„Und wenn ich in einem Text lese: ‚Ich möchte lieber nicht‘, dann rufe ich: Bartleby!“
Der Berner Patric Marino fiel mir auf, weil er ein literarisches Debüt hinlegte, von dem Nachwuchsautoren eigentlich nur träumen können. Hoppla, dachte ich mir, welche Kräfte haben da gewirkt?
Der heute 22-jährige Shooting-Star debütierte mit seiner Abschlussarbeit am Schweizerischen Literaturinstitut, für die er einen engagierten Verleger fand. „Nonno spricht“ erschien im März 2012, und zwar in einem Verlag, der im Begriff ist, sich einen Namen zu machen. Danach ging es Schlag auf Schlag. Zunächst stieß die Hommage an Nonna und Nonno, Patrics Großeltern aus Kalabrien, auf regionales Echo. Hoch gelobt wurden der subtile Humor und die poetische, schnörkellose Sprache des Newcomers.
Im Juni verlieh ihm die deutschsprachige Literaturkommission des Kantons Bern den Anerkennungspreis. Nun zollten auch die überregionalen Medien dem Debüt Aufmerksamkeit. Am 6. September lud sogar das Schweizer Fernsehen Patric zum Gespräch in die angesagte Talk-Show „Aeschbacher“ ein. Eine Anfrage folgte der nächsten, für Patric begann eine anhaltende Lesetour. Die Folge: Sein Erstling verkaufte sich in der Schweiz so gut, dass sein Verlag inzwischen eine zweite Auflage herausbrachte.
Von Patric wollte ich u.a. wissen, wie ihm der frühe Ruhm bekommen ist, wie er zu seinem Verlag kam, ob Literaturpreise Türöffner sind und was er anderen jungen Autoren rät.
Du hast ein Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel absolviert. Was hat dir das gebracht?
Das Studium hat mir Zeit geschenkt und als eine Art Katalysator gewirkt. Ich konnte mich während dreier Jahre voll auf mein Schreiben konzentrieren. Am Literaturinstitut habe ich Leute getroffen, die das gleiche machen wie ich, vorher war ich mit dem Schreiben alleine. Sowohl mit Mitstudierenden als auch mit Dozenten tausche ich mich weiterhin aus. Und ich habe viel von der Erfahrung anderer Autoren profitiert.
Braucht es zum Schreiben nicht mehr als „nur“ literarisches Handwerkzeug?
Natürlich. Es braucht Beobachtungsgabe, Interesse für Geschichten, Sprachgefühl; all diese Dinge bringt man mit, die kann man nicht erlernen. Mit den Werkzeugen, die man am Institut erhält oder zu gebrauchen lernt, kann man sie aber schärfen und verbessern. Wir hatten dort die Möglichkeit, Texte zu schreiben, zu überarbeiten, zu publizieren. Zur Werkzeugkiste gehört auch ein Büchergestell, wir haben am Institut nicht nur geschrieben, sondern auch viel gelesen.
Derzeit studierst du Germanistik. Was versprichst du dir davon?
Zum einen lerne ich im Germanistikstudium, Texte noch genauer zu lesen und besser zu verstehen. Ich finde neue Literatur, die beim Schreiben und Lesen immer mitschwingt, und wenn ich in einem Text lese: „Ich möchte lieber nicht“, dann rufe ich: Bartleby! Zum anderen führt das Studium zu Berufsmöglichkeiten, die mir mehr Freiheit fürs Schreiben schaffen können.
Kannst du dir vorstellen, Schreiben als Broterwerb zu betreiben?
Das Schreiben wird eine Scheibe vom Brot sein, aber ich möchte finanziell nicht darauf angewiesen sein, sondern unabhängig weiterschreiben und mich nicht am Markt orientieren müssen. Sprache und Literatur wird aber auch Teil meiner Arbeit sein, wenn ich neben der Schriftstellerei zum Beispiel als Deutschlehrer oder Literaturvermittler arbeite.
Wie kam es dazu, dass der Lokwort Buchverlag deinen Erstling „Nonno spricht“ publizierte?
„Nonno spricht“ war meine Abschlussarbeit am Literaturinstitut. Gleichzeitig mit der Abgabe an der Schule habe ich mein Manuskript an eine Literaturagentur geschickt, die es noch in der gleichen Woche meinem zukünftigen Verleger vorstellte. So ist zwischen dem Fertigschreiben meiner Abschlussarbeit und ihrer Publikation als Buch nicht einmal ein Jahr vergangen.
Lokwort ist quasi ja ein Ein-Mann-Verlag, der im Begriff ist, sich aufzustellen. Meinst du, dass ein eingeführter Verlag deinen Erstling noch stärker hätte pushen können?
Ein eingeführter Verlag hat bereits viele große Marktstände, er braucht neue Bücher nur noch hinzulegen und verkauft sie unter seinem Gütesiegel. Mit meinem Verleger habe ich den Marktstand erst aufbauen und ein Gütesiegel schaffen müssen, dafür sind beide auf mein Buch zugeschnitten. „Nonno spricht“ war die einzige Publikation von Lokwort in diesem Frühjahr. Wir waren also zwei Leute, der Verleger und ich, die ein Buch mit aller Kraft pushten.
Welche Vorteile hatte die Zusammenarbeit mit einem kleinen Verlag für dich?
