Elena Ferrante: „Meine geniale Freundin“ & die „Neapolitanische Saga“

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Zwei Leben aus Kampf und Aufstieg

Die wichtigste Autorin Italiens bleibt anonym – hinter dem Pseudonym „Elena Ferrante“.

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Seit 1992 schreibt Elena Ferrante Romane über störrische, kluge, einsame Frauen. In Interviews, die sie nur schriftlich beantwortet, behauptet sie: Sie selbst ist eine Frau aus Neapel, hat Kinder und war verheiratet. Sie studierte klassische Philologie. Doziert an Unis. Und sie behauptet: Ein Roman steht für sich. Öffentlich über den Verfasser und seinen Hintergrund zu sprechen, lenkt nur ab.

2011 bis 2014 erschien ein Großroman Ferrantes in vier Bänden: das „Neapel-Quartett“ um die Freundinnen Elena, Tochter des Pförtners, und Lila, Tochter des Schuhmachers, beide geboren 1944, und ihre komplizierte, jahrzehntelange Freundschaft.

Fast 2000 Seiten, erzählt von einer melancholischen Streberin, die durch lebenslanges Pauken, Fleiß und Ambition in die gebildete Oberschicht wechseln will. Und über ihre noch klügere, impulsive Freundin und Rivalin Lila – die überraschend andere Chancen nutzt, um aus- und aufzusteigen.

Viel Mundpropaganda und die Begeisterung von James Wood, Kritiker beim New Yorker, machten die Bücher in den USA zu Bestsellern. Ab Herbst 2016 erscheint der Überraschungserfolg auf Deutsch, bei Suhrkamp; vier Bände in 12 Monaten. Buch 1, „Meine geniale Freundin“, erzählt die Grundschul- und Pubertätszeit von Elena und Lila: Armut, Frauenhass, das langsame Wirtschaftswunder der 50er Jahre.

„Wir Frauen sind ständig in Versuchung, aus der Deckung zu treten, weich zu werden“, erklärte Ferrante der New York Times, „aus Liebe oder aus Erschöpfung, aus Mitleid oder Güte. Doch wir sollten das nicht tun – denn von einem Moment auf den nächsten können wir so alles verlieren, das wir erreicht haben.“

Die Geschichte von Elena und Lila beginnt als recht simpler Bildungsroman. Eine schwierige Frauenfreundschaft, naiv und süffig erzählt. Ab Band 2 wird die Geschichte politischer, soziologischer, explizit feministisch. Ein Panorama der 60er, 70er und 80er Jahre mit einem Dutzend Figuren aus einem Arbeiterviertel – Mafiosi und Kommunisten, Handwerker und Frauen, zu schnell in eine Mutterrolle gedrängt: Lebenswege, so verschlungen (und manchmal: dusslig überkonstruiert) wie in der „Lindenstraße“.

Der Hype, wachsende Erfolg der vier Bücher hat mehrere Faktoren: Der Norweger Karl-Ove Knausgard schrieb seit 2009 in sechs persönlichen, autobiografischen Bänden über Männlichkeit und Scheitern. Ferrantes Romane machen zwei lange Frauenleben greifbar – in ähnlich simpler Sprache und ähnlich vielen intimen, mitunter hässlichen Details.

Die farbenfrohen, kitschigen Cover der US-Ausgabe versprechen: Hier geht es um Mütter, Töchter, das pralle Leben in Süditalien. Auch Suhrkamp setzt auf ein recht kitschiges Titelmotiv. Literarisch spielt Ferrante in einer ähnlichen Gewichtsklasse wie Suhrkamp-Autorin Isabel Allende: Die Chancen stehen gut, dass das Quartett ein Mainstream-Longseller wird wie Allendes „Geisterhaus“.

Ebenfalls im Herbst erscheint „Fragments“ in den USA, eine Sammlung von Ferrante-Essays und -Interviews. Ob die Autorin tatsächlich eine Frau ist? 1944 geboren, wie ihre Figur Elena – oder deutlich jünger? Eine ältere Feministin, Akademikerin aus einfachen Verhältnissen – oder ein Nachgeborener, der oder die Familiengeschichte literarisch auf- und umarbeitet?

