„Die Gewalt lebt davon, dass sie von Anständigen nicht für möglich gehalten wird“ – Jean-Paul Sartre. Gespräche mit ACR (Teil 1)

Aus dem Blogpost „Ein Herz für Kinder!? Oder: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch…“, entwickelte sich ein sehr persönlicher Austausch mit Angela Charlotte Reichel. Gemeinsam haben wir entschieden, unsere Gespräche hier in Fortsetzungen öffentlich zu machen. Ich unterhalte mich mit Charlotte über ihre Erfahrungen als schwer misshandeltes Kind und Jugendliche, über die Folgen und wie wichtig es ist, dass Anständige erfahren, dass es so etwas doch gibt …

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Teil 1: „Ich habe nicht überlebt, um mir hernach selbst das Leben zu versauen“

Der Blogpost „Ein Herz für Kinder!? Oder: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch …“ hat dich berührt. Magst du uns sagen, warum?

das Taufkind 1953 © ACR

das Taufkind 1953 © ACR

Kinder, und was Erwachsene ihnen geben und nehmen, und wie Kinder miteinander umgehen (lernen), ist für mich wie das Leben unter einem Mikroskop betrachten. Wann auch immer mir solch‘ ein Thema begegnet, muss ich die ganz bewusste Entscheidung treffen, wie ich an dem Tag zu der Stunde damit umgehe. Will ich meinen Tag behalten wie er ist, oder gehe ich das Risiko ein, mich in meine Vergangenheit zurücktrümmern zu lassen!?

Es macht mich jedes Mal aufs Neue fassungslos (im Sinne des Wortes – ich verliere die Fassung), wie lange Kindheit wirkt; immerhin bin ich vor ein paar Tagen 60 geworden. Und gerade auch durch diesen Blogpost ist mir klar geworden, ich werde bis zum letzten Atemzug meines Lebens die Last eines psychisch und physisch misshandelnden Kindes in mir tragen.

Das heißt, du bist dir deiner leidvollen Erfahrungen in der Kindheit sehr bewusst. Gab es auch Phasen der Verdrängung?

Nein. Ich konnte Erlebtes nicht verdrängen. Ich wollte das auch gar nicht. Meine Angst, so zu werden wie meine Mutter, ist sehr groß gewesen. Ich habe sogar bis Mitte 40, sie war längst tot, beinahe täglich mit ihr ein stummes Zwiegespräch geführt und ihr immer wieder das gesagt, was ich als Kind und Jugendliche nicht sagen durfte und konnte. Es ist eine große Befreiung gewesen, mit diesen innerlichen Gesprächen aufhören zu können. Aber auch erst von da an ist mir bewusst geworden: Ich werde in der Lage sein, mit meiner Mutter einen Frieden zu machen. Das habe ich mittlerweile längst auch.

Aus deinen Worten spricht so gar kein Hass. Wie kommt das?

Nein, ich hasse nie und niemanden. Hass macht nicht heile. Hass bringt keine Ruhe. Hass ist Stagnation, lässt keine Verarbeitung zu. Darin steckt man dann selber lebenslang fest.

Allein die Nutzung dieses Wortes ist für mich nur in einem analytischen Zusammenhang nötig. Es gibt allerhand solcher Ausdrücke, die ich bewusst nicht in einem gedanklichen Zusammenhang mit Menschen verwende.

Darf ich kurz erklären?

Na aber sicher doch …

Schau mal in den Spiegel, hole ganz ruhig Luft und sage das Wort: Hass. Was siehst Du?

Nun stell Dir jemanden vor, der von sich sagen muss, es sei Hass gegen den oder das in ihm vorhanden. Meist reicht es dann nicht mal, einfach nur Hass zu sagen, sondern es sind lange Sätze mit harter Stimme und Steigerungsformen oder Vergleichen. (… wie die Pest o.ä., ich könnte …)

Solche Gefühle in einem Menschen? Da braucht’s Kompensation, sonst zerfressen sie den, der hasst. Es kann einen solchen Druck erzeugen, dass ein Ventil nötig wird. Und was kann das sein? Depression? Gewalt? Dauernde Rachepläne schmieden? Was soll das für ein Leben sein? Der Gehasste hingegen führt sein Leben einfach weiter. Oder denkt wirklich jemand, es reiche, einen anderen zu hassen, damit der so wird, wie gewünscht?

Nein, ich kann nicht hassen. Ich habe nicht überlebt, um mir hernach selbst das Leben zu versauen.

