Stell dir vor, du bist noch ein Kind und wächst in einem Ort auf, in dem dich irgendwie alle zu schneiden scheinen, in dem du immer der Außenseiter bist, auch mit deiner Mutter zusammen. Stell dir vor, dein Papa ist nicht mehr da, warum, das weißt du zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Doch irgendwas lauert unter der Oberfläche, will heraus, will sich Bahn brechen bei dir und als das passiert, offenbart sich dir das ganze Ausmaß, was diesen Ort ausmacht, der kein schönerer auf der Welt sein könnte. Das alles beschreibt in diesem Buch Manishi Yoshimura in knappen Sätzen und einer kurzen Geschichte. Und trotz der Kürze hinterlässt der Autor mit diesem Buch bei mir ihre Spuren und einen kalten Schauer. Warum, darauf möchte ich an dieser Stelle näher eingehen, aber Vorsicht, ich gehe auf die komplette Geschichte ein – wer sich noch etwas vom Zauber der Geschichte bewahren möchte, ließt ab hier bitte nicht mehr weiter!
Alles fängt ganz harmlos an. Ein 11 jähriges Mädchen ist mit ihrer Mutter zu Hause, in einem neuen zu Hause, wie es scheint, und beobachtet den Garten. Es ist noch nicht alles an seinem rechten Platz. Man merkt sofort, dass zwischen der Mutter und dem Mädchen etwas steht und die Stimmung zwischen den beiden eine angespante ist. Die Mutter selbst ist viel Arbeiten, um den beiden einen relativ bescheidenen Lebensstandard zu sichern.
Weiter erfährt man, dass das Mädchen in der Schule zu den Ausgegrenzten gehört. Ist es die normale Pupertät? Hat das Mädchen etwas an sich, was die anderen von ihr fern hält? Eine Behinderung oder etwas, was früher passiert ist?
Umizuka ist der Ort, in dem alles passiert. Ein Ort, der südwestlich von Tokyo direkt an der Küste liegt. Vordergründig mag alles stimmen, doch es schwelt etwas im Hintergrund. Leute verschwinden auf mysteriöse Weise oder sterben von heute auf morgen auf ebenso mysteriöse Weise, auch Kinder. Menschen mit anderen beziehungsweise komischen Meinungen werden ausgegrenzt, so wie es dem Mädchen selbst ergeht. Nach und nach stürzen wir in eine Art „Verschwörung“ hinein, bei der die Mutter des Mädchens versucht, ihr Kind genau von diesem ganzen Wahnsinn fernzuhalten. Als die Mutter ins Krankenhaus kommt, weil sie sich mit ihren Arbeiten völlig verausgabt hat, ist es um das Mädchen geschehen. Sie gerät in den Einfluss des Ortes und den Menschen, die alles versuchen, etwas zu vertuschen. Und ganz zum Schluss offenbart sich, wie diese Geschichte zustande kommt. Es ist von dem Mädchen zwar geschrieben, aber als Rückblick. Denn wir erleben sie als erwachsene Frau in Isolationshaft auf irgendeiner Insel, die Umizuka vorgelagert ist. Weggesperrt vor allen anderen, damit sie nicht ihre eigene Meinung sagen kann und damit alles schön bleibt in diesem wunderbaren Ort.
Der Autor sagt, dass die Reaktorkatastrophe von Fukushima ihn dazu inspirierte, diese Geschichte zu schreiben und genau das schwebt immer im Hinterkopf beim Lesen mit. Es muss gar nicht laut ausgesprochen werden, aber etwas in dieser Art muss passiert sein und der Staat reagiert hart. Man kann dieses Buch in die Gattung der Dystopie einordnen. Ganz ähnlich zu dem Buch „Opfer“ (Hanser Verlag) von Jesper Wung-Sung bei dem eine ganze Schule von der Außenwelt aus nicht erklärten Umständen abgeriegelt und sich selbst überlassen wird, stehen wir hier ebenfalls vor einem Rätsel. Es bleibt alles mysteriös und dadurch, dass wir es durch die Augen eines Kindes beschrieben bekommen, sind manche Aussagen auch nicht in dem Sinne vertrauenswürdig beziehungsweise sehr vage, da sie doppeldeutig ausgelegt werden könnten. Zumindest bis zur Hälfte des Buches kann man es auf die beginnende Pubertät schieben. Doch ab einem gewissen Zeitpunkt merkt man, dass etwas nicht richtig läuft. Spätestens als die erste Mitschülerin aus der Klasse des Mädchens von heute auf morgen verstirbt, kann man die Wahrheit nicht mehr verdrängen. Etwas stimmt nicht in Umizuka und der Staat will das unter allen Umständen vertuschen, die Menschen in Gleichmut ertränken. Es fühlt sich wie eine Diktatur an, die es unter den Umständen der nicht näher beschriebenen Katastrophe auch ist.
Die Sprache, die der Autor wählt, um das alles zu beschreiben, ist eine kindlich, naive. So wird der Eindruck erweckt, dass das alles gerade erst passiert. Doch gegen Ende stellt man irritiert fest, es ist gar nicht so. Diese Geschichte ist eine Erinnerung einer erwachsenen Frau in Gefangenschaft, die sich an ihre Kindheit zurück erinnert. Doch warum wählt Manichi trotzdem diese einfachere Sichtweise? Ist die Frau von dem Moment an in ihren kindlichen Gedanken stecken geblieben, als sie von den Männern in Anzügen, die im Buch die ganze Zeit präsent sind, aus der Mitte der Gesellschaft gerissen wurde? Das wäre ein Interpretationsansatz, der es logisch erscheinen lässt, denn, so wie es am Ende beschrieben wird, wurde die Frau in eine Art Isolationshaft gesteckt, ihr ganzes Leben von dem Moment der Verhaftung an. Hat sie sich deshalb das kindliche Gemüt und die einfache Sichtweise bewahrt, um nicht verrückt zu werden? Möglich erscheint es.
Am Ende steht man richtig ratlos vor dem Buch und kann nicht richtig sagen, was es mit einem anstellt. Es arbeitet in mir definitiv. Ich musste es trotz der Kürze der Kapitel und auch den gerade einmal knapp 160 Seiten immer mal wieder inne halten, um das Gelesene richtig zu verarbeiten und fassen zu können. Trotz der relativ simplen Sprache, war es keine einfache Lektüre. Sie wühlt auf und hinterlässt Fragen, die man sich unweigerlich stellt. Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn sie aus einer großen Katastrophe herausfinden muss? Welchen Weg wird sie gehen? Nimmt sie alles hin, was die Politik vorgibt oder wird sie aufbegehren? Hier wird eine Möglichkeit aufgezeigt, eine Gleichschaltung der Menschen aufzubauen und eine Diktatur zu errichten. Wer nicht mitmacht in diesem Spiel wird einfach weggesperrt. Es ist eine von vielen Varianten, aber eine, die einem beim Lesen Bauchschmerzen bereitet.
Manichi Yoshimura
Kein schönerer Ort
Roman
Aus dem Japanischen von Jürgen Stalph
Cass Verlag
158 Seiten
17,- Euro