Auf den Tag genau vor achtzig Jahren ist der Dichter, Dramatiker, Herausgeber und emsig Tagebuch schreibende Anarchist Erich Mühsam gestorben, von der Wachmannschaft im KZ Oranienburg erschlagen.
Seine Schriften sind lebendig wie nie. Der Verbrecher Verlag, der vor zwei Jahren mit der Herausgabe von Mühsams umfangreichen Tagebüchern begann, erfreut sich anhaltend guter Presse, die jeden der bis jetzt herausgekommenen Bände mit Begeisterung aufgenommen hat. Und das hat viele Gründe: Erich Mühsam war nie nur politischer Denker und Agitator, sondern immer auch im Literatur- und Bohemebetrieb seiner Zeit engagiert und bekannt als lebenslustiger Mensch, wie in den frühen Tagebuchaufzeichnungen deutlich erkennbar ist.

Eintrag vom 3. Oktober 2011 (Quelle: muehsam-tagebuch.de)
Zum Mühsam-Jahr gibt es nun auch ein im Softcover produziertes Mühsam-Lesebuch, das in einer entlang der Biografie getroffenen Auswahl Lieder und Texte außerhalb des Tagebuch-Korpos umfasst. Außerdem entstand aus dem Umkreis der Herausgeber des Lesebuchs, in der Formation Der singende Tresen, die schöne Idee, eine CD mit Mühsams Liedern zu produzieren. Diese wurde erfolgreich ins Crowdfunding gegeben und erscheint diese Woche unter dem Titel Mühsam Blues.
Der Verlag zieht nach mit einer Einzelheft-Edition als E-Book, die die ohnehin schon vorbildlich edierte kritische Ausgabe aus muehsam-tagebuch.de glänzend ergänzt. Zum Abschluss ein kurzer Auszug aus dem Lesebuch „Das seid ihr Hunde wert“, der Erich Mühsams Einstellung zu seinem eigenen Schaffen sehr treffend charakterisiert und gerade vor dem Hintergrund seiner brutalen Ermordung durch die Nationalsozialisten einen herben Beigeschmack bekommt – aus dem autobiographischen Text „Auf zwei Gäulen“ von 1924:
Die Arena des politischen Kampfes, des Meinungskampfes, hat mich bisher nicht freigegeben, wird mich auch nie freigeben, solange nicht Ziele erreicht sind, die nicht die Ziele der Leser diese Bekenntnisse sind. Politische Memoiren gedenke ich somit in absehbarer Zeit nicht zu schreiben. Vielleicht werde ich einmal im Rollstühlchen sitzen, müde, runzlig und resigniert – dann mag meinetwegen auch auf dem Gebiet des sozialen Geschehens der erzählende Schriftsteller den Agitator, Propagandisten und auf öffentliches Wirken bedachten Menschen ablösen. Die Frage erhebt sich: Lässt sich Leben und Schicksal eines in verschiedenen Bezirken geistiger Regsamkeit tätigen Individuums im Ausschnitt betrachten? Kann ich den Teil meiner Daseinsbemühungen, der um Wandlung von Welt und Gesellschaft geht, herausnehmen aus meinen Erinnerungen und Rückschau halten nur auf Begebenheiten, die außerhalb des politischen Kampfplatzes geschahen? Ich glaube, das wird möglich sein. Gerade meine Vergangenheit lief viele Jahre auf zwei getrennten Geleisen, und wenn die Schienen auch manchmal einander eng berührten oder selbst schnitten, so war ich doch streng bedacht, die Züge, deren einen ich als Passagier benutzte, deren anderem ich die Weichen zu stellen strebte, nicht aneinanderfahren zu lassen.
Mühsam für Einsteiger – Vorsicht Suchtfaktor!
Erich Mühsam: Die Tagebücher (bereits erschienen: Band 1-6)
Online-Variante der Tagebücher mit Fußnoten
Erich Mühsam: Das seid ihr Hunde wert. Ein Lesebuch
Der singende Tresen: Erich Mühsam Blues
Erich Mühsam: Die Tagebücher in Einzelheften (E-Book)
Und ein Tipp für alle Berliner: Am 12. Juli findet am Ostkreuz ein großes Erich-Mühsam-Fest statt, mit Musik, Lesungen und Gesprächen!
Fotonachweis: Bundesarchiv / Wikimedia Commons
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