Hoch lebe die reine Poesie

Frühling in Weißensee! Die Brotfabrik stellt die Tische raus, die Gäste stellen Biergläser darauf, und drinnen eröffnet Ricardo Domeneck die neue Jahreszeit mit – Poesie.

Die Gedichte aus Körper. Ein Handbuch, seinem ersten Band auf deutsch, der erst vor kurzem im Verlagshaus J. Frank | Berlin erschienen ist, sind durchaus bühnenerprobt: Von der Z-Bar über die Literaturwerkstatt Berlin bis zur Leipziger Buchmesse hat Ricardo Domeneck in den letzten Monaten performt. Dass seine Multimedia-Show auch im verwinkelten Roten Salon der Brotfabrik funktioniert, spricht einerseits für die Qualität der Texte, verdankt sich andererseits aber auch der Fähigkeit ihres Urhebers, ungehindert von äußeren Begleitumständen geradezu mit der Poesie zu verschmelzen. Womit wir schon bei einem Leitmotiv wären, das diese berlin-brasilianischen Gedichte durchzieht: Die Verschmelzung der Körper, bevorzugt junger, männlicher Körper, für die Domeneck eine ganze Palette ausschmückender Attribute bereithält, die von der Antike bis zum Calvin-Klein-Werbespot reichen. Ein close reading des gesamten Bandes könnte ein ganzes Lexikon der erotischen Zuschreibungen füllen; ein Literaturlexikon könnte man gleich danebenstellen, wenn man alle Anspielungen von Catull bis Hugo Ball heraussuchen wollte.

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Auf der Bühne tritt der Dichter, makellos gekleidet und gescheitelt, wie ein junger Allen Ginsberg auf, wenn er den hübschen Akkordeonisten vor der Brüsseler Kathedrale besingt, oder wie William S. Burroughs, raunend unter der Leinwand kauernd, auf der die Kamera gesichtslosen Wesen mit Gasmasken in gespenstisch ausgeleuchtete Räume folgt. Für die Dringlichkeit, das Ausufernde an Ricardo Domenecks Lyrik eignet sich tatsächlich am besten die Beat Generation als Vergleichsreferenz – ein weiterer Beleg dafür ist die mit Loop-Maschine vorgeführte Performance „let me fashion you a fable“, in der sich Schicht um Schicht eines Textes übereinander legen, die der Autor mit marginalen Veränderungen wieder und wieder neu einspielt, so dass die derart entstandene Collage zu einer Kakophonie aus purem Sound heranwächst, dem alle Bedeutung entzogen ist. In völliger Zurücknahme übt sich dagegen das treffend betitelte Gedicht „Hoch lebe die reine Poesie“, das in einem Moment höchster poetischer Verdichtung einen zweiten, wenn man so will, Höhepunkt des Abend bildete:

Für uns zählt endlich das Universelle
ob Amsel, Bussard oder Nachtigall
wir besingen heute
nur den Vogel
den abstrakten, auf dem Ast
des Baumes
den wir nicht benennen können.

Zeilen, die man nach diesem Abend an sämtliche Hauswände in Weißensee sprayen sollte. Danke dafür, Ricardo!

Literatur in Weißensee findet jeden 3. Sonntag im Monat statt. The Daily Frown berichtet als Medienpartner über die Lesungen.

Eilmeldung: Verlage in Not

Nach dem Großbrand in einem Außenlager der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandelsgesellschaft, kurz LKG (die Branchenpresse berichtete), sind nun erste Schäden (vgl. hier, hier und nun auch hier) bekannt geworden.

Es hat sich herausgestellt: Für die betroffenen Verlage ist das nicht nur ein großes Unglück, sondern eine reelle wirtschaftliche Bedrohung, zehntausende von Büchern wurden vernichtet. In vielen Fällen wird in absehbarer Zeit wohl eine Versicherung zur Schadensbegrenzung einspringen, fest steht aber: Um den Verlust der Lagerbestände zu verkraften und die immensen Druckkosten für Neuauflagen zu zu stemmen, müssen die Verlage nun tief in die Tasche greifen.

Der einfachste Weg, jetzt als Leser zu helfen, ist der Buchkauf. The Daily Frown stellt daher eine Liste aller Verlage zur Verfügung, deren Bücher den Flammen zum Opfer gefallen sind, jeweils mit aktuellem Programmüberblick. Die Liste wird laufend ergänzt.

UPDATE (26.04.2012): Andreas Platthaus nimmt sich der Brandkatastrophe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an und findet deutliche Worte: „Das ist der größte Bücherverlust auf einen Schlag in Deutschland seit den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs.“ Währenddessen hat das Intro Magazin mit Vanessa Wieser vom MILENA Verlag gesprochen: „Verlag in Flammen“. Am 21. April berichtete außerdem das rbb inforadio in der Sendung Quergelesen und sprach mit Katharina Wagenbach und Heinrich von Berenberg. Danke für den Link!

UPDATE (23.04.2012): Einer aktuellen Meldung zufolge können zumindest die 60 Prozent der Verlage, die bei der LKG über die Allianz versichert sind, aufatmen: „Das Versicherungsunternehmen hat eine Deckungszusage für den Schaden gegeben, der beim Brand von Lagerhallen am 5. April in der Nähe von Leipzig entstanden war.“

NEU: ars vivendi (Cadolzburg)

AvivA Verlag (Berlin)

NEU: Berenberg Verlag (Berlin)

NEU: Eulenspiegel Verlagsgruppe (Berlin)

NEU: Folio Verlag (Bozen/Wien)

NEU: Friedenauer Presse (Berlin)

Gmeiner Verlag (Meßkirch)

Jung und Jung Verlag (Salzburg)

NEU: Lehmstedt Verlag (Leipzig)

NEU: mare verlag (Hamburg)

Milena Verlag (Wien)

NEU: Mono Verlag (Wien)

Sutton Verlag (Erfurt)

Verbrecher Verlag (Berlin)

NEU: Verlag Antje Kunstmann (München)

Hinweis: Die Liste kann über die Schaltflächen unter diesem Beitrag geteilt werden! Ergänzungen willkommen!

