Protect me, oh, from what I want
Judith Zander ist eine Meisterin der Form mit einem Auge fürs sprachliche Detail. Ihr neuer Gedichtband manual numerale verbindet auf spielerische Weise Experiment und Leichtigkeit, geht der Melodie der Worte auf den Grund und erschließt sich einen ganz neuen lyrischen Wortschatz.
Manual numerale knüpft an das 2011 bereits ebenfalls schon bei dtv erschienene Debüt oder tau an. Dazwischen fielen einige Übersetzungsarbeiten, darunter für den Wiesbadener Luxbooks Verlag, der sich an eine sehr verdiente Ausgabe von Sylvia Plaths Gedichtband Crossing the Water gemacht hat, liegen diese Gedichte doch jetzt überhaupt das allererste Mal auf Deutsch vor.
Das schmale lyrische Werk von Judith Zander steht auf den ersten Blick in einem starken Kontrast zu ihrem wortreichen Roman Dinge die wir heute sagten. Auf den zweiten Blick aber auch wieder nicht: Die Figuren aus der Gegend um Anklam, deren unaufhörlicher Gesprächsfluss durch die Seiten des Romans strömt, umkreisen gewissermaßen die Leerstellen, die dann in den Gedichten besetzt werden: So spielte oder tau oft in den nebligen Gebieten der Ostsee-Region, an und in den Flüssen und weit draußen auf dem Land oder im Wald, wo nur noch selten Menschen anzutreffen sind.
Kühl, elegant und mit sprachlicher Brillanz ragte dieser Gedichtband aus den Neuerscheinungen des Jahres 2009 heraus; mit manual numerale, im Umfang ungefähr gleich, steht dem Vorgängerband nun ein experimentelles poetisches Projekt gegenüber. Im Musikjournalismus würde man von einem Konzeptalbum sprechen, hat doch Judith Zander ähnlich wie bei einem Tagebuch sämtliche Gedichte in manual numerale mit einem Datum versehen, von Januar bis Dezember, mal einige pro Monat, mal nur eines. Immer zwei Texte bilden ein Paar, das sich über die Doppelseiten des Buches erstreckt. Die linke Hälfte besteht aus einer Zahl von Versen, die derjenigen des Tages entspricht, die rechte derjenigen des Monats. Einzwängung als Stilprinzip? Weit gefehlt: Überraschenderweise beeinträchtigt die auf den ersten Blick etwas streng erscheinende Sortiermethode die Leichtigkeit von Judith Zanders Gedichten nicht im geringsten – ganz im Gegenteil, es ist geradezu eine Freude, die Erfüllung der selbst gestellten Aufgabe immer wieder während und nach dem Lesen zu überprüfen.
Die Freude an diesen Gedichten speist sich aber auch aus der Sprachmelodie, die in diesen Texten einen wichtigen Part übernimmt, denn Judith Zander variiert auf unterschiedlichste Art die Metren, reimt, beinahe liedhaft, wahrt aber durchweg einen eingängigen Rhythmus, dem die mit Bedacht gewählten Worte folgen. Diese stammen nicht selten aus dem englischen Sprachraum – das war auch schon in oder tau eine deutlich erkennbares Mittel der Wahl –; deutlich abzulesen ist dem neuen Band darüber hinaus aber die schiere Fülle des Materials, das Judith Zander verwendet hat. So findet, wer das Register von manual numerale konsultiert, Anspielungen vom Barock bis zu den Beatles; entsprechend ist auch der Ton von Gedicht zu Gedicht variabel: Hier stehen, anspielungsreich und multireferentiell, Annette von Droste-Hülshoff neben Phantom/Ghost, Jim Jarmusch neben Philipp Otto Runge und Jenny Holzer neben Paul Gerhardt, zusammengehalten vom zurückhaltenden Zander-O-Ton selbst, der sich wie ein Chamäleon an seine Zitate anschmiegt:
und wo kein ausweg ist da bleibt
ein abweg und ein bleistift steht
geschrieben nicht: protect me oh
from what I want oh mund spuck aus
Geh aus mein Herz bloß raus und mach
die herzklappe von außen zu
Judith Zander gelingt mit manual numerale demnach dreierlei: Die Erweiterung ihres lyrischen Wortschatzes um ein neues, hybrides Pop-Vokabular, das ausgelassene Spiel mit den Formen und der Griff zu einem anspruchsvollen ästhetischen Konzept. Ein Mashup-Album für Beatles-Fans und Barock-Exegeten gleichermaßen, oder, um im Musikjournalismus zu bleiben: ein Smash Hit.
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