Langeweile, Müßiggang, Herumhängen: 27 Buchtipps für ‚IDLE – Salon und Journal‘

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Rumhängen. Abhängen. Durchhängen:

Stefan Mesch, Literaturkritiker für u.a. ZEIT Online und Deutschlandradio Kultur, empfiehlt 27 Bücher über Menschen, die nicht von der Stelle kommen.

Straffe, spannende Lektüren…

…über Stillsteher, Trödler, Abgehängte, Taugenichtse, faule Hunde und dekadente Schnösel.

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01: faul, krank, lieblos – zwei Schlaffis in New York

Gabe verkauft Bücher. Eliza studiert Kunst. Sie turteln durchs New York der 90er: Ein seichtes Pärchen-Idyll wie aus „Friends“. Doch Gabe war früher Dealer; Eliza hat bis heute wahllosen, schlechten Sex. Je besser sich die beiden kennen lernen, desto weniger sympathisch sind sie sich. Aber nochmal Schluss machen? Extra umziehen? Alleine dastehen schon wieder? Gabe und Eliza sind zu träge, zu enttäuscht und zu arm, um ihr Leben umzukrempeln: Sie müssen sich entscheiden, was feiger ist – weiter zusammen rumdümpeln? Oder weg rennen, in neue Sackgassen?

Ein Großstadt- und Verfallsroman über müde, nicht mehr junge Menschen und ihre dreckigen Kompromisse im Job, im Bett und in der Kunst. Ein großes und überraschend ergreifendes Buch über eine nicht-sehr-große Liebe.

Joan Silber: „Lucky Us“ (2001)

Lucky Us

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02: jung, plump, festgefahren – eine Mörderin versackt in der Provinz

Ihr Vater ist im Ruhestand, ihre Schwester eine alte Jungfer, und die junge Adrienne hat einen langweiligen Sommer vor sich. In Liebesromanen stürmt an dieser Stelle ein fescher junger Mann ins Dorf und trägt die Heldin in ein neues Leben. Aber niemand kommt – also steigert sich die gelangweilte Adrienne in eine unerwartete Liebe zu einem Arzt aus der Nachbarschaft hinein. Als ihre Familie herausfinden will, was sie so aus der Bahn wirft, kommt es zu einem Streit. Am nächsten Morgen wird Adrienne von der Haushälterin geweckt: am Fuß der Treppe liegt die Leiche ihres Vaters.

Julien Greens Debüt, verfasst mit 27, zeigt das stumpfsinnige Leben einer Tochter aus gutem Hause und die Ungeduld, die an ihr nagt. Überraschend beschleunigt der Roman und wird zum schnellen, bedrückenden Duell zwischen einer unzufriedenen Frau und ihrer Umwelt: Spannend, quälend, klaustrophobisch – Adrienne könnte Emma Bovarys böse kleine Schwester sein.

Julien Green: „Adrienne Mesurat“ (1927)
Adrienne Mesurat

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03: einsam, verknallt – und Kidnapper aus Langeweile

Vladimir Nabokov schrieb tolle Romane über Missbrauch… und Langeweile: Lolita fläzt sich über weite Teile ihres Buchs in Autos oder Motelzimmern und quengelt. Ada und Van, ein dekadentes Inzest-Liebespaar, hat sechs oder sieben Jahrzehnte lang nur an sich selbst Interesse. Doch weil Nabokov Kalauer und Bildungsquatsch, elegante Sprache und obskure Worte liebt, kalauern, schillern und schwafeln auch seine Figuren. Langweilig liebt, denkt, mißbraucht und spricht dort niemand.

