Vom Ende einer Ära

Lju an Konstantin

Ich habe mein Amt angetreten und will Dir berichten, wie sich mir die Lage darstellt. Dass mir gelingen wird, was ich vorhabe, bezweifle ich nicht, es scheint sogar, dass die Umstände günstiger sind, als man voraussetzen konnte.

Ein junger Mann kommt zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf das russische Gut Kremskoje, wo die Familie des Gouverneurs mit ihren drei fast erwachsenen Kindern Sommerurlaub macht. Er wurde von der besorgten Gattin angestellt, offiziell als Sekretär, tatsächlich jedoch zum Schutz des Gouverneurs. Dieser hat einen Drohbrief erhalten, nachdem er aus Angst vor Unruhen die Petersburger Universität schließen und rebellische Studenten zum Tode verurteilen ließ. Die Familie nimmt Lju herzlich bei sich auf und lässt ihn an ihrem Leben teilhaben. Was sie nicht weiß: Er ist Anarchist und auf Kremskoje, um den Gouverneur umzubringen.

Ricarda Huchs Briefnovelle Ein letzter Sommer erschien erstmals 1910 und wurde seitdem von verschiedenen Verlagen immer wieder neu aufgelegt. An mir ist sie bisher trotzdem vollkommen vorbeigegangen, was sich dank der Neuausgabe des Kampa Verlags nun zum Glück geändert hat.

Katja an Peter

Ich habe jetzt den Mann kennengelernt, den ich heiraten werde, wenn ich überhaupt heirate. Den einzigen, den ich lieben kann. Frage nicht, wer er ist, frage überhaupt nicht weiter. Ich hätte Dir ja nichts davon zu sagen brauchen.

Die Briefe werden von allen Figuren geschrieben, die auf dem Gut anwesend sind – den drei jungen Erwachsenen, ihren Eltern und Lju. Es sind unverwechselbare Stimmen und Charaktere, sehr individuell in ihrem Ton, ihrem Lebensgefühl und ihrer Haltung. Da ist der Sohn, Welja, der den revolutionären Studenten näher steht als seinem Vater, der jedoch niemals auf die Idee käme, aktiv zu werden. Da sind die Töchter, von denen die eine ihre Zukunft nun doch ohne den Mann plant, der davon ausging, sie zu heiraten, weil Lju es ihr so angetan hat – genau wie ihrer Schwester. Da ist die hart am Rande des Nervenzusammenbruchs operierende Mutter, und da ist Lju selbst, der nach außen hin alle charmiert, dabei jedoch genau beobachtet und kühl das Attentat plant.

Welja an Peter

Heute habe ich das Gefühl, in einem Irrenhaus zu sein. Mama hat diese Nacht irgendetwas gehört, was nachher gar nichts war, aber trotzdem sich alles als Einbildung entpuppt hat, sieht sie verweint aus und fährt bei jedem Geräusch zusammen.

Die Uhr tickt, und in dieser Situation hat die Vielzahl der Perspektiven ihren ganz eigenen Reiz. Die Situation wird von den Figuren sehr unterschiedlich eingeschätzt, alle haben ihren eigenen Blick, der gefärbt ist und die persönlichen Prioritäten und Wünsche beschränkt. Wer was beobachtet, wer welche Schlüsse zieht und wer was vor wem zugibt, das ist von Ricarda Huch meisterhaft komponiert und ein wahres Vergnügen. Wie die einzelnen Figuren die anderen einschätzen und was sie für ein Bild von sich selbst haben, das ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch psychologisch vollkommen überzeugend.

Lusinja an Tatjana

Auf unsern einzig schönen Sommer fällt von irgendwoher ein kleiner Schatten. Jetzt sorge ich mich besonders um Jessika; ich kann es mir nicht mehr verhehlen, dass sie den Lju liebt. Ohne dass sie es weiß, richtet sich ihr ganzes Wesen nach ihm: Ich könnte sagen, sie ist eine Art Sonnenuhr, von der man immer ablesen kann, wo ihr Gestirn steht. Er hat auch etwas Sonnenhaftes, es ist, als ob eine lebenzeugende Kraft von ihm ausginge, in der freilich auch Leben verdorren kann.

Die angespannte Stimmung der heraufziehenden Revolution macht auch vor Gut Kremskoje nicht halt. Alle werden nervöser, ohne zu wissen, dass Lju etwas plant. Dieser bezieht in seine nun konkreter werdenden Pläne neue Erfindungen wie ein Automobil und eine Schreibmaschine ein. Spannend bleibt, ob der Anschlag gelingt, oder ob Lju zuvor entdeckt wird.

Ein leichter Ton, ein gewichtiges Thema, Spannung, komplexe Charaktere, ein dramatischer Schlusseffekt – Richarca Huch hat in Ein letzter Sommer eine ganze Menge wunderbar unter einem Hut vereint. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass diese Novelle lange Zeit in die Kategorie der Unterhaltungs- und Kriminalliteratur eingeordnet wurde. Den Konflikten und der psychologischen Dimension der Figuren wird das jedoch nicht gerecht – sie können sich mühelos mit anderen Gewissenlosen und Nihilisten der Weltliteratur messen. Diese nur vermeintlich leichte Sommergeschichte erzählt von einer Gesellschaftsschicht, die mit sich selbst beschäftigt ist, sich von den Problemen der Zeit abwendet, lieber dekadent lebt und die Bedürfnisse der Machtlosen auszublenden versucht. Es ist das Ende des zaristischen Russlands, das hier porträtiert wird – gut hundert Jahre später kommt Europäer*innen daran aber einiges vertraut vor.

Nicole Seifert

Ricarda Huch
Ein letzter Sommer
Novelle
Kampa Verlag (Gatsby)
144 Seiten
16 Euro

 

 

 

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