See Before Reading: Readux #4

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Don’t judge a book by its cover? Das Gegenteil ist der Fall: Bei der neuen Readux-Serie erzählt das Cover eine Geschichte ohne Worte.

Findig muss man sein: Readux Books, der kleine Verlag der Berlin-based Übersetzerin Amanda DeMarco, verlegt seit knapp zwei Jahren englischsprachige Bücher im Pixi-Format, günstig im Preis, dafür literarisch hochwertig. So konnten etwa Klassiker wie Franz Hessels Spaziergänge durch Berlin wieder neu in den Fokus gerückt und junge deutschsprachige Autoren wie Philipp Schönthaler erstmals einem internationalen Publikum zugänglich gemacht werden.

Einher damit geht stets auch eine ausgesuchte Gestaltung: Da Amanda für jede Reihe ein eigenes Coverkonzept verfolgt, unterscheiden sich die Readux-Büchlein äußerlich sehr stark voneinander: Wuselig in der ersten Reihe, geometrisch-klar in der zweiten und pop-collagenartig in der dritten Reihe.

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Für die vierte Serie, in der die Gewinnertexte des in diesem Jahr erstmals ausgeschriebenen New German Fiction Preises, Judith Keller und Inga Machel und, ganz am Rand, neue Texte des großen Eliot Weinberger erscheinen, durften André Gottschalk und Susanne Stahl ihr Konzept See Before Reading zur Anwendung bringen – und das ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert: Wirken diese Cover auf den ersten Blick chaotisch wie das Innere eines Kaleidoskops, entschlüsselt sich auf den zweiten Blick mittels eines beigefügten Codes Schicht um Schicht die Komposition der abstrakten, kräftig leuchtenden Bildflächen:

See Before Reading (…) uses visual codes to make texts comparable to each other, and potentially to help readers select among texts by making their structural characteristics visible. See Before Reading translates content into three levels of symbols: the first level indicates the genre, the second level reflects the atmosphere of the novel and the third level provides information about the narrative structure. A small legend helps readers ‘decipher’ the beautiful and seemingly abstract visual code.

Also visuelle Reize, die schon vor dem Lesen für die richtige Stimmung sorgen? Klingt märchenhaft – zumindest aber nach einem Konzept, das tatsächlich neue Wege geht und den Begriff des Covers einmal anders definiert. Besonders im Hinblick auf neue Gestaltungswege beim E-Book (Gruß an Charlotte!) könnte da vielleicht der ein oder andere hellhörig werden.

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Einen Blick in die visuellen Schlüssel kann man hier werfen.

Readux Books #4 wird heute Abend in Leipzig im Café bau bau und morgen Abend im Babylon Kino in Berlin-Mitte vorgestellt. Eintritt frei!

Hörtest: Yoofs, Girlpool, Bored Nothing

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Kakao, Apfelstrudel, Kaminfeuer: Man kann viel machen, wenn die Tage wieder kälter werden. The Daily Frown hat die Kopfhörer aufgesetzt, sich durch die Blogs gehört und mitgeschrieben: Drei Bands, die man ruhig einmal im Auge behalten sollte.

Yoofs kommen aus Bournemouth, einem Seebad im Südwesten Englands. Vermisst Three Beams etwas den flirrenden Sixties-Vibe, muss man auf der neuen Single „Can’t Think“ doch klar die Harmonien herausstellen, die diesem Jahrzehnt mindestens ebenso stark verpflichtet sind.

 

Girlpool reihen sich ein in eine immer grandioser werdende Liste von weiblichen Gitarrenformationen wie Bleached, Beaches und, zuletzt an dieser Stelle genannt, natürlich die unvergleichlichen Courtneys. Der Track „Blah Blah Blah“ überzeugt gleichermaßen durch die skeletthafte Instrumentierung und die klare Botschaft an den männlichen Adressaten.

