Norwegische Literatur und das Abarbeiten eines Traumas

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In diesem Jahr war Norwegen das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse und mit der Literatur aus diesem Land hatte ich bisher wenig zu tun. Eigentlich habe ich bisher bewusst nur Bjarte Breiteig bewusst als norwegischen Autor gelesen und war von seinem nüchternen Stil begeistert, wie er die darin gezeigten dunklen Stoffe verarbeitet, so dass man diese verträgt (einmal ein Roman über einen Kinderschänder – klick– und der andere Band mit sieben Kurzgeschichte – klick). Wie es der Zufall will, erschienen diese Bücher ebenso wie das, welches in diesem Beitrag vorgestellt wird, in einem meiner Lieblingsverlage – dem Luftschachtverlag. Nun habe ich meiner Lesebiografie mit Eivind Hofstad Evjemo einen weiteren Autor aus Norwegen hinzugefügt, der ganz ähnlich zu Breiteig die norwegische Seele im Kleinen und im Großen beschreibt, vor allem wie diese mit Verlusten und Ängsten umgeht. Der Anschlag von Utøya ist dabei nur ein Aufhänger, der mehr im Hintergrund schwebt und nie die Geschichte komplett einnehmen wird. Vielmehr werden wir Zeuge vom Leben eines Eehepaares, ihrem Zusammenleben, ihrem Kinderwunsch, der Adoption eines Kindes und wie sie dieses erziehen und dabei vieles falsch machen. Auf den ersten Blick mag nicht viel passieren, aber es geschieht so unglaublich viel in diesem Roman, der mir persönlich vor allem das Innenleben der Figuren exzellent ausweidete und mich mit ihnen mitleiden ließ.

Utøya und der Niedergang einer Gewissheit von Sicherheit

Die Anschläge von Utøya bei der viele Kinder und Jugendliche Opfer eines Attentäters mit irren Ansichten wurden, hat sich tief in die norwegische Seele gegraben und das Selbstverständnis von Sicherheit komplett untergraben. Nichts scheint mehr sicher nach diesen grausamen Stunden. Doch ist dieser Anschlag nur ein Aufhänger für eine zartfühlende Geschichte ganz anderer Art, deren Wirkungen aber durch die Folgen des Attentats wieder ausgegraben werden, um am Ende irgendwie doch miteinander verwoben zu sein.
Sella und Alrid sind scheinbar ein ganz normales, älteres Ehepaar. Sie leben das klischeebeladene Leben, was man im Kopf hat, wenn Mann und Frau ohne Kinder zurecht kommen und sich ihren Alltag organisieren müssen. So auch bei diesen beiden, nur eben in Norwegen. Doch dann platzt das Attentat in diese vermeintliche Idylle und mit diesem die Nachbarn, die bei diesem Anschlag ihre Tochter verloren haben. Mit diesem Wissen werden Erinnerungsprozesse in Gang gesetzt, die sich bei Sella nicht aufhalten lassen und etwas offenbaren, was mit Utøya in Verbindung steht.
Sella erinnert sich an das Zusammenkommen mit Alrid. An ihre erste gemeinsame Zeit, wie Sella versucht hat, auf eigenen Beinen zu stehen, selbstbestimmt einem Job nachzugehen, was sie auch nicht aufgibt, als Alrid eine Stelle annimmt und Sella von ihrem Arbeitsplatz Abschied nehmen muss. Doch der dringendste Wunsch ist der, ein Kind zu bekommen, eine Familie zu werden, nicht bloß Partner. Doch das will einfach nicht funktionieren. Die beiden probieren vieles, die Jahre gehen ins Land. Letztendlich, nach vielen nutzlosen Versuchen, adoptieren sie ein Kind aus einem Waisenhaus im Ausland. Mit Kim ändert sich das Leben von Sella und Alrid, denn vor allem Sella ist irgendwie überfordert mit dem kleinen Kind. In Erziehungsfragen ist sie völlig verunsichert, greift zu Mitteln, auch Gewalt, die dem Kindeswohl nicht zuträglich sind. Aus diesem Erinnern heraus ergibt sich nach und nach ein Bild, welches die Vergangenheit, die Gegenwart und die Anschläge immer mehr miteinander verschränkt.

