Marková in ihrem Nachwort beschreibt, zum ersten Mal fremd und trauerte um ihre Zeit in Prag. Sie schrieb dort ihren Roman, der erst 1984 veröffentlicht wurde. Sie schied 1942 aus dem Leben, am selben Tag, als ihr Mann an Herzversagen starb.
Wenn manche Feministinnen heutzutage vorwurfsvoll meinen, dass man sich als Feministin auf die Schultern der vergangenen Generationen stellen sollten, sollte dabei vielleicht an Frauen wie Alice Rühle-Gerstel gedacht werden, die zu Lebzeiten die Emanzipation von Frauen unterstützte und leider in Vergessenheit geriet. Dabei galt dieses antifaschistische und antistalinistische Buch als erster antiautoritärer deutscher Frauenroman. Interessant ist auch ihr 1932 erschienenes Werk „Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz“, das 17 Jahre vor Simone der Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ erschienen ist, aber einer ähnlichen Argumentation folgt. Es wurde 1972 unter dem Titel „Die Frau und der Kapitalismus„ neu aufgelegt.
Der Aviva Verlag hat den Roman mit historischen Bildern und Postkarten, Lesebändchen und einer Karte von Prag ausgestattet. Dazu gibt es ein umfangreiches Nachwort von Marta Marková, das detailreich auf Rühle-Gerstels Leben eingeht. An der Leipziger Buchmesse feierte Britta Jürgs vom Aviva Verlag den 125. Geburtstag von Alice Rühle-Gerstel mit einer Buchvorstellung.
Manche vergleichen den Roman als wertvolle Ergänzung zu Seghers „Transit“ oder Feuchtwangers „Exil“. Ich las im Herbst erst Miriam Zadoffs „Der rote Hiob“, das vom kommunistischen Reichstagsabgeordneten Werner Scholem handelte, und war dadurch in die politischen und persönlichen Verwicklungen und Probleme der deutschen Kommunisten (vor allem der „Querdenker“) schon „drin“ und würde es eher dazu als eine passende Ergänzung sehen.
Wer eine Geschichte „mit misstrauischen Genossen und nationalsozialistischen Spionen, aber auch mit amourösen Verstrickungen“ (laut Werbetext) sucht, wird hier genauso fündig werden wie Frauen, die #frauenlesen und ein Stück feministische und kommunistische Geschichte kennenlernen wollen.
Kathrin
Bild (c) Aviva Verlag
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