James Sallis: Driver

»Das erste Licht des Morgengrauens, die Welt da draußen flickte sich wieder zusammen, während er ihr zuschaute.«

james-sallis-driverDriver fährt, sonst nichts. Er definiert sich durchs Fahren, so sehr, dass er für alle nur Driver ist – seinen richtigen Namen erfahren wir im ganzen Roman nicht. Wie wir auch so vieles andere nicht erfahren: Die Geschichte, die uns James Sallis in diesem 2005 erschienenen und zwei Jahre später ins Deutsche übertragenen Krimi erzählt, setzt sich aus Fragmenten zusammen, aus Splittern einer von Anfang an gebrochenen Biografie, die der Leser selbst in seinem Kopf zusammenfügen muss. Mühsam ist diese Arbeit, nicht jedes Stück fällt an seine Stelle, und immer wieder läuft man Gefahr, sich an den scharfen Kanten zu schneiden – doch das ist es wert. Man wird belohnt mit einem Roman, der so faszinierend unterkühlt und wortkarg ist wie sein Held und den Leser trotzdem – oder gerade deshalb – mit voller Wucht erwischt. Weiterlesen „James Sallis: Driver“

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Mirko Bonné: Nie mehr Nacht

»Sich auflösen, verschwinden, und am Schluss…«

bonne_nachtIra und Markus Lee, Schwester und Bruder, beide haben sie, im übertragenen Sinne, Angst vor der Dunkelheit, damals als Kinder ebenso wie heute als Erwachsene. »Nie mehr Nacht«, das ist ihr Wunsch, ihre Hoffnung, das ist der Titel von Mirko Bonnés fünftem Roman, der im August bei Schöffling & Co. erschienen ist und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. Weil sich diese Hoffnung für Ira nicht erfüllt, sorgt die junge Frau für eine ewige Dunkelheit (oder – je nach Blickwinkel – für ein Ende der Dunkelheit), indem sie sich das Leben nimmt. Die Geschichte beginnt, da ist Ira schon seit einem halben Jahr fort, sie taucht nur in Erinnerungen auf, in Gesprächen, in den Gesichtern anderer Figuren. Im Zentrum steht ihr Bruder Markus, der versucht, ebenfalls die Nacht hinter sich zu lassen, indem er sich selbst zurücklässt, Stück für Stück. Weiterlesen „Mirko Bonné: Nie mehr Nacht“

Donald Ray Pollock: Knockemstiff

»Unser Leben zu vergessen ist das Beste, was wir zustande bringen«

Donald Ray Pollock - KnockemstiffKnockemstiff, dieser seltsam harte Name eines gottverlassenen Kaffs irgendwo in Ohio, ist gerade in aller Munde: Das Feuilleton, die Buchhändler, die Leser – alle sind sie voller Lob für Donald Ray Pollocks gleichnamigen Erzählband von 2008, der soeben in deutscher Übersetzung im Liebeskind Verlag erschienen ist. Zu Recht, denn die achtzehn Storys in Knockemstiff kommen mit einer Wucht daher, dass sie einen umhauen und man allein von der Lektüre so manche Blessuren davonträgt. Und die sind noch harmlos im Vergleich zu dem, was den Protagonisten widerfährt. Ein Blick auf den ersten Satz genügt, um zu wissen, worauf man sich gefasst machen muss: »Als ich sieben war, zeigte mir mein Vater in einer Augustnacht beim Torch-Drive-in, wie man einem Mann so richtig wehtut. Das war das Einzige, was er wirklich beherrschte«. Weiterlesen „Donald Ray Pollock: Knockemstiff“

Thomas Martini: Der Clown ohne Ort

»Im Wahnsinn enthüllt sich der Zustand der Welt«

clownohneortDer »Clown ohne Ort« im gleichnamigen Debütroman von Thomas Martini ist Naïn, einer, der sich verloren hat, der zerbrochen ist an diesem Leben, dieser Welt, keinen Platz mehr in ihr findet: »Ich gehöre hier nicht hin«, glaubt er. Dabei sah alles so gut aus, der bisherige Weg war so vielversprechend, Studium der Politikwissenschaften in Bayreuth und Berlin, Auslandsaufenthalt in Barcelona, Assistenzstelle im Bundestag, Aussicht auf einen Job im Europaparlament. Bis der Bruch kam, die Erkenntnis, dass er sich in das stürzte, was eine Karriere hätte werden können, um nicht die Leere in sich zu hören, nicht mit dem Kaputten in sich konfrontiert zu werden. Er schmeißt alles hin, arbeitet als Mädchen für alles in einem Berliner Theater, verlässt das Haus nicht mehr ohne die grüne Strickmütze seiner Oma, gegen das »Frieren in der Hitze«. »Im Wahnsinn enthüllt sich der Zustand der Welt«, liest Naïn auf einem Plakat: Es könnte sein Leitspruch sein. Weiterlesen „Thomas Martini: Der Clown ohne Ort“