Ruhig erzählt, aber mit Wucht

Dieses Buch ist ebenso wie Kanada, welches ich Anfang des Jahres gelesen habe (klick), ein Phänomen. Es ist ruhig geschrieben, ohne großes Aufhebens um das Geschehen. Vielmehr wird die ruhige Feder geführt, keine große Effekthascherei aufgefahren, um größtmöglichen Schock zu erzeugen. Vielmehr schält sich nach und nach Erkenntnis in das Gelesene und das Bild wird klarer. Dazu sollte man im Vorfeld zu diesem Buch so wenig wie möglich in Erfahrung bringen. Auch ich habe versucht, dieses Buch so gering als möglich wiederzugeben. Die Inhaltsangabe beschränkt sich auf zirka die Hälfte des Buches.
Die Sprache ist nüchtern und sachlich, man möge fast geneigt sein zu sagen, sie sei langweilig. Doch das ist nicht der Fall. Mir persönlich ist das Schicksal von Sella, Alrid und Kim sehr nahe gegangen und trotz des ruhigen Tons und der fast ereignislosen Sprache rauscht man durch die Seiten und will unbedingt wissen, wie die Geschichte um diese drei weiter geht.
Der Anschlag von Utøya und Oslo hat sich bei mir nicht so präsent eingeprägt wie die Anschläge auf das World Trade Center 10 Jahre vorher. Doch in der norwegischen Seele muss dieses Ereignis immer noch lodern, selbst 8 Jahre danach. Die Hinergründe zu dieser Tat wurden vom Täter selbst bis ins Kleinste geliefert. Doch diese machen den Schock und das Unverständnis nur umso größer, wie man so kaltherzig morden kann, für eine Sache, die widerwärtig, abstoßend und menschenverachtend ist. Doch das alles lässt der Autor in diesem Buch beiseite und beleuchtet vielmehr ein kleines Schicksal, welches durch die Aktualität der Ereignisse wieder mit Brutalität ans Tageslicht gezogen wird. Und genau dieses Innenleben einer kleinen, zusammengefügten Familie ist ebenso erschreckend erzählt. Irgendwann sitzt man einfach nur da und will dieser Frau zu Hilfe eilen, die da so hilflos ein Kind erziehen will, welches nicht mal ihr eigenes ist. Die Charakterisierung der Personen in dieser Dreierkonstellation ist sehr gelungen, man fühlt regelrecht mit Sella und Alrid mit. Einzig Kim fällt ein wenig schwächer aus, da die Konzentration mehr auf den Eltern liegt. Doch auch er bekommt seine Momente, allerdings nicht so, wie man sich das beim Lesen erhofft. Doch das müsst ihr selber herausfinden.
Das ist nun mein mitterweiler zweiter Autor aus dem Norwegischen gewesen und ich bin immer mehr fasziniert von dieser Art des Erzählens. Das nüchterne Betrachten kleiner Schicksale, ähnlich wie bei Bjarte Breiteig, düster und mit wenig Aussicht auf das gewisse Licht am Ende des Tunnels. So wie das wahre Leben manchmal ist. Man strampelt sich ab für ein besseres Leben oder eine bessere Welt, doch irgendwann reicht die Kraft nicht mehr und das Ziel ist trotzdem nicht erreicht. Die Literatur aus diesem Land werde ich weiterhin im Auge behalten. Vielleicht landen auch noch ein paar Indietitel auf meinem Tisch.

Eivind Hofstadt Evjemo
Vater, Mutter, Kim
Aus dem Norwegischen von Clara Sondermann und Karl Clemens Kübler übersetzt
274 Seiten
24,- Euro

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