 

Was bei Fergus Miller, der unter dem Namen Bored Nothing auftritt, genau „Musik aus den 90er Jahren mit einer super modernen Denke“ sein soll, wie der Pressetext einem weismachen will, ist schwer zu sagen. Spät-grungiges-Getüftel? Kurt-Vile-Innerlichkeit? Die Single „Ice-Cream Dreams“ bleibt jedenfalls mit ihrem vertrackten Rhythmus gut im Ohr hängen, und das Musikvideo gibt dann durch Windows-95-Programme im Hintergrund auch die zitierte 90er-Jahre-Referenz zu erkennen.

 

Zur ganzen Playlist, u.a. mit Purling Hiss, Dirt Dress und den grandiosen Dead Ships geht es hier.

Yoofs touren gerade durch England. Die erste EP von Girlpool erscheint im November. Some Songs, das zweite Album von Bored Nothing, ist heute erschienen.

Der Himmel ein Exposé für Kindheiten

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Lea Schneider legt einen Debütband voller genau beobachteter und wirklichkeitsnaher Gedichte vor, die den Utopien trotzen.

Invasion Rückwärts, im Berliner Verlagshaus J. Frank erschienen, ist nach Max Czolleks Druckkammern und Tristan Marquardts das amortisiert sich nicht die dritte Einzelveröffentlichung eines Mitglieds des Lyrikkollektivs G13, das durch Deutschland, Österreich und die Schweiz tourte und sowohl bei luxbooks als auch im SuKuLTuR Verlag bereits kleine Werkschauen vorgelegt hat.

Der Band ist, wie alle Ausgaben der „Edition Belletristik“, illustriert, und es ist berechtigt, auf diesen Umstand noch einmal erneut hinzuweisen: Der grafische Anteil steht bei dieser Buchreihe gleichberechtigt neben dem Textanteil. Der Künstler Andreas Chwatal ging in diesem Fall sogar soweit, Textfragmente in seine Illustrationen einzubauen, abzuwandeln und neu zusammenzustellen. Daraus ergibt sich im Zusammenspiel mit Lea Schneiders Gedichten ein anregender Austausch, der über die Grenzen der Kunstformen hinausweist.

Was nach dem Aufschlagen sofort auffällt, ist die große Intensität, mit der diese Texte dem Leser entgegen treten, der Form nach dem Prosagedicht nahestehend – einheitliche, in Blocksatz gefasste Absätze – und so einen dichten, dringlichen Sound entwickelnd: „wie möchten nicht drängeln, aber unser interesse an diesem film nimmt ab.“

Blick ins Buch:

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Down & Out in Brändö

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Finnische Familienverhältnisse: Der erste Teil von Henrik Tikkanens „Adressbuch-Trilogie“, Brändovägen 8 Brändö, Tel. 35, erscheint zum diesjährigen Buchmesse-Schwerpunkt erstmals in deutscher Übersetzung.

Zum Glück! Denn die von Karl-Ludwig Wetzig übertragene, fiktionalisierte Autobiografie des als Karikaturist bekannt gewordenen Tikkanen ist eine kurzweilige, bitterböse und sehr erhellende Lektüre. Auf nur 140 Seiten räumt der Erzähler mit dem selbstherrlichen Bild der finnlandschwedischen besseren Gesellschaft auf und hält seiner großbürgerlichen Familie den Spiegel vor. Im Ton erinnern seine Schilderungen von einer dysfunktionalen Jugend dabei bisweilen an Pétur Gunnarssons isländische Andri-Tetralogie (zur Frankfurter Buchmesse 2011 im Bonner Weidle-Verlag erschienen); was beiden sehr gut gelingt, ist das Hineinversetzen in den Blick des Kindes, das die Verhältnisse nur scheinbar naiv, in Wirklichkeit aber sehr scharfsinnig beobachtet:

(…) ohne Freiheit ist das Leben wertlos. Das muss jedes Kind in Finnland lernen. Nur lernt es nicht unbedingt, was Freiheit bedeutet, denn dann könnte es passieren, dass die Bereitschaft, sein Leben für die Freiheit zu opfern, geringer ausfällt, als für die Wehrkraft gut ist.

Tikkanen ist leider selbst dem in seinen Buch grassierenden Alkoholmissbrauch nicht entkommen und im Jahr 1984 an Leukämie gestorben. Die beiden Folgebände zu seinem Roman, Bävervägen 11 Hertonäs und Mariegