Wie konnte es nur soweit kommen?

Digitaler Lesekreis

Seit Anfang des Jahres hat der Blog „54book“ auf Twitter zur Aktion 54reads aufgerufen, ein digitaler Lesezirkel im Netz, bei dem jeder mitmachen kann, wer möchte. Jeden Monat wird ein anderes Buch gelesen und bei Twitter kommentiert. Wer möchte, wie nun ich in diesem Fall für das Buch, welches im März gelesen wurde, kann dazu auch noch eine Rezension oder seine Eindrücke aufschreiben. Insgesamt ist es schon jetzt eine spannende Geschichte. Leider habe ich es seit März, auch aufgrund des Neustarts von We read Indie, nicht mehr weiter verfolgt. Die ersten zwei Bücher habe ich zumindest angelesen und mit Interesse die ganzen Beiträge bei Twitter verfolgt. Da kamen sehr spannende und gegensätzliche Meinungen heraus, die die eigentliche Geschichte der Bücher informativer und interessanter machte.

Nicht fiktionale Aufarbeitung einer schockierenden Tat

Nun also „Der Widersacher“ von Emanuel Carrere. Diesen Autor habe ich selber noch nicht gelesen, aber schon von zwei Büchern von ihm gehört, unter anderem das vorliegende unter dem alten Titel „Amok“ und „Alles ist wahr“, welches schon ewig auf meiner Zu Kaufen- Liste steht. Im März also „Der Widersacher“, welches eine 2018 erschiene Neuübersetzung seines 2001 erschienen Buches „Amok“ ist. Ich bin ja einer, der solche Geschichten in seiner Widerwärtigkeit in einem gewissen Sinne mag. Und zwar so, weil ich gern ergründen möchte, was einen Menschen antreibt, zu so einer Tat zu schreiten, wie sie im Buch beschrieben wird. Carrere bedient sich dabei einem stilistischen Mittel, welches man von Capote und „Kaltblütig“ kennt – dem nichtfiktionalen Roman. Allerdings beschreibt es Carrere direkt in der Ich-Form, er schlüpft quasi an vielen Stellen in die Rolle von Jean-Claude Romand, dem Täter, um den sich dieses Buch dreht, und genau das macht es an den entsprechenden Stellen richtig unerträglich, denn eigentlich erfährt man kaum, warum diese Morde geschehen sind. Aus reiner Verzweiflung? Aus Gier? Einfach so? So richtig lässt sich das nicht sagen. So, wie es im Buch beschrieben steht, passieren sie einfach und das ist das erschreckende daran, wie mechanisch dieser Mann seine Frau, seine Eltern und seine zwei Kinder umbringt. Da kamen mir die Tränen und die Wut in gleichen Maßen und ich hätte an dieser Stelle eigentlich abbrechen wollen, jedoch kam mein innerer Teufel und sagte, er möchte schon noch wissen, wie der Autor zu diesem Fall und dem Mörder steht, denn während des Lesens vom ersten Abschnitt wurde das nicht richtig deutlich.

Eine Tat so unbegreiflich, wie deren Entstehen

Jean-Claude Romand, Arzt am WHO, Familienvater, Ehemann, Freund. So würden viele diesen Mann beschreiben, der sich in die Gemeinde einbringt, stets hilfsbereit ist und als ein etwas zurückhaltender Mensch gilt. Doch dieser Mann birgt ein Geheimnis, welches er zum Zeitpunkt, als das Buch ansetzt, schon 18 Jahre währt. Denn Romand ist kein Arzt oder Wissenschaftler, er ist streng genommen nichts. Eine Prüfung hat er nie abgelegt. Ab dem 3.Semester hat er allen vorgemacht, dass er studiert, dabei war er schon längst nicht mehr dabei. Diese Lüge ist nun im Jahr 1993 explodiert und entlädt sich in einer Gewaltorgie, wie sie Frankreich selten zu sehen bekommt. Romand bringt erst seine Frau um, dann seine Kinder, seine Eltern und will am Ende auch sich töten, was aber daran scheitert, dass er aus dem Flammenmeer, welches er selbst gelegt hat, gerettet wird. Sein bester Freund Luc, mit dem das Buch auch beginnt und aus dessen Sicht die Geschichte eingeleitet wird, glaubt anfangs noch an einen großes Missverständnis. Er glaubt fest daran, dass Romand überfallen wurde, seine Frau und Kinder getötet wurden und er im Feuer zurückgelassen. Doch als sich die Fakten verdichten, als zusammen getragen wird, was anfangs nicht wahr sein durfte, bricht für Luc eine Welt zusammen. Alles, was er mit den Romands und vor allem mit Jean-Claude erlebt hat, muss er in Frage stellen.