Die vier Bände sind am besten, wenn sie nah und persönlich über Klassismus, Abstiegsangst und Aufstiegschancen, die vielen feinen Unterschiede in den Milieus Italiens erzählen. Ob „persönlich“ hier bedeutet: eins zu eins erlebt, vor mehreren Jahrzehnten? Egal. Besonders ab Band 2 klingen Wut, Hoffnung, feministischer Furor der Erzählerin nachvollziehbar – und authentisch.

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Band 1 bis 4 – meine Leseeindrücke:

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01_Welche Sprache? Die deutsche Übersetzung von Karin Krieger klingt sehr gut – doch ich kenne bisher nur die Leseprobe (Link). Die US-Version wirkt oft recht trocken, technisch, ohne besonderen Rhythmus: keine Empfehlung. Freunde von mir mochten das italienische Original… aber Stimmen im Netz klagen über Stilblüten und viele unnötig hakelige Formulierungen (auch mein Eindruck in der US-Übersetzung) und sagen, US-Übersetzerin Ann Goldstein habe das Buch auf ein anderes Niveau gehoben: „Elena Ferrante’s writing is better in English than in Italian“.

02_Wo anfangen? Band 1 erzählt Elenas und Lilas Kindheit und frühe Jugend, bis ca. 1961 (die Figuren sind 16); Band 2 die Jahre bis 22 (1966); Band 3 die Jahre bis 32 (1976), und Band 4 vor allem die Zeit von 1980 bis ca. 1986 – und, in einem Epilog, bis ca. 2010.

03_Band 1 ist der schlechteste Band. Ich-Erzählerin Elena und ihre mürrische, rebellische, zunehmend attraktive Freundin Lila wollen der Armut, ihren furchtbaren Arbeiterfamilien und dem von der Camorra kontrollierten Viertel entkommen: Elena mit guten Noten, einem Gymnasialabschluss (und viel Streber-Arroganz), Lila mit einem Mann (der, wie sich am Ende des Romans, bei einer großen Hochzeit herausstellt, Mafia-Connections nutzt und alles tun wird, um weiter aufzusteigen).

Der Roman ist unterhaltend, die Kapitel kurz und oft pointiert, mit überraschenden zwischenmenschlichen Cliffhangern: die Szenen selbst sind seicht, mit klar verständlichen Konflikten. Doch Ferrante springt oft mehrere Monate hin und her oder deutet Entwicklungen an, die erst 50 Seiten später auserzählt werden: die Timeline und die Vor- und Rückgriffe sorgen für eine gewisse erzählerische Komplexität und ein paar Spannungsmomente… wirken aber aufgesetzt, oft albern: Die Geschichte ist viel weniger kompliziert, als die vielen schein-komplexen Zeitsprünge suggerieren.