Außerhalb der Schutzzone

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Kühl ist es in Sascha Kokots Gedichten, es friert, zieht, knirscht in allen Ecken. Dazu passt die äußere Aufmachung: Der Band Rodung ist in einem dezenten Blaugrau gehalten, schmal, aber festgebunden, und räumt dem in eleganten Serifen gesetzten Text viel Freiraum ein.

Der Blick ins Buch zeigt: Sascha Kokot ist ein präziser Formulierer. Selten findet man Titel, Einrückungen oder Absätze im Textblock, was den Blick auf die Sprache selbst schärft. Gleichzeitig haben seine Texte etwas gnadenlos Insistierendes, das schon im Titel vorweggenommen wird: Wo einmal gründlich gerodet wurde, wächst so schnell nichts mehr.

Überhaupt erweist sich die Welt der Rodung als unwirtlich und lebensfeindlich. Bäume werden gefällt, Asche fällt ein, Glieder erlöschen. Das Ich nimmt die Rolle eines Beobachters der Zerstörung ein: „dort fällen sie noch immer auch wenn die/Krähen schon lange nicht mehr wissen wohin“. Oder es sieht sich selbst als Teil der vom Kahlschlag Betroffenen: „es wurde begonnen jede Lichtung jeden Weg auszuschildern/so wächst vor unseren Augen ein neuer Bestand/der sich konzentrisch um uns schließt“.

Bildet der Wald oft, wie etwa bei Ulrike Almut Sandigs Dickicht-Gedichten, eine Art mythische, überweltliche Schutzzone, findet man in diesem Band das genaue Gegenteil. Die Rodung bietet wenig Trost, dafür einen schockierend klaren Blick auf die Wirklichkeit der Unwirtlichkeit.

Sascha Kokot: Rodung. Edition Azur, 2013, 88 Seiten, 19 €

Skiurlaub in Disneyland

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Der E-Book-Markt wird interessanter. Nach der spannenden Neugründung mikrotext betritt jetzt der Verlag Matthes & Seitz das Feld und legt drei quergestreifte Titel zu den Themen Philosophie, Wirtschaft und Gesellschaft vor. The Daily Frown hat einen davon gelesen.

Emmanuel Carrère, der letztes Jahr die mit aufmerksamkeitswirksamen Zitronenmotiven beworbene Romanbiografie Limonow veröffentlichte, begibt sich in Davos – Im Disneyland der Großen in die fremde Welt des Großkapitals. Als extrem subjektive Reportage, hart an der Grenze zum Gonzo-Journalismus, schildert er Begegnungen mit Top-Managern, die in einer abgeschotteten Welt (Davos eben) ihre Treffen abhalten.

Ein großer New Yorker Banker vertraute uns an, dass er Davos sehr viel besser kenne als Manhattan, denn in Manhattan bewege er sich nur in seiner Limousine, während er in Davos diesen exotischen Sport treibe, auf der Straße zu gehen.

Dem digitalen Format zugute kommt der anschaulich-plastische Schreibstil Carrères: Das Buch beginnt mit einer Schlägerei, die von einem Chinesen geschlichtet wird, der dem Reporter im nächsten Kapitel als Gesprächspartner am Restauranttisch gegenübersitzt. Mit wenigen Worten enstehen so Seite für Seite die Situationen, in denen sich Carrère wiederfindet, durch die unwirkliche Schweizer Schneelandschaft stapfend, Heringe mit einem russischen Top-Dirigenten verzehrend, angeführt von einem Vorstandsvorsitzenden der Ölfirma Total, der wie John Wayne auftritt.

Natürlich, auch ein Ausflug zur Kulisse von Thomas Manns Zauberberg, dem Hotel Schatzalp, lässt Carrère sich nicht entgehen. Dann trifft er noch Muhammad Yunus, der sich etwas in Allgemeinplätzen verliert („wir können die globale Katastrophe verhindern, weil wir uns bessern werden“), und dann ist das Buch schon zuende.

Ähnlich wie Alexander Kluge in seinem Oasen-Essay stellt Emmanuel Carrère auf kleinstem Raum unterschiedlichste Beobachtungen an, nur mit einem noch rasanteren Themen- und Schauplatzwechsel. Grundtenor: Die 1%, die sich da jedes Jahr treffen, führen ein Leben mit eigenen Riten und Gesetzmäßigkeiten und erklären sich eventuelle Gewissensprobleme mit hartnäckiger Überzeugungskraft weg, unter so schönen Oberbegriffen wie „Responsible Leadership for the Times of Crisis“. An einigen Stellen wünscht man sich allerdings dann doch mehr roten Faden und Vertiefung (auch im E-Book ist das möglich!). So ist Davos – Im Disneyland der Großen eher ein intellektuelles Urlaubs-Häppchen für zwischendurch, das das Niveau der nächsten Zug- oder S-Bahn-Fahrt hebt.

Emmanuel Carrère: Davos – Im Disneyland der Großen. Matthes & Seitz Berlin, 2013, 50 Seiten, 2,99 €