Faszination und Ekel

Carrére wird durch einen Artikel in der Zeitung auf diesen Fall aufmerksam und interessiert sich ausgerechnet für die Figur in diesem Spiel, den von nun an alle hassen – dem Mörder. Er möchte irgendwie hinter die Fassade dringen und zu packen bekommen, wie es soweit kommen konnte. Wie kann es sein, dass das komplette Umfeld 18 Jahre lang an der Nase herum geführt wird? Wie konnte seine Frau nichts ahnen? Dem will Carrére nachspüren und bekommt anfangs keinen Zugang zu Romand. Über einen Briefwechsel kommen die beiden in Kontakt und Romand erbittet sich Aufschub bis zum Prozess. In dieser Zeit passiert einiges im Leben Carréres, er verarbeitet die Geschehnisse Romands doch literarisch, zumindest wird das im Buch angedeutet, und vergisst sein Interesse daran. Doch als der Prozess näher rückt, meldet sich auch Romand wieder beim Autor. Dieser ist in der Zwischenzeit gereift und hat nun einen gewissen Ekel vor diesem Fall. Irgendwie kann er seine Faszination nicht mehr ergründen und ist kurz davor, diese Geschichte sein zu lassen. Doch er hat Romand versprochen, dass er es probieren will, also setzt er sich doch an den Tisch und erschafft „Amok“ beziehungsweise „Der Widersacher“ in der Neuübersetzung.

Ich gebe zu, ich verstehe Emanuel Carrére. Eine gewisse Grundfaszination habe auch ich an solchen Stoffen auch, bei aller Tragik, traurigen beziehungsweise bösen Taten, die dahinter stehen. Doch mir geht es meist so, dass ich damit nicht mehr zurechtkomme, sobald es real wird, so wie in diesem Fall. Ich hatte meine Probleme mit der Motivation von Carrére und hatte trotz der Überschrift Roman immer im Hinterkopf, dass es ein realer Fall war und ist, den man da versucht nachzubilden. Ich weiß, dass jedes Buch irgendwie auf realen Erfahrungen fußt, anders kann es ja nicht funktionieren. Jedoch wird das meist so abstrahiert, dass man die Realität nicht mehr sieht und etwas fiktivem beiwohnt, was man beim Lesen mit der Realität anderweitig verknüpfen kann. Hier jedoch ist alles real, auch wenn es dem Kopf des Autors entspringt. Zu Beginn der Lektüre war ich voller Eifer und erwartete mehr eine Art Reportage. Als es jedoch daran ging, das Leben von Romand aufzuarbeiten beziehungsweise nachzubilden, bekam ich einen gewissen Ekel vor dieser Geschichte und spätestens bei den Morden an der Ehefrau von Romand und den beiden Kindern war es mir (fast) zu viel und ich wollte das Buch beiseitelegen. Zum Glück habe ich es nicht gemacht und das letzte Drittel bekam dann doch noch die Kurve und versöhnte mich ein wenig mit dem Werk. Empfehlen möchte ich es eigentlich nicht, denn man erfährt so gut wie nichts über den Mörder und sein Wesen. Es bleibt in meinen Augen sehr im Nebel, was aber an dem verschlossenen Charakter liegt, der im Buch beschrieben wird und wohl auch das wahre Ich von Romand widerspiegelt.

Emmanuel Carrere
„Der Widersacher“
Matthes&Seitz
195 Seiten, 22 Euro

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