In der Kampfzone des Waldes

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In ihrem neuen Gedichtband spannt Ulrike Almut Sandig einen poetischen Bogen von Nord nach Süd und schafft unverwechselbare Landschaften zwischen Traum und Alltag.

Ein schöner Zufall: Die Veröffentlichung von „Dickicht“ fällt in das von der UNO ausgerufene „Jahr der Wälder“ 2011. Der Wald als entrückter Ort, der Geborgenheit bietet und, ja, Kampfzone, begegnet uns auch in Ulrike Almut Sandigs neuen Gedichten immer wieder. Aber das Dickicht hält auch einige Überraschungen bereit.

Dass Natur, Heimat und Kindheit große Themen im lyrischen Schaffen der Leipzigerin sind, konnte man bereits dem viel beachteten Band „Streumen“ entnehmen. Und doch sind diese Themen auch immer doppelt besetzt: Sandigs Gedichte geraten nie zur Natur- oder Heimatlyrik. Der in „Streumen“ vorangestellte Satz „Wir streumen vor lauter Sehnsucht“ behält auch für „Dickicht“ seine Gültigkeit. Das Kunstwort, in dem sich Ortsname, Bewegung und Traum vereinen, ist – frei nach Eichendorff – Ulrike Almut Sandigs poetische Wünschelrute. Und diese führt ins weite Feld der Phantasie.

„Dickicht“ schließt damit nicht nur nahtlos an den Vorgänger an. In seiner konzeptionellen Geschlossenheit geht dieser Band einen Schritt weiter: Nach den Himmelsrichtungen „Norden“ und „Süden“ teilt sich das „Dickicht“ in zwei Teile. Bindeglied ist das nur ein Gedicht umfassende Kapitel „Mitte der Welt“. Inhaltlich könnte man die beiden großen Kapitel jeweils den Gebieten „Heimat“ und „Sehnsucht“ zuordnen, während in der Mitte der Riss steht, den es zu überbrücken gilt. Aber wie es sich für ein Dickicht gehört, halten sich hinter den Verzweigungen der großen Kapitel auch viele kleine Überraschungen bereit. Mit Märchenfiguren wie Nachtalb („das hässliche pechschwarze Reiterlein“) und Erlkönig durchbricht Ulrike Almut Sandig ihre präzisen Beobachtungen mit einem Moment des Surrealen, das sie schon in ihrem Erzählungsband „Flamingos“ virtuos eingesetzt hat. Der Übergang von der Wirklichkeit in den Traum gelingt so auch auf kleinstem Raum:

und der Hagel am Morgen und der Sturm in der Nacht.
und der Luftrausch im Dachstuhl, alle Ziegel von innen
Antennen drunter im schlechten Versteck. das Rauschen
im Bildschirm. die Gesten von Brüdern. das Kreisen der
Wolken und quer durch den Hof flogen Tiere im Traum.

Das verbindende, übergreifende Motiv ist dagegen der Wald, der immer wieder seine Äste durch die Gedichte steckt: Das „Flirren der Bäume“ bezeichnet einen poetischen Ort, in dem Raum und Zeit aufgehoben sind. Den Ursprung dieses Leitmotivs findet man bereits in „Streumen“, namentlich im „Märzwald“. Die dort beschriebenen „kronen der bäume“ tauchen auch in „Dickicht“ wieder auf. Neu ist der märchenhafte, der Hänsel-und-Gretel-Wald („Tamangur“): Als entrückter, poetischer Ort der Geborgenheit, aber durchaus auch bedrohlich erscheint er, wenn er „ums Zimmer wächst“. Und auch eine Kampfzone liegt im Wald, dort, wo sich die verschwundenen Freunde und verlorenen Dinge befinden („meine Freunde“), und wohin es schwer vorzudringen ist.

Ulrike Almut Sandig setzt mit „Dickicht“ souverän ihre poetische Reise fort und steckt neues, märchenhaftes Terrain ab. Der Ton bleibt unverwechselbar schön und leicht, und wird der Boden des Realen verlassen, ist die Sprache trotzdem so lakonisch-schlicht, dass man keine Schwierigkeiten hat, diesen in jeglicher Hinsicht phantastischen Gedichten auf der Spur zu bleiben.

Ulrike Almut Sandig: Dickicht. Schöffling & Co., 2011, 80 Seiten, 16,95 €

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