John Brandons „Citrus County“ spielt im schwülen Florida, und den Figuren fehlen Eleganz und Charisma, Stil und Selbstbewusstsein. Ein unsympathischer Dussel-Junge verliebt sich in eine steife Mitschülerin. Und entführt dann – nur, um zu sehen, was passiert – ihre kleine Schwester. Er sperrt das Kind in einen Bunker im Wald, geht los… denkt nicht gern weiter nach… und hat die nächsten Tage lang Dates, Schulstress und die üblichen Fänger-im-Roggen-Konflikte. Während im Off ein Kind langsam verhungert: Ein atemloses High-School-Buch, das Grausamkeiten nicht überspitzt und damit aufpoliert. Sondern in grausamer Seelenruhe zeigt: auch Menschen ohne Charisma und Witz können ihre Welten zertrümmern. Nebenbei. Aus Langeweile.

John Brandon: „Citrus County“ (2010)
Citrus County

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04: faul, wütend, überreizt – eine abgehängte, ekelhafte Frau

„Ich habe Claude verlassen, diese Ratte aus Frankreich“, schreit Ich-Erzählerin Harriet schon zur Begrüßung: Sie ist mitteljung, mittelklug, ohne Geld… und endlich, endlich wieder frei und ungebunden. Also zieht sie durch New Yorks Pensionen und Hotels und genießt ihre Tage als umschwärmter Single. Sie lädt sich auf fremde Parties ein, will von Fremden hofiert und ausgeführt werden und hofft auf ein paar glänzende, luxuriöse Jahre. Immer lächeln. Zwinkern. Trinken. Dann kommt der Mann und das gute Leben… oder?

So versucht Harriet, die pampigste Schachtel seit Helga aus „Hey Arnold“, das wütendste Wrack seit Jessa aus „Girls“, über 200 Seiten lang, Lesern, Männern und sich selbst einzureden, dass sie nirgendwo lieber wäre als allein und ohne Geld, auf dem Weg ins Abseits, mitten in New York. Tatsächlich geht ihrer Tirade schnell die Luft aus. Viele Fremdschäm-Szenen laufen ins Leere: Man kann das Buch nach 40 oder 60 Seiten weg legen. Was zählt, ist die Stimme dieser ätzenden Ich-Erzählerin. Laut. Bräsig. Passiv-aggressiv. Ein blödes Huhn, das man abwechselnd in den Arm nehmen will… und einfach stehen lassen.

Iris Owens: „After Claude“ (1973)

After Claude

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05: desinteressiert, verwöhnt, egozentrisch – ein Journalist ohne Engagement

Guy Delisle zeichnet autobiografische Comicreportagen über Krisengebiete, Diktaturen, komplexe politische Räume: Burma und China, Nordkorea und Israel. Als Ehemann einer einer Ärztin bei Médecins sans Frontières sitzt der Kanadier seit Jahrzehnten in Gäste- und Mietwohnungen auf der ganzen Welt, versorgt zwei Kinder und erkundet fremde Kulturen: ihre Supermärkte und Kinderspielplätze, ihre Eisdielen und Schwimmbäder. Wo kann man faulenzen? Wo ist das Essen billig, wo nerven keine Fremde, Bettler oder Touristen?

Delisle ist der Christian Kracht der politischen Graphic Novels: Abgründe tun sich auf. Kulturen zerbrechen. Ideologien fressen Orte und Menschen. Doch zwischendrin stehen käsig-weiße Trottelbubis mit Kakihosen und Sonnenstich und suchen einen schönen Liegestuhl oder den perfekten Pinsel. Aggressiv apolitischer politischer Journalismus: die wütenden, klugen, schlimm witzigen Reiseberichte einer matten, faulen Socke.

[„Aufzeichnungen aus Birma“ ist am besten – aber „Jerusalem“ hat die meisten Gammel- und Faulenz-Szenen.]

Guy Delisle: „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ (2008)
Aufzeichnungen aus Jerusalem

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06: feige, grausam, unbeliebt – ein Schaumschläger und Schulversager 

1996 warb RTL 2 mit dem Gesicht von Oliver Petszokat und einem einzigen Satz  – „FRITZ ist eine faule Sau“ – für die neuen Seifenoper „Alle zusammen – jeder für sich“. Zur selben Zeit wiederholte der Sender viele frühen Filme von Leonardo DiCaprio, Monat für Monat – auch das Ich-und-mein-Stiefvater-Melodram „This Boy’s Life“ über einen verkrachten, feigen, unsicheren, ungeliebten und also typischen Jungen in unsicheren Verhältnissen (50er Jahre! Geschiedene Mutter! Tiefstes Provinznest! Alkohol!)