Kann man sagen, dass die Auseinandersetzung mit deiner Mutter auch ein Bestandteil deines Heilungsprozesses gewesen ist?

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich meiner Mutter zu viel Bedeutung zumesse. Oftmals habe ich versucht, aus dem Verhältnis auszusteigen. Immerhin war sie schon tot als ich noch fortwährend mit ihr geredet habe. Manchmal habe ich mir sogar selber unterstellt, meiner Verantwortung für mich nicht gerecht zu werden. Ich habe mich dann immer angemahnt: ‚Ab irgendeinem Punkt ist es unerlässlich, nicht nur körperlich, sondern auch in seiner inneren Konsequenz erwachsen zu werden. Das bedeutet, lass die Vergangenheit los.‘ Dann aber entdeckte ich, nur die gradlinige und ungeschönte, ja schonungslose Auseinandersetzung mit meiner Geschichte, also mit meiner Mutter, IST die Basis für meine Heilung. Der wesentlich schwerere Schritt ist gewesen, mich mit meinem damals ebenfalls schon toten Vater auseinanderzusetzen.

Du hast ja nicht nur innere Monologe mit deiner verstorbenen Mutter geführt – du hast auch Gedichte geschrieben …

Schwer. Schwer, mehr Worte zu finden als in den gesparten eines Gedichtes zu verstecken sind. Das Denken und Fühlen eines Kindes in erwachsenen Worten. Genau das hat mich bisher hauptsächlich abgehalten, überhaupt offen darüber zu sprechen. Es gibt kaum eine Handvoll (lebender) Menschen, die mein Kinderleben kennen.

Ist das Scham oder Furcht? Warum schweigen Gewaltopfer so häufig?

Darüber denke ich oft nach. Vielleicht wirkt da eine umgekehrte Verhältnismäßigkeit. Umso schlimmer die Erlebnisse empfunden werden, umso weniger glauben Betroffene, so etwas erzählen zu können. Eine Tat beschreiben, bedeutet auch, Worte finden zu müssen. Zum Beweis tot zu sein ist leichter als lebend zu erklären, warum man nicht gestorben ist.

Wie meinst du das?

Was ich damit sagen will klingt absonderlich, aber ich habe mehr als mehrmals vollkommen fassungslos erlebt, wie in Frage gestellt worden ist, was Erwachsene über ihr Kinderleben erzählen. Wird aber ein totes Kindchen aus einem Blumenkübel gebuddelt, geht man nicht davon aus, es habe deutlich übertrieben. Das hat einen besonders tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Und hauptsächlich aus diesem Grund, habe ich mich kaum geäußert. Die Möglichkeit, zum Beispiel in Gedichten sprechen zu können, ohne Einzelheiten zu erzählen, ist eine kleine Möglichkeit, den Mund doch nicht halten zu müssen.

Mir gegenüber nimmst du kein Blatt vor den Mund …

Ob ich das Thema tatsächlich einmal ungeschminkt ansprechen werde, wusste ich bis zu unserer Begegnung noch nicht. So viele Jahre nach der Kindheit fordern beinahe auf, endlich mit all dem abzuschließen. Ich habe mir immer vorgestellt, da komme ich altes Weib daher und will glaubhaft über eine längst vergangene Zeit reden. Dabei hatten wir Kinder, die in den 50er Jahren geboren sind, so ziemlich alle das gleiche Schicksal.

Und so sind die Jahre einfach zusammengekommen. Zuerst wollte ich meinen Vater schützen. So lange er gelebt hat, wäre ich lieber verrückt geworden, als darüber zu reden. In den letzten Wochen seines Lebens, sagte er einmal zu mir: „Ich bitte dich für alles um Verzeihung.“ Ich habe ihn umarmt und gesagt, er habe mich gerettet mit seinem Satz: ‚Halte durch, du bist bald groß.‘ Ich denke nicht, dass er mir geglaubt hat.

Mit meiner Mutter habe ich reden wollen. Da bin ich schon erwachsen gewesen. Einmal nur sagen können, wie ich mich als ihr Kind gefühlt habe. Schon nach dem dritten Satz stürzte sie sich auf mich wie ein Berserker und warf mir vor, herzlos, nachtragend, unfair und schlecht zu sein. Sie schleuderte mir einen Aschenbecher an den Kopf. Irgendwann ist es vielleicht auch die Sehnsucht nach Ruhe; und Schweigen wird damit verwechselt.

Reden kann aber doch auch heilen, oder?

