Übergang oder Zustand
Die Bewohner haben ihre Häuser verlassen und es stellt sich die Frage, ob wir uns schon in der Dystopie befinden oder nur auf dem Weg dorthin sind. Soweit sich die ersten, stilbildenden Dystopien mit den Auswirkungen des technischen Fortschritts auf die Gesellschaft auseinandersetzen, befindet man sich in Millenium People also in einer anderen, anscheinend vorherigen Stufe. Der Umsturz zur futuristischen Gesellschaft hat noch nicht stattgefunden. Vielleicht kann er auch gar nicht mehr stattfinden – und gerade damit ist die Dystopie schon längst eingetreten. Diese Annäherung ist es die den Roman von J.G. Ballard so unheimlich und spannend macht.
Ein Protest gegen sich selbst
Um herauszufinden, wer seine Ex-Frau mit einer Bombe getötet hat, schleust sich der Psychologe David Markham in die Welt der Protestkultur ein: „Es gibt hunderte von diesen Gruppierungen. Schützt die Killerwale. Rettet das Pockenvirus“. Und obwohl alles mit einer beinahe harmlosen Protestaktion gegen die luxuriöse Haltung von Katzen in Käfigen beginnt, endet sie mit Fußtritten und der Feststellung, dass die meisten Protestierenden „vernünftig und gemäßigt“ sind, es aber „eine maßlosere Randgruppe von Tierrechtsfanatiker“ gibt, die „Bomben unter Autos von Forschern legte und zum Töten bereit war“. Der Prostest ist der Teil des technischen Fortschritts geworden. Mit Blessuren kommt Markham in die Mittelschichtsreservation Chelsea Marina, die ein ganz eigener Käfig aus Eams-Stühlen, Robert-Bresson-Filmen und klassischer Musik ist. „Chelasea Marina ist eine schillernde Erfindung einer Immobilienfirma. Bezahlbarer Wohnraum für die mittlere Führungsriege und Beamte, die gerade so über die Runden kommen.“
Hier sind es nicht die technischen, sondern die sozialen Bedingungen die das Ungeheuer ankündigen, auf das sich diese Gesellschaft zubewegt, die ganz im Zeichen der Aktion steht, des Aktivismus. Sie protestieren mit einem Mal gegen sich selbst und ihre soziale Stellung. Sie überfallen Videotheken und sprengen Museen, sie haben es auf die Institutionen abgesehen, die sie in der Schwebe über dem Abgrund halten, der die Dystopie zu sein scheint, nämlich der Angst vor dem allgemeinen Abstieg. Hier, wo überteuerte Parkplätze die Eingänge zu den Häusern säumen, die nicht länger renoviert, nur noch dazu gedacht scheinen, an noch reichere Investoren verkauft zu werden. In der Ahnung einer Revolution, zu der die friedlichen Mittelschichtler, die die Gesellschaft wie sie besteht so sehr stabilisieren, gar nicht fähig sind: „Das Gesetz zu brechen ist eine enorme Herausforderung für einen Akademiker wie Sie, David. Darum wird die Mittelschicht niemals das wahre Proletariat sein.“
Distinktionen
Das Grauen darüber, wie die Forderungen der Gemäßigten, mit den Maßnahmen der Radikalen in Zusammenhang stehen, wird einem von hier an Seite für Seite begreiflich und erhält mit jeder neu eingeführten Figur – den Bewohner*innen von Chelsea Marina – einen noch groteskeren Ausdruck zähneknirschender Wohlstandsverwahrlosung. Von hier aus ist es nur konsequent, dass das Buch gegen die eigene Situation spricht, und von Anfang an gesprochen hat – gegen das Tate Modern, gegen die Kinos und letztendlich auch gegen sich selbst, gerade weil es so unterhaltsam ist wie ein Film: „Ihre korrumpierenden Fantasien hatten die gesamte gebildete Kaste geblendet, sie mit einem gefährlichen Einheitsbrei versorgt, der die Intelligenzija löffelchenweise vergiftet hatte.“
Nach und nach schält sich aus diesem Klima der Wut und Unzufriedenheit schließlich der Attentäter, den Ballard als neue Kategorie des Terroristen prophezeit. Man nähert sich ihm mit jedem Kapitel und steigt mit David in immer radikalere Kreise der Mittelschichtshölle hinab, bis auch sie sich verändert:
„Die Straße stand in Flammen, aber Chelsea Martina hatte begonnen, über sich selbst, seine Mietrückstände und Kreditkartenschulden hinauszugehen. Schon konnte ich London brennen sehen, ein Freudenfeuer von Kontoauszügen, ebenso reinigend wie der Große Brand von 1666“.
J.G. Ballard – Millenium People
Erschienen bei Diaphanes 2018, übersetzt von Jan Bender, 365 S.
20 €
Kommentar verfassen - Mit dem Absenden des Kommentars geben Sie gleichzeitig ihr Einverständnis zur Datenschutzerklärung auf dieser Seite