Tobias Wolffs Autobiografie zeigt nur die ungeschicktesten, unsympathischsten Jahre seines Lebens. Ein halbstarker Schwätzer, der sich viel Ärger verdient und aus dem nichts zu werden scheint. Ein selbstkritisches, kluges Buch über Problemkinder; eine richtig faule Sau, über die man seitenlang die Augen rollt… bis man bemerkt: Huch. Jetzt ist er mir doch ans Herz gewachsen, der pubertäre Tropf. [Jeanette Walls‘ „The Glass Castle“ beschreibt ein ähnliches Milieu und Kinder in ähnlichem Chaos, aber bleibt dabei süßlicher, unreflektierter.]

Tobias Wolff: „This Boy’s Life: Das Blaue vom Himmel“ (1982)

This Boy's Life
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zehn Klassiker, die ich außerdem empfehle:

07: „Ghost World“, Daniel Clowes (1998) …weil hier zwei beißend kluge Loser-Mädchen grandios dummes Zeug erzählen und ausprobieren – aus schierer Langeweile.

Ghost World

08: „Mrs. Bridge“, Evan S. Connell (1958) …weil hier eine geistig träge, einfalls- und fantasielose Hausfrau, die immer nur dazugehören und alles richtig machen will, alles, alles falsch macht.

Mrs. Bridge

09: „Glamorama“, Bret Easton Ellis (1998) …weil „American Psycho“ verboten viel Spaß bringt Echte Langeweile, echter Ennui und Wohlstandsekel, echten Widerwillen gegen Ellis gibts nur in diesem schlaffen, freudlosen 500-Seiten-Klotz.

Glamorama.

10: „Der Zauberberg“, Thomas Mann (1924) …weil sich Figuren hier zu Tode langweilen – aber Leser*innen 1000 Seiten lang die Augen verdrehen und hämisch lachen. Ein überraschend leichter, spöttischer Roman.

Der Zauberberg

11: „Geschlossene Gesellschaft“, Jean-Paul Sartre (1944) …weil hier zwei Frauen und ein halbes Hemd aus Langeweile, Selbsthass, Weltekel und Frustration kämpfen, sticheln, schreien und lieben.

Geschlossene Gesellschaft

12: „Jakob von Gunten“, Robert Walser (1908) …weil ich nach drei Wochen auf dieser Wiener Knabenschule gerufen hätte: „Ziehen wir bitte, bitte lieber raus und führen einen Weltkrieg? Bitte?“

Jakob von Gunten (SZ-Bibliothek, #96)

13: „Der salzige Fluss“, Jan Bauer (2014) …weil mich Reise- und Rucksackkitsch langweilen – aber mir diese schlichte deutsche Graphic Novel über Backpacking in Australien zum ersten Mal plausibel machen konnte, was man gewinnt, wenn man in einer Landschaft ohne Reize und Stimulation auf sich selbst zurück geworfen wird.

Der salzige Fluss

14: „Schimmernder Dunst über CobyCounty“, Leif Randt (2011) …weil Leif Figuren zeigt, denen nichts fehlt und fast nichts passiert: Menschen in der Wellness-Oase, deren größte Angst bleibt, nicht lässig und effortless genug zu wirken.
Schimmernder Dunst über Coby County

15: „Das Artefakt“, Andreas Brandhorst (2012) …weil ich bis heute nicht über den Antiklimax dieses fast 700 Seiten dicken, sehr vielversprechenden Science-Ficton-Epos‘ hinweg komme: Die Hauptfigur muss so schnell wie möglich die Polarregion einer fremden Welt erreichen. Als das sehr schnelle Raumschiff sabotiert wird, wechselt sie auf ein nicht-sehr-schnelles-Schiff, dann auf einen langsamen Frachter, dann auf noch simplere Verkehrsmittel… und kurz vor knapp tuckert sie schließlich mit einer altmodischen, altersschwachen Eisenbahn: ein Hard-Sci-Fi-Thriller wie eine verwirrte Schildkröte  der sich selbst runter bremst aufs Tempo von „Die schönsten Bahnstrecken Europas“.