Ja, das ist die Krux. Die Sehnsucht nach Ruhe wird mit Schweigen verwechselt. Ruhe erlangen, bedeutet das Un- von Unruhe abzuarbeiten. Aber wenn der Mensch durch seine prägendsten Lebensjahre, nämlich durch Kindheit und Jugend nicht frei und neu-gierig und froh und voller Vertrauen gegangen, sondern hindurchgepeinigt worden ist, woher bitte soll der daraus gewordene Mensch denn wissen, dass Reden gut ist?

Später hast du aber doch versucht, dich einigen Menschen zu öffnen. Wie hast du dich dabei gefühlt?

Zu unterschiedlichen Zeiten ist das jeweils unterschiedlich gewesen und hat letztendlich auch dazu beigetragen, dass ich mich für das Schweigen entschieden habe. Hinzu kommt, trifft ein geschlagenes Kind als Erwachsener auf „Ehemalige“ ist es ganz schwierig. Jeder befindet sich in einer anderen Phase der Verarbeitung. Wer zum Beispiel selbst gerade verdrängt, will wirklich nicht erinnert werden. Und: Ich glaube, die häufigsten Aufforderungen zum Reden sind sehr pauschal. Alle wissen, reden ist gut, aber es muss eben auch jemanden geben, der zuhört. Wir haben doch alle einen mobilen Rucksack voll mit Unvergesslichkeiten auf dem Rücken. Ich kann gar nicht beschreiben, wie oft ich aus dem Reden ins Zuhören gedrängt worden bin. Hernach bin ich mit noch schwererer Last zurückgekommen, da ich das Schicksal des anderen auch noch in mir hatte.

Eine andere Erfahrung von mir ist, denke ich, typisch für unsere oberflächliche und schnelllebige Zeit. Ich bin mir vorgekommen, wie wenn mir jemand zuwinkt und ruft: „Na, wie geht`s Dir?“ und ich antworte erleichtert: „Ich bin froh, dass Du mich fragst, denn ich habe so lange schon eine schwere Last auf der Seele.“ Nach ein paar Sätzen habe ich gespürt, die Frage, wie es mir ginge, ist nur ein erweiterter Gruß gewesen. Diejenige hätte nur „Hallo“ sagen können, mehr nicht. Und ich habe mich ob meiner Mitteilsamkeit schrecklich geschämt. Halt. Nein, geschämt nicht, es war mir peinlich.

Und wie wurde auf dich reagiert, wenn du versucht hast, darüber zu sprechen?

Alles in allem sind allerhand Versuche, darüber zu reden, daran gescheitert, weil so etwas wie Schuldgefühle im Spiel sind. Eine ehemalige Nachbarin sagte mir Anfang der 80er, meine Eltern lebten beide nicht mehr, sie habe sich immer gewundert, wieso meine Mutter so oft unglaublich laut Radio gehört hätte. Es sei echt frech gewesen, vor allem, weil sie wusste, andere arbeiten im Schichtsystem. Was sollte ich sagen? Ich sah sie nur an und lächelte. Plötzlich wurde sie unhöflich: „Na, was haben wir denn gewusst, was die mit Dir gemacht hat? Das kannst Du mir ja nun nicht vorwerfen!“ Ich antwortete: „Ich habe doch gar nichts gesagt, was ist denn los?“ Und sie fauchte mich im Weggehen an, mein Blick hätte schon alles ausgesprochen und außerdem sei ja auch lange nicht sicher, ob das alles so wahr wäre …

Es ist in allem, was einem Kind wiederfahren ist, wahrscheinlich eine Klage gegen Erwachsene enthalten. Intuitiv fühlt wohl jeder Erwachsene seine Schutzfunktion. Was ihn davon abhält, sie auch einzusetzen, ist sehr subjektiv.

Und da stehst Du nun, Du ehemaliges Kind, hast gelitten und bist selber schuld, dass Du noch lebst. Als totes Kind im Blumenkübel, wärest DU der Beweis gewesen, dass es Dir wirklich übel ergangen sein muss.

Gab es wirklich niemanden, dem du so vertraut hast, um ihm ungeschönt aus deiner Kindheit erzählen zu können?

Aber hallo! Ich habe mit meinem, inzwischen geschiedenen, Mann sehr offen gesprochen. Er hat meine Mutter noch persönlich kennengelernt und mir jedes Wort geglaubt. Wobei ich auch ihm nicht alles erzählt habe.