04_missglückte Enthüllungen: Es gibt über 20 wichtige Figuren – mit Namen wie Nino, Gino und Rino – und alle kommen in Band 1 zu kurz: Mitschüler, Eltern, Lehrer sind oft überraschend besser oder schlechter, als Ich-Erzählerin Elena bisher vermutete… was Ferrante jedes Mal für eine RIESENenthüllung hält. Doch als Leser bleibe ich teilnahmslos, weil diese Figuren kaum entwickelt sind, ich sie manchmal nicht auseinanderhalten kann: Antonio? Alfonso? Besonders die Mütter und älteren Frauenfiguren sind ein schlechter Witz: knorrige italienische Mama-Klischees, die nichts zu sagen haben – oder sich nie äußern.
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05_auch Lila wirkt recht blass: eine beste Freundin, deren Motivation man oft kaum versteht – und die mir ausgedacht scheint. Implusiv. Meist absurd unberechenbar. Die egoistische, kleinliche Elena dagegen funktioniert als Erzählerin recht gut: eine Figur, die mir plausibel ist und im Lauf von vier Büchern interessante, nachvollziehbare Entwicklungen macht. Lila dagegen sehe ich als plot device – um jede Ordnung zu stören, überraschend freche oder sentimentale Kommentare abzufeuern und Familien, Machtstrukturen etc. immer wieder neu durchzumischen. Keine Figur. Sondern ein (ausgedachtes) Hilfsmittel gegen den Stillstand.
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06_Schade, wie eng und ahnungslos die Grundschulzeit erzählt wird: Neapel liegt in einer Bucht – doch Elena war nie am Meer, kennt die U-Bahn nicht, bewegt sich ca. 12 Jahre lang nur durch ein paar Straßen und weiß auch mit 15 noch nicht, was z.B. ein Student ist. Das nehme ich Ferrante nicht ab.
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07_Am schlimmsten/ärgerlichsten: Die Bücher haben kaum Beschreibungen; deshalb fehlt den Zimmern, Straßen, Handlungsorten jede Atmosphäre (bis plötzlich, auf den letzten Seiten von Band 4, manisch verschiedene Neapel-Sehenswürdigkeiten und Straßennamen genannt werden: too little, too late). Ferrante jongliert mit zu vielen flüchtig bleibenden Nebenfiguren. Lässt sich viel Zeit, die Sympathie, Konkurrenz, Stimmungsschwankungen zwischen Lila und Elena auszuleuchten. Doch das Italien, Neapel, das beim Lesen in meinem Kopf entsteht, bleibt in Band 1 sehr dürftig: Erst mit Band 2 wird das Quartett zum halbwegs gelungenen Zeit- und Epochenroman. Band 1 wirkt, durch die Beschreibungsarmut, in der US-Version kaum literarisch – eher wie der Episodenführer einer unnötig komplizierten Telenovela-Storyline. Oder die technische Wikipedia-Zusammenfassung eines besseren Buchs. Lebenswege, die auf melodramatische Weise ständig wilde, aber uninteressant ausgedachte Kurven schlagen: Mal geht es Lila besser, mal Elena. Eigentlich… egal.
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08_Band 2 ist deutlich besser – bis auf die über 200 Seiten, in denen drei Mädchen und zwei Studenten, die sich kaum kennen, mögen, verstehen, sich nichts zu sagen haben und nichts geben können/wollen, einen zerquälten Badeurlaub absitzen. Wären die Strand-von-Ischia-Kapitel kürzer, Band 2 wäre mein Lieblingsband.
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09_In Band 3 werden Gewerkschaften, Kommunisten, Linksterroristen wichtig – doch viele Entwicklungen und politischen Hintergründe bleiben schwammig. Andererseits mag ich, wie Elena versucht, im Bildungsbürgertum anzukommen, ernst genommen zu werden… doch immer wieder an den feinen Unterschieden scheitert. Interessante Kapitel über Standesdünkel!
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10_Band 4 befriedigte und freute mich, über weite Strecken: Ich mag, dass sich hier keine Frauenfigur auf Männer verlassen kann, alle sich ihr Glück immer neu erkämpfen, selbst schaffen müssen. Und ich mag, dass Elena als Intellektuelle souveräner wird – zunehmend kluge, differenzierte Dinge sagt über Partnerschaften, Schreiben, Italien, Kinder: Erst gegen Ende dieser 2000 Seiten höre ich der Ich-Erzählerin wirklich gerne zu. Die Kinderfiguren in Band 4 und ihre Probleme und Verwicklungen dagegen blieben mir zu flach; und ich bin überrascht, wie viele Nebenfiguren sterben, eher lustlos von der Bühne gewischt werden. Besonders Tinas Geschichte überzeugt mich nicht: Lila rutscht immer weiter ins Abseits, durch beliebig wirkende Schicksalsschläge. Ich sehe da keinen Character-Arc, Figurenentwicklung. Sondern Tragödien, auf die Lila zunehmend beliebig und oberflächlich reagiert – eine Hauptfigur, reduziert zur flachen, traurigen Nebenrolle. Auch die große Rahmenhandlung um Lilas plötzliches Verschwinden mit fast 70 wird in Band 4 schlecht/kaum aufgelöst.
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11_2000 Seiten lang… immer das selbe: Ein Wohnviertel mit ca. 30 Figuren? Okay. Ein Großroman, der zwei Leben über fast 60 Jahre erzählt – doch in dem nur ca. 50 Figuren immer wieder Partner tauschen, zurückkehren, die Funktionen wechseln? Platt! Pro Buch gibt es sicher 10 Kapitel, die mit der… Möchtegern-Überraschung enden, dass eine Person, die wir bereits kennen, ein Zimmer, Büro, Fest etc. betritt und zeigt: Ich wohne jetzt hier. Oder: Ich bin der neue Partner. Erst wirkt das „Lindenstraße“-haft, konstruiert. Dann zunehmend albern, hilflos: Glaubt Ferrante, wir wären… geschockt? Begeistert? Ich rollte ab Band 2 meist nur die Augen.
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12_Freundinnen, die sich verweigern: Elena will unbedingt mit Lila sprechen – doch geht ihr aus dem Weg. Lila braucht Hilfe – doch meldet sich nicht. Elena hat wichtige Fragen – doch ignoriert sie, monatelang. Elena versteht, dass Lila Hilfe braucht – doch stellt sich tot. Verstanden: Es geht um Neid, Ambivalenz, Selbsthass und Hassliebe. Doch dreimal pro Kapitel die Ich-Erzählerin sagen zu hören: „Ich wollte unbedingt etwas sagen. Aber dann ging ich einfach weg und sagte gar nichts.“ …wird sehr schnell trost- und witzlos..