Clemens J. Setz: Die Frequenzen

»Ein einziges, großes Liebesgeständnis an das nichtlineare Wesen der Zeit«

setzEin Familienroman, doch ein ausgesprochen unkonventioneller Familienroman ist dieses 700 Seiten starke Werk von Clemens J. Setz. Es ist, nach Söhne und Planeten, das zweite Buch des 1982 in Graz geborenen Schriftstellers, 2009 wurde es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt, auf die es im vergangenen Jahr auch Setz’ neuester Roman, Indigo, schaffte. Für den Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes erhielt der Autor den Preis der Leipziger Buchmesse. Schon häufig wurde im Zusammenhang mit dem studierten Germanisten und Mathematiker die etwas wuchtige Bezeichnung »Genie« verwendet, aber ganz gleich, ob man dieses Wort nun in den Mund nehmen mag oder nicht: Genial ist das, was ich in den Frequenzen vorfinde, allemal. Weiterlesen „Clemens J. Setz: Die Frequenzen“

Bernhard Aichner: Nur Blau

»… tief in eine fremde, blaue Welt hinein«

aichnerDer 1972 geborene und in Innsbruck lebende Autor Bernhard Aichner ist in seiner österreichischen Heimat vor allem durch die Krimireihe um den Totengräber Max Broll bekannt, deren dritter Band soeben bei Haymon erschienen ist. Aber auch in der Gegenwartsliteratur ist Aichner zu Hause, bislang hat er drei Romane veröffentlicht, darunter Nur Blau, der erstmals 2006 bei Skarabæus erschien und im April dieses Jahres von Haymon neuaufgelegt wurde. Nur blau, das sind die Bilder des 1962 verstorbenen französischen Künstlers Yves Klein: ultramarinblaue »Monochrome«, einheitliche Farbflächen fast gänzlich ohne Strukturen – in manchen seiner Ausstellungen zeigte der Maler nichts anderes, überall nur die eine Farbe. Ebendieser Kunst widmet sich Aichners Geschichte und entfaltet dabei dieselbe Sogwirkung wie Kleins atemberaubend leuchtendes Blau. Weiterlesen „Bernhard Aichner: Nur Blau“

Georges Perec: Ein Mann der schläft

»Warum solltest du so tun, als lebtest du?«

perecNach W oder Die Kindheitserinnerung hat der Zürcher Verlag diaphanes mit Ein Mann der schläft nun einen weiteren Text des 1982 verstorbenen Schriftstellers Georges Perec neuaufgelegt. Bewusst schreibe ich »Text«, nicht »Roman«, denn bei beiden Werken fällt eine Gattungszuordnung schwer. Gerade einmal 110 Seiten umfasst Ein Mann der schläft; von einer auserzählten Geschichte kann keine Rede sein, vielmehr von einer Skizze, von Fragmenten, Momentaufnahmen. Demnach gibt es auch keine stringente Handlung, keine Chronologie; zwar suggeriert die Einteilung in Kapitel eine Ordnung der Geschehnisse, in Wirklichkeit geschieht jedoch außerordentlich wenig in dieser Geschichte. Und genau das ist auch der Gegenstand des Erzählten: Stillstand, Lähmung, eine Flucht in die Apathie und in die Einsamkeit. Weiterlesen „Georges Perec: Ein Mann der schläft“

Sascha Reh: Gibraltar

»Die Schuld ist viel hartnäckiger, als Schulden es sind«

Sascha Reh - GibraltarAlle paar Wochen lädt das Kulturamt Frankfurt zu Lesung und Gespräch in den stattlichen Räumlichkeiten der Historischen Villa Metzler ein: »Frankfurter Premieren« heißt die Reihe, die sich an der Idee des literarischen Salons des 19. Jahrhunderts orientiert. Vorgestellt werden Romane Frankfurter Autoren oder Neuerscheinungen aus hiesigen Verlagen – Ausnahmen von der Regel nicht ausgeschlossen, Ende April etwa wird David Wagner zugegen sein, dessen Werk Leben soeben den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen hat. Im Februar war Sascha Reh zu Gast, moderiert wurde der Abend vom Literaturkritiker Kolja Mensing. Der 1974 geborene Wahlberliner Reh war mir zugegebenermaßen bis dato kein Begriff; dank Lesung, Gespräch und Lektüre weiß ich aber nun: Diesen Autor im Auge zu behalten lohnt sich. Weiterlesen „Sascha Reh: Gibraltar“