Mein Liebster, der Mann, mit dem ich inzwischen zusammenlebe, kennt am meisten von mir. Er macht es mir leicht. Er verfügt über eine ausgesprochen hohe Sozialkompetenz und reflektiert, sieht mich nicht als das Opferkind, sondern die erwachsene Frau. Er glaubt mir nicht nur, dass es mir nicht darauf ankommt, eine Opferrolle einzunehmen, sondern er versteht, dass die zu mir auch nicht passt.

Lassen wir es für heute gut sein, Charlotte.

Ja, lass uns eine Pause machen.

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Zum zweiten Teil „Halt durch, du bist bald groß“ geht es hier. Ab 11. März 2013 setzen wir den Autausch hier fort

3 Kommentare zu “„Die Gewalt lebt davon, dass sie von Anständigen nicht für möglich gehalten wird“ – Jean-Paul Sartre. Gespräche mit ACR (Teil 1)

  1. Ein sehr offenes und sehr ehrliches Gespräch. Es ist schwer, etwas dazu zu sagen, weil alles, was man sagen könnte, so theoretisch wirkt. Ich könnte nun kommen mit dem Erzählen und Wiedererleben, welches beim Heilen und (sich selbst auch) Vergeben hilft. Ich habe das kennengelernt im Bezug auf die Aufarbeitung von Traumata – alles rein theoretisch. Dadurch wirkt es so hilflos und so platt angesichts des hier Beschriebenen.

    Ich könnte schreiben über die Prägung von Vergangenem, das immer in der Gegenwart nachwirkt. Ich habe das Thema bei mir selber oft besprochen, immer wieder gebracht. Doch jeder Mensch ist anders. Und selbst wenn man weiss, dass Dinge vorbei sind, dass man Prägungen unterliegt, sich befreien müsste und eigentlich auch könnte, sitzt man drin. Wie in einem Gefängnis. Die Türen sind offen, man bleibt sitzen. Schielt zwar sehnsüchtig nach den Draussen, wo man Ruhe und Freiheit erhofft, doch sitzt man weiter drin.

    Wieso erzählt man nicht drüber? Erzählen kann helfen, ist ab und an gar Bedürfnis. Auch das kenne ich aus der Theorie anhand von Holocaustüberlebenden, deren Zeugnisse ich analysierte. Und nun könnte man sich fragen, wieso ich mich so sehr mit diesem Thema befasse. Immer wieder, in allen Facette. Wieso es mich ansprang und weiter anspringt. Wohl weil es ein zutiefst menschliches ist. Und weil es auch ein persönliches ist.

    Dinge, die wir erleben, prägen uns. Je grausamer sie waren, desto prägender. Da hilft es nichts, wenn jeder sagt, man soll auf die schönen Dinge im Leben achten, die anderen sind der Nährboden der Sichtweise. Zwar sieht man die Schönen, schätzt sie auch, doch immer ist da auch dieser Boden. Und irgendwie schämt man sich. Man schämt sich, dass gerade einem selber solcher Boden zuteil wurde. Man schämt sich, dass man nicht blütenrein dasteht, wie man denkt, dass es eben normal wäre. Man sieht diesen Boden als Makel. Und selbst wenn man nichts dafür kann, so sitzt einem dieser Makel doch im Nacken. Und man denkt, wenn die anderen diesen Makel sähen, würden sie schlecht von einem denken. Dann sähen sie nur noch den Makel und man wäre dadurch stigmatisiert.

    Offenheit braucht Mut. Danach kann sie aber sehr heilend wirken. Nicht dass danach gleich alle Wolken weg und eitel Sonnenschein wäre, aber ich denke, man lernt, Stück für Stück, zu sehen, dass man trotz allem, was passiert ist, von den richtigen Menschen als Mensch wahrgenommen wird und nicht der Makel überwiegt. Und man lernt, dass dieser Makel kein Makel ist, der einem selber anhaftet, sondern einer, den andere haben und hatten.

    Danke für diese Offenheit und diese Ehrlichkeit. Hut ab davor!

  2. Chapeau!
    Ein ansprechendes wie berührendes Gespräch.
    Das sollte man erst einmal wirken lassen, da es viele Facetten beinhaltet.
    Wohl ist mir bewusst, dass wer sich so in der Öffentlichkeit zu äussern wagt,
    einen langen und steinigen Weg gegangen ist.
    Bei den „Anständigen“, da hakt es etwas bei mir.
    Da würde ich die Spielräume öffnen…

    Ich bin gespannt auf die Fortsetzung!

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