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Bonus / mehr Details:

Am 15. Juni 2016 stellte ich die Bücher bei Deutschlandradio Kultur vor, im Magazin „Lesart“, im Gespräch mit der Italien-Expertin und Literaturkritikerin Maike Albath.

Den Beitrag kann man hier (Link) nachhören.

Vor jedem Deutschlandradio-Gespräch schicke ich der Redaktion und der Moderatorin ein paar Notizen, Stichworte.

Hier meine kurze Materialsammlung zu Ferrante:

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Elena Ferrante ist ein Pseudonym. Aus (schriftlichen) Interviews wissen wir, dass die Autorin ca. 70 ist, in Neapel aufwuchs, heute in Italien lehrt oder unterrichtet, mehrere Kinder hat, verheiratet war. Wahrscheinlich hat sie in Pisa studiert, klassische Philologie. Die Professorin Marcella Marmo, auf die all das zutrifft, streitet ab, Ferrante zu sein.
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Ferrante veröffentlicht seit 1992 – Prosa über unglückliche, aber störrisch-starke Frauen mit Abstiegsangst und Aufstiegs-Ambitionen in Italien, bisher ca. 5 Romane (je nach Zählweise: sie selbst sieht das Neapel-Quartett als EIN Buch in vier Bänden). Bei Veröffentlichung des ersten Romans, 1992, entschied sie sich für ein Pseudonym, um Personenkult zu entgehen und den Fokus auf den Text zu lenken:

„This choice created a small polemic in the media, whose logic is aimed at inventing protagonists while ignoring the quality of the work, so that it seems natural that bad or mediocre books by someone who has a reputation in the media deserve more attention than books that might be of higher quality but were written by someone who is no one. But today, what counts most for me is to preserve a creative space that seems full of possibilities, including technical ones. The structural absence of the author affects the writing in a way that I’d like to continue to explore.“