Das Artefakt

16: „1000 neue Dinge, die man bei Schwerelosigkeit tun kann“, Jenni Zylka (2003) …weil es hier trotz tollem Titel keine einzige Idee für gelangweilte Astronauten gibt. Das enttäuschendste Buch seit „To Kill a Mockingbird“.
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homer mockingbird

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elf Titel, vorgemerkt… aber noch nicht selbst gelesen:

17: „How to be idle“, Tom Hodgkinson (2004) Fast 300 Seiten über die Vorteile und Freuden des Nichtstuns, in Bereichen wie „sleep, work, pleasure, relationships“.

18: „Big Ray“, Michael Kimball (2012) Nach dem Tod seines übergewichtigen Vaters denkt ein Mann über dessen letzte Jahre nach: Zeit, die Big Ray vor allem im Lehnsessel verbrachte.

19: „Oblomow“, Iwan Gontscharow (1859) Ein antriebsloser russischer Aristokrat dämmert auf seinem Gutshof dahin, über Jahrzehnte. Aufstehen? Handeln? Oder doch lieber liegen bleiben?

20: „There but for the“, Ali Smith (2011) Totale Verweigerung? Ein Krimi? Während eines Abendessens unter Freunden schließt sich ein fremder Gast im Schlafzimmer ein… und weigert sich, jemals wieder zu gehen.

21: „The Sound of a wild Snail eating“, Elizabeth Tova Bailey (2010) Eine bettlägerige Schriftstellerin beobachtet eine Schnecke und vertief sich in das Tier und seine Geschichten: Naturwissenschaft, Memoir und Reflektion zu Müßiggang, Beobachten und Bremsen.
How to Be Idle . Big Ray . Oblomow . There but for the . The Sound of a Wild Snail Eating

22: „Muße: Vom Glück des Nichtstuns“, Ulrich Schnabel (1908) Ich las diesen Artikel / Auszug über Nichtstun und Kreativität. Stilistisch reißt mich das nicht mit. Trotzdem kein schlechter Text: Link.

23: „For her own Good: Two Centuries of Expert’s Advice to Women“,Barbara Ehrenreich, Deirdre English (1976) Effektiv leben? Alles richtig machen? Sich selbst optimieren? Das Buch erzählt, wie Frauen mit Gesundheits- und Expertentricks gegängelt wurden…. „zu ihrem eigenen Besten“.

24: „An Attempt at ehausting a Place in Paris“, Georges Perec (1975) Georges Perec setzt sich ein Wochenende lang an eine Straße und notiert nur die langweiligen und uninteressanten Dinge, die er dort zu Gesicht bekommt.

25: „Codex Seraphinianus“, Luigi Serafini (1981) Surreale und unsinnige, absichtlich zweckfreie Diagramme, Illustrationen und Schaubilder.

26: „Double Game“, Sophie Calle und Paul Auster (2000) Paul Auster macht eine reale Performance-Künstlerin zur Vorlage für eine Romanfigur. Die Künstlerin liest den Roman und macht die Performances der erfundenen Kopie zur Vorlage für neue, eigene Performances. Ein Spiel um Identität, Experimente und Alltag, neu erlebt.

Muße: Vom Glück des Nichtstuns . For Her Own Good: Two Centuries of the Experts' Advice to Women . An Attempt at Exhausting a Place in Paris . Codex Seraphinianus . Double Game

27: „She got of the off the Couch and other Heroic Acts from Mooreland, Indiana“, Haven Kimmell (2005) Eine Comedy-Autorin erinnert sich an ihre behäbige Mutter.

She Got Up Off the Couch: And Other Heroic Acts from Mooreland, Indiana

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