In einem kleinen Verlag steht man sich persönlich gegenüber, so fühlte ich mich wohl. Ich konnte überall mitreden: bei der Auswahl der Lektorin, bei der Gestaltung, bei der Vernissage. Es gibt kein Verlagskonzept, in das ich gepresst wurde, sondern wir haben zusammen eines geschaffen und so auch gegenseitig voneinander profitiert.
Siehst du auch Nachteile?
Ein Nachteil ist, dass Mittel und Kanäle beschränkt sind. Man muss den Markt zuerst erschließen, sowohl für mich als unbekannten Autoren als auch für den kleinen, neu ausgerichteten Verlag. So gesehen passten wir ganz gut zueinander.
Was sollte ein Jung-Autor bei der Zusammenarbeit mit einem Verlag besonders beachten?
Autoren- und Verlegerköpfe sind hart. Es ist wie beim Eiertitschen …
Beim Eiertitschen …?
Genau so. Wer hat den dickeren Schädel bzw., um beim Bild zu bleiben, die dünnere Schale? Letztendlich geht es um die Frage: Wie weit gehe ich, wie viel gebe ich her und ändere ich, damit mein Buch publiziert wird? Bei Gestaltungsfragen und Formalien kann man mit sich reden lassen, bei inhaltlichen und sprachlichen Dingen sollte man hart bleiben.
Für dein Debüt hast du im Juni den Anerkennungspreis der deutschsprachigen Literaturkommission des Kantons Bern bekommen. Öffnen Literaturpreise Türen? Und: Kurbeln sie den Verkauf an?
Neben Anerkennung schaffen Literaturpreise Öffentlichkeit. Man erscheint in den Medien, es gibt eine Lesetour, aus jedem Bericht und jeder Lesung ergeben sich weitere Berichte und Lesungen. Dies wirkt sich schließlich auch auf den Verkauf aus. Zudem lernt man durch Preise auch andere Autoren, Kommissionsmitglieder, Veranstalter und Buchhändler kennen, was einem die Tür zur Literaturszene noch weiter öffnet.
Wie bist du mit deinem plötzlichen Ruhm zurechtgekommen?
Ganz einfach, indem ich nicht darüber nachdenke. Wenn ich im Zug jemanden mit meinem Buch sehe, dann ist es, als würde ich diese Person kennen, und ich bin jeweils erstaunt, dass dem nun nicht mehr so ist. Die Vorstellung, dass mein Buch auf fremden Nachttischchen liegt, ist so komisch wie auch schön, weil doch jeder seine eigene Gutenachtgeschichte wählt.
Hat dein früher Erfolg auch Schattenseiten?
Ich komme vor lauter Lesungen und Anfragen im Moment kaum zum Schreiben von neuen Texten, aber das ist es ja, was ich mir für mein Buch gewünscht habe. Druck mache ich mir deswegen keinen. Ich versuche, so weiterzuschreiben wie bisher.
Kannst du dir erklären, warum die Hommage an deine kalabrischen Großeltern Nonna und Nonno in deiner Heimat ein so großes Echo fand?
Die Hommage ist ja eine doppelte, zum einen an meine Nonni, zum anderen an Kalabrien. Jeder hat Grosseltern und einen Heimat- oder Ferienort, von dem er Anekdoten erzählen könnte, und so finden viele Leser in meinem Buch ihre eigenen Geschichten wieder. Dass hier in der Schweiz sowohl die italienischen Auswanderer als auch die Italianità aus den Ferien bekannt sind, hat dieses Echo noch verstärkt und bei vielen Sehnsüchte ausgelöst.
Glaubst du, dass dir ein so fulminantes Debüt auch außerhalb der Schweiz gelungen wäre?
Ich habe ein Buch über die italienischen Grosseltern und die Reise in ihre Heimat geschrieben, weil diese Themen für mich und andere Menschen in der Schweiz wichtig sind. Folgerichtig hat das Buch zuerst hier Verbreitung gefunden. Außerhalb der Schweiz würde ich mit der gleichen Schreibhaltung ein anderes Buch schreiben, doch wie es vom Buchmarkt aufgenommen würde, lässt sich nicht voraussagen.
Rechnest du dir für deinen Erstling auch Chancen auf dem deutschen Buchmarkt aus?
Ja. Das Herkunftsland ist zwar wichtig bei der Entstehung des Buches, mit der Publikation löst es sich aber von einem Ort. Auch in Deutschland kennt man das Thema der Migration, auch aus Deutschland kommen Touristen nach Italien. Schließlich sind es diese Leute, die mein Buch in Deutschland aus den gleichen Gründen kaufen werden wie in der Schweiz, und die entscheiden werden, ob mein Buch auch auf dem deutschen Buchmarkt einen Platz findet.
Was rätst du Nachwuchsautoren? Worauf sollten sie besonders achten?
Schreibt, was Ihr lebt, erzählt Geschichten weiter, haltet Erinnerungen fest. Diese Art des Schreibens mag nach Tagebuch oder Arbeitsjournal klingen, doch ich finde wichtig, dass man sich auf den Stoff konzentriert, den man erzählen will, und dafür eine geeignete Form sucht. Ob das ein Roman, eine Kurzgeschichte oder ein Gedicht ist, wird sich weisen.
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Im zweiten Teil des Gesprächs erfahren wir von Patric u.a., wie man in seiner Heimat die Entwicklungen infolge der Digitalisierung einschätzt, welchen Stellenwert das eBook dort hat, ob Self-Publishing in der Schweiz angesagt ist und inwieweit Social Media-Marketingmaßnahmen auch für Schweizer Autoren inzwischen ein Gebot der Stunde sind.