Die vier Neapel-Romane erschienen 2011 bis 2014 in Italien, 2012 bis 2015 in den USA. In Deutschland erscheinen alle vier Bücher in rascher Folge bei Suhrkamp, im September 2016, Februar 2017, Sommer (Juni?) 2017 und September 2017, übersetzt von Karin Krieger. Frühere Romane von Ferrante sind auf Deutsch erschienen, vor allem bei Ullstein/List und werden jetzt nochmal neu als Suhrkamp-Taschenbuch veröffentlicht. Die Rechte zur Neapel-Saga waren sehr gefragt, mehrere deutsche Verlage haben geboten, Suhrkamp setzt große Hoffnungen in die Bücher. Mehr dazu u.a. bei Jochen Kienbaum/Lustauflesen.de.
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Ich sehe vier große Faktoren für den Erfolg der Romane:
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Die Autorin: Die vier Neapel-Romane sind sehr persönliche Erinnerungs- und Entwicklungstexte über Armut, Ambition, Dreck und Gefälle/Konflikte in Neapel. Zwei Frauen und ihr schwieriges Coming-of-Age, ihre lebenslange schwierige Freundschaft, ihre Probleme mit Sexismus, Klassismus, der Camorra und Vergewaltigungen/Missbrauch. Die Bücher werden mit Karl-Ove Knausgards „Mein Kampf“-Zyklus verglichen und sind in den USA noch erfolgreicher. Eine Autorin, die sehr ungeschminkt und persönlich erzählt und oft die eigene Kleinlichkeit/das eigene Versagen ausleuchtet… aber eben, anders als Knausgard: dabei so anonym und geheimnisvoll bleibt wie z.B. Thomas Pynchon.
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Begeisterung in den USA: Eine Autorin des New Yorker, Ann Goldstein, hat die Bücher übersetzt, und Kritiker und Kollege James Wood hat Band 1 und 2 dann im New Yorker gefeiert, 2013, und damit erfolgreich gemacht (Woods Frau, Claire Messud, schreibt GANZ ähnliche, feministische Bücher über motzige US-Frauen).
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Und: Die Bücher erschienen im (italienischen, aber auf den nordamerikanischen Buchmarkt spezialisierten) Verlag „Europa Editions“, der sehr oft sehr gute mittel-anspruchsvolle Unterhaltungsromane aus Europa in den USA zum großen Erfolg macht. (Eine deutsche Autorin im Programm: Alina Bronsky) Ich vertraue „Europa Editions“ sehr und weiß: wenn ich eine Strandlektüre mit Europa-Flair will, melancholisch und halbwegs klug, ist das der richtige Verlag.
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(…was aber auch heißt: Für Suhrkamp sind diese Bücher eigentlich zu süffig, zu mainstream. Die Autorin aus dem Suhrkamp-Programm, an die ich denken muss, ist Isabel Allende.)
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In Italien sind auch Ferrantes frühere Romane Erfolge, vor allem durch Verfilmungen. Auch eine über 30teilige Verfilmung des Quartetts ist geplant, doch Literaturpreise hat sie kaum gewonnen – vielleicht, weil sie anonym bleibt
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Ein Marketing-Push in Deutschland: Im Mai hat Suhrkamp 15 Literaturblogger nach Berlin eingeladen und das Buch dort verschenkt. Das Verlagshaus, berichten die Blogs, sei vom „Ferrante-Fieber“ ergriffen und kämpfe darum, das Buch zum Erfolg zu machen. Ähnlich hat Dumont 2016 Anne Köhlers „Ich bin gleich da“ unter Bloggern beworben, Kiepenheuer & Witsch JJ Abrams‘ „Das Schiff des Theseus“.
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„Alle Mitarbeiter bei Suhrkamp sind angeblich heiß gemacht worden auf Elena Ferrante, alle mussten sie lesen und diskutieren. […] Sechs Seiten sind Ferrante in der Vorschau gewidmet, normal sind zwei. Das Buch ist der erste Teil einer Tetralogie, die weltweit bereits für höchstes Aufsehen und Aufregung gesorgt hat und nun auch in deutscher Sprache (übersetzt von Karin Krieger) erscheint. Nach einem, wie [Lektor Frank] Wegner betonte, dramatischen und heißen Wettrennen um die Rechte. 
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[…] Ich darf Ferrante schon jetzt lesen, aber noch nichts verraten. Nur soviel: trotz der Anmutung des Covers, es ist kein »Frauenbuch«. Dass verlagsintern alle Mitarbeiter, wirklich alle, so massiv auf einen Titel heiß gemacht und eingeschworen werden, ist selbst bei Suhrkamp eine Novum und sehr ungewöhnlich. Ich bin gespannt, wie sich das entwickelt, ob sich der große Einsatz lohnt, ob das Elena-Ferrante-Fieber auch die deutschen Leserinnen und Leser infiziert?“
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Journalisten schreiben viel über die (Nicht-)Person Ferrante – aber ein Leseexemplar des Buchs will mir der Verlag erst ab Ende Juni geben: Blogger sind in diesem Fall bevorzugt. Ich kenne bisher nur die Leseprobe der Übersetzung – durch Karin Krieger – und fand sie exzellent: Ich glaube, diese Bücher werden auf Deutsch VIEL besser klingen als die US-Version.
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Auch meine Buchhandelsfreunde lesen es gerade, als Vorab-Exemplar, und sind wohlwollend – doch eine Buchhändlerin in meinem Freundeskreis fragt sich z.B. auch, ob die Romane bei einem großen Konzern nicht noch besser aufgehoben wären – um im Stil von „Afterlove“ oder „Shades of Grey“ etc. noch breiter gepusht zu werden.
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Bleibt die Frage: Wollen wir das? Drei, vier sehr dominante „Bücher der Saison“, über die alle sprechen… und Ferrante jetzt um jeden Preis als großes Buch des Herbstes? Band 2 wäre dafür ein okayer Kandidat, weil die Figuren älter sind und (interessantere) eigene Entscheidungen treffen. Band 1 – süßliche Kinder in trostloser Umgebung, monoton erzählt – ist für mich eigentlich keine sehr gute Strandlektüre, kein Wohlfühlbuch… aber auch keine hohe Literatur.
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Thema und Figuren: ein feministischer Epochen- und Milieuroman. Es geht um Ich-Erzählerin Elena, Tochter des Pförtners, und ihre Kindheitsfreundin Lila, Tochter des Schuhmachers. Elena ist mollig, strebsam, unsicher und kämpft sich immer weiter nach oben, weg von ihrer Familie. Sie beneidet ihre Freundin Lila – störrisch, kalt, vielleicht bipolar – die besser schreiben kann, klüger ist, schöner… aber mit 12 von der Schule abgeht, früh einen neureichen Krämer heiratet und später als alleinerziehende Mutter in einer Salami-Fabrik betatscht und missbraucht wird – während Elena Autorin und Dozentin wird.
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Die Mädchen sind 1944 geboren, Band 1 erzählt die Schulzeit, Band 2 die Zeit bis ca. 22, Band 3 bis 32 und Band 4 bis ins Alter – durch eine Rahmenhandlung wissen wir, dass Lila mit fast 70 beschließt, spurlos zu verschwinden. Band 1 ist ein recht seichtes und einfaches Buch über Jugend und Armut. Ab Band 2 erinnern mich die Bücher an die Memoiren von Simone de Beauvoir (persönlich, aber recht soziologisch); mit Band 3 und den Studentenunruhen, der Arbeiterbewegung etc. Ende der 60er wird es politisch. Band 4 fand ich – trotz vieler Längen und Konstruiertheiten – am durchdachtesten: die meisten Storylines werden, nach viel melodramatischem Auf und Ab, halbwegs stimmig und befriedigend abgeschlossen.
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Ich denke beim Lesen der Bücher vor allem an deBeauvoir – und an die „Lindenstraße“: ca. 20 Figuren aus der selben Nachbarschaft, deren albern und übertrieben wechselhaftes Leben JEDEN Aspekt des Zeitgeists abbilden soll, oft sehr thesenhaft, didaktisch, überzeichnet und zu einfach. Die Sprache ist leicht – doch den Büchern fehlen Beschreibungen, Sinnlichkeit, Details und Beobachtungen, Lokalkolorit und Freude… Ein eher seichter Bericht über Mädchen, die lernen, um ihren (freudlosen, recht klischierten) Umständen zu entfliehen. Ich habe nicht das Gefühl, Neapel gut kennen zu lernen.
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Und, mit Blick auf die Anonymität Ferrantes: das langweilige, knorrige Strebermädchen Elena, vermutlich eine autobiografische Figur, erscheint mir halbwegs plausibel. Doch Lila – zu schön, zu feurig, zu unberechenbar, zu fremd, ein Leben voller melodramatischer Verwicklungen – kommt mir erfunden und blass vor.
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Zum Feminismus, aus der New York Times:
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„My women are strong, educated, self-aware and aware of their rights, just, but at the same time subject to unexpected breakdowns, to subservience of every kind, to mean feelings.“ […]Q. What is the best thing that you hope readers could take away from your work?A. That even if we’re constantly tempted to lower our guard — out of love, or weariness, or sympathy or kindness — we women shouldn’t do it. We can lose from one moment to the next everything that we have achieved.“
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Ich fürchte, die Bücher kommen international so gut an, weil wir Neapel nicht kennen – und bei jeder seichten oder platten Wendung denken: „Na ja. Vielleicht war das eben so: vor fast 60 Jahren, in Süditalien.“ Ein deutscher Zeitroman würde, hoffe ich, kritischer gelesen und verhandelt.
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Lieblingszitate – über Klassismus, Standesdünkel:
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„[The other students] knew how a newspaper or a journal was put together, how a publishing house was organized, what a radio or television office was, how a film originates, what the university hierarchies were, what there was beyond the borders of our towns or cities, beyond the Alps, beyond the sea. They knew the names of the people who counted, the people to be admired and those to be despised. I, on the other hand, knew nothing, to me anyone whose name was printed in a newspaper or a book was a god.
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[…] I didn’t know the map of prestige.
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[…] I was one of those who labored day and night, got excellent results, were even treated with congeniality and respect, but would never carry off with the proper manner the high level of those studies. I would always be afraid: afraid of saying the wrong thing, of using an exaggerated tone, of dressing unsuitably, of revealing petty feelings, of not having interesting thoughts.“ [Band 2 – Elena im Studium, in Pisa.]
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„Make your own head masculine, so that it would be accepted by the culture of men: I had done it, I was doing it.“ [Band 3 – Elena als Akademikerin.]
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„My entire life would be reduced merely to a petty battle to change my social class.“ [Band 4 – Aufstieg kostet Kraft.]
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7 Kommentare

  1. Ich habe das Gefühl, dass wir verschiedene Bücher gelesen haben. Mögen Sie Virginia Woolf?

  2. schwer zu sagen: ich mochte „Mrs. Dalloway“, vor allem wegen der Perspektivwechsel, Überraschungen, wagemutigen Konstruktion – doch ich bin nicht besonders anglophil und finde Woolf oft etwas… stiff/steif, z.B. im Vergleich zu Simone de Beauvoir. Woolfs persönlichen Texte sind mir oft nicht persönlich/frei/offen genug.

  3. Das hab ich mir gedacht. Ich finde, Ferrante und Woolf ähneln sich sehr, natürlich nicht im Stil, dafür umso mehr in dem, was sie im Endeffekt ausdrücken z.B. in Bezug auf die Instabilität und Wechselhaftigkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen und was es überhaupt bedeutet, jemanden zu mögen. (Und ich mag sie beide sehr.)

  4. Ich habe jetzt den ersten Teil gelesen. Ich war genervt von den Hauptakteuren. Das Buch habe ich dann nur quer bis zum Ende gelesen, weil ich dachte da muss doch noch etwas tolles passieren, was mich mitnimmt und berührt. Aber ich habe nichts entdecken können…

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