Wut und Sorge, Liebe und Rivalität, Geborgenheit und Verwundbarkeit – die Beziehung von Geschwistern ist eine besonders enge und besonders ambivalente. Davon erzählen drei Bücher, die gerade auf deutsch erschienen sind: Mona Høvrings neuer Roman Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte, die Erzählungen von Line Madsen Simenstad (ihr literarisches Debüt), sowie der Roman Eine moderne Familie von Helga Flatland, bereits ihr fünfter, jedoch der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. Alle Autorinnen stammen aus Norwegen, dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse.
Eigentlich haben sich die Geschwister Liv, Ellen und Håkon mit ihren Partner*innen und Eltern in Italien versammelt, um den siebzigsten Geburtstag ihres Vaters zu feiern, mit einem festlichen Essen und einer Rede ihrer Mutter, wie sonst auch. Die Überraschung ist groß, als die Eltern stattdessen ganz ruhig verkünden, sie wollten sich scheiden lassen, sie hätten sich auseinandergelebt und sähen im anderen keine Zukunft mehr.
Ellen lacht plötzlich los. Ihr Lachen hört sich aufrichtig an.
„Auseinandergelebt? Zukunft? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!“
Helga Flatland berichtet in ihrem 2017 mit dem Preis der norwegischen Buchhändler ausgezeichneten, psychologisch klugen und sehr unterhaltsamen Roman, was passiert, nachdem den Geschwistern nichts anderes übrigbleibt, als die Entscheidung ihrer Eltern ernst zu nehmen. Obwohl die drei längst ihr eigenes Leben führen, erschüttert sie diese Trennung und bringt vieles ins Wanken. Liv ist die älteste, sie ist 40, verheiratet und hat zwei Kinder. Ihre um zwei Jahre jüngere Schwester Ellen ist frisch liiert und wünscht sich dringend ein Kind, und der Nachzügler Håkon, 30 Jahre alt, ist überzeugter Single. Jedes der Geschwister hat seine Rolle im Familiengefüge: Wer Ansprechpartner für die Mutter ist, wer Verantwortung übernimmt, wer sich entzieht, wem grundsätzlich alles nachgesehen wird – all das ist seit langem festgelegt, auch wenn Selbst- und Fremdwahrnehmung in diesen Dingen gelegentlich auseinandergehen. Um so aufschlussreicher und amüsanter ist es, die Stimmen aller drei Geschwister zu hören, die Helga Flatland nacheinander zu Wort kommen lässt.
Nach der Scheidung der Eltern fallen nicht nur Routinen und Traditionen wie das allwöchentliche gemeinsame Sonntagsdinner weg, auch das alte Zuhause gibt es bald nicht mehr. Das hat Folgen, für die Familiendynamik wie für das Lebensgefühl und die Überzeugungen jeder einzelnen. Vergleichsweise blass bleibt dabei der Bruder, der seine zwar theoretisch von ihm ausführlich begründete, psychologisch jedoch etwas unmotiviert bleibende Bindungsscheu nun hinterfragt. Am härtesten trifft es Liv, die älteste, die plötzlich das Gefühl hat, auf allen Gebieten die Kontrolle zu verlieren und über keinerlei Sicherheit mehr zu verfügen. Ihre Mutter hatte ihr immer vorgelebt, dass es ein Wert sei, nicht aufzugeben, dass Trennung also kein Ausweg sei, und so bricht mit der Entscheidung ihrer Eltern eine Grundgewissheit weg. Aus Sicht ihrer jüngeren Schwester Ellen stellt sich das so dar:
Sie stand vor einer Salatschüssel und heulte. Ich mußte lachen. „Ach, Liv“, sagte ich und legte den Arm um sie.
Liv ist einfach stärker abhängig von Mama und Papa als ich, von ihrer Anerkennung für das, was sie tut, auch noch im Erwachsenenalter. Ich erinnere mich, wie sie fast um Erlaubnis fragte, Olaf heiraten zu dürfen, sie war nervös und rief mich täglich an, bevor sie ihnen erzählte, daß sie planten, kirchlich zu heiraten, als könnte sie ihnen nichts Schlimmeres antun. „Liv“, hatte ich gesagt, „du tust das doch nicht für oder gegen Mama und Papa, strenggenommen tust du das wohl für dich und Olaf. Eventuell auch gegen ihn“, hatte ich scherzhaft nachgeschoben. „Für dich ist das leicht, hatte sie geantwortet, „du weißt nicht, wie es ist.“ – „Wie was ist?“ wollte ich wissen. „Daß sie bei allem, was ich mache, so große Erwartungen haben.“ – „Das stimmt so nicht, Liv, du bist nicht gerade unbeteiligt, diese Erwartungen zu wecken, du erwartest sogar, daß sie Erwartungen haben, es ist ein Teufelskreis.“ Damals war ich sechsundzwanzig und wußte nicht, daß meine Gedanken zwölf Jahre später obsessiv um Familie kreisen würden.
Ellen, die beruflich Politiker*innen berät, scheut die Konfrontation von allen am wenigsten, ist ihren Geschwistern zugewandt und dabei meist verständnisvoll. Auf diese Weise ist sie den anderen immer wieder eine große Hilfe, allerdings verliert sie dabei aus den Augen, was für sie selbst das Beste wäre.
Um die Ausmaße dieses Themas – sich um die Geschwister zu sorgen – geht es interessanterweise in allen drei hier vorgestellten Neuerscheinungen. Mona Høvring nimmt das Phänomen geradezu unter die Lupe in ihrem Roman Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte, der im letzten Jahr mit dem renommierten norwegischen Kritikerprisen ausgezeichnet wurde.
Auch in diesem Roman geht es um zwei Schwestern, die im Alter nah beieinander sind. Martha und Ella sind in zwillingsgleicher Symbiose aufgewachsen – für die Erzählerin, die jüngere Ella, eine wunderbare Zeit, an die sie sehnsüchtig zurückdenkt. Als Martha die enge Beziehung zu ihrer Schwester unerwartet aufkündigt und von zu Hause auszieht, um zu heiraten, ist für Ella „alles irgendwie kaputt“. Sie ist so auf Martha bezogen, dass sie kaum weiß, wer sie ohne die Ältere überhaupt ist. Martha kommt bald zurück, ihre Liebesbeziehung scheitert. Wie die zu diesem Zeitpunkt 22-jährige Ella beobachtet, geht es ihr nicht gut:
Sie war mitgenommen und reizbar. Es war herzzerreißend, sie so zu sehen. Sie begrub mich unter ihrem Kummer. Ihre Angst wurde meine. Sie ertrug keinen Widerspruch. Sobald ich mit einem noch so geringfügigen Einwand kam, beschimpfte sie mich. Sie warf mit Sachen nach mir. Sie ließ sich nicht beruhigen. Und ich konnte mich nicht schützen. Ich nahm alles hin, als wäre es meine Pflicht, als wäre ich ihr etwas schuldig. Martha hatte Macht über mich. Ich liebte sie. Ich weiß nicht, woher ich diese dummen, scheinheiligen Gedanken nahm, aber ich beschloss, dass ich sie nie so im Stich lassen würde, wie sie mich im Stich gelassen hatte. Ich würde ihre Launen ertragen. Ich würde sie nicht aufgeben.
Damit Martha sich erholt, soll Ella sie auf Wunsch der Mutter in ein Hotel in den Bergen begleiten, ein „Glashotel“, das funkelnd oben in den Bergen liegt. Dieses Hotel ist als Handlungsraum des Romans symbolisch aufgeladen, wie alles in diesem schmalen Buch hochallegorisch ist. Zunächst wird es mit einem „goldenen Kristallvogel“ verglichen, bald jedoch erinnert es an einen riesigen Vogelkäfig. Allerdings an einen behaglichen Käfig, geradezu paradiesisch, mit dem geheizten Kachelofen, mit Wanne, Badesalz und Bademänteln aus dickem Frottee. Seit langem übernachten die Schwestern mal wieder, wie früher, in einem Zimmer, die alte Symbiose scheint wieder hergestellt, was Ella sehr genießt – nur um dann erneut erleben zu müssen, dass Martha sie verlässt. Nun hat Ella die Wahl: fliegen lernen oder verharren. Sie kann sich verhalten wie beim ersten Mal oder etwas aus dem bisher Erlebten lernen und über sich hinauswachsen.
Die Beziehung zu ihrer Schwester ist für die Jüngere Fluch und Segen zugleich – Segen, weil sie diese Nähe und Geborgenheit überhaupt kennengelernt hat, Fluch, weil genau das nun nicht mehr zu haben ist. Die „verfluchte Mischung aus Wut und Sorge“, die das mit sich bringt, quält Ella und verstellt ihr die Sicht auf die eigenen Bedürfnisse. Wie schon in ihrem Debüt Was helfen könnte (das ich hier besprochen habe) erzählt Mona Høvring von einem Urkonflikt. Hier wie dort merkt man ihrer Sprache – in der Übersetzung von Ebba D. Drolshagen – die Lyrikerin an. Dieser neue Roman ist fünfzehn Jahre später entstanden, er ist komplexer, auch artifizieller, künstlerisch reifer und vielleicht eher etwas für fortgeschrittene Leser*innen – oder für neugierige. Was ich in dem Roman noch alles entdeckt habe, durfte ich in einem Nachwort für die deutsche Ausgabe ausführen.
Welche Schwester auf welche aufpasst, wer für wen da ist oder meint da sein zu müssen – darum geht es auch in einer der fünf Erzählungen der 1985 geborenen Osloer Journalistin Line Madsen Simenstad, die unter dem Titel Königin-Maud-Land ist geheim jetzt im mare Verlag erschienen sind.
Fast die ganzen Ferien hatte ich im Sommerhaus verbracht. Vertrocknetes Gras unter den Fußsohlen, Splitter von den Verandadielen in den Zehen, kaltes Wasser bis zu den Knöcheln. Der Sommer kam plötzlich und war warm. Dann kam Hennie. Sie war nett in diesem Sommer.
Auch hier erzählt die jüngere Schwester. Sie genießt es, mit Hennie auf einem Felsen in der Sonne zu liegen oder abends vor dem Fernseher, während die Ältere erklärt, wie man sich verhalten sollte, wenn man einen Freund hat. Hennie hat alle möglichen Ratschläge für ihre Schwester parat, ermahnt sie zum Beispiel auch, sich alle drei Stunden mit Sonnencreme einzucremen. Die Jüngere tut das gehorsam, aber nach und nach begreift sie, dass Hennie ganz andere Nöte kennt als sie und besser auf sich selbst aufpassen sollte. Eigentlich ist sie es, die beschützt werden müsste.
Alle fünf Erzählungen von Line Madsen Simenstad beginnen mit einer ganz alltäglichen Situation, um dann nach und nach immer unbehaglicher zu werden, bis man plötzlich vor einem Abgrund steht. So auch in „Die Tschernobyltiere“, einer Kurzgeschichte, in der es zunächst um Vater und Tochter geht, die in Norwegen von einem Landstrich zum nächsten ziehen, von einer Beziehung des Vaters zur andern. Die junge Protagonistin hat schon viele Abschiede und Veränderungen hinter sich. Als die Handlung einsetzt, werden Silvestervorbereitungen getroffen, alles scheint stabil. Dass der wenig ältere Sohn der aktuellen Vaterfreundin sich in seinem Zimmer verbarrikadiert, ist normal. Obwohl er auf dieselbe Schule geht wie die Erzählerin, hat er bisher kaum ein Wort mit ihr gesprochen. Die beiden Quasi-Geschwister scheinen nichts gemeinsam zu haben. Erst als sich wieder einmal ein Abschied ankündigt, spüren beide, was sie trotz allem verbindet, was sie einander hätten sein können.
In den anderen Kurzgeschichten von Line Madsen Simenstad geht es um eine Tochter am Sterbebett ihres Vaters; um eine Mutter, die allein mit ihrem kleinen Sohn langsam verzweifelt; und um ein Paar, das sich wegen eines Todesfalls beinahe trennt. Es sind, wie sich immer erst nach und nach zeigt, düstere Texte, nicht alle enthalten einen Hoffnungsfunken, aber ausnahmslos alle haben mich rundum überzeugt. Ein sehr vielversprechendes Debüt.
Geschwisternähe, die kaum zustande kommt, aber um so mehr ersehnt wird, die überlagert wird, mehr noch von widerstreitenden Bedürfnissen als von Rivalität – das ist der gemeinsame Boden dieser drei sehr lesenswerten Bücher. Enden tun sie ganz unterschiedlich. Mal nähern sich die Geschwister wieder an, mal bleibt es offen, mal ist es geradezu lebensnotwendig, auf Distanz zu gehen, sich zu lösen. Eins machen dabei all diese Geschichten deutlich: Enden kann eine Geschwisterbeziehung nie, nicht mal im Fall einer radikalen Trennung. Es bleibt ein Band, das nicht durchschnitten werden kann.
Nicole Seifert
Helga Flatland
Eine moderne Familie
Roman
Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger
Weidle Verlag
308 Seiten
25 Euro
Mona Høvring
Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte
Roman
Aus dem Norwegischen von Ebba D. Drolshagen
Edition Fünf
136 Seiten
19 Euro
Line Madsen Simenstad
Königin-Maud-Land ist geheim
Storys
Aus dem Norwegischen von Ilona Zuber
mare Verlag
128 Seiten
18 Euro
Kommentar verfassen - Mit dem Absenden des Kommentars geben Sie gleichzeitig ihr Einverständnis zur Datenschutzerklärung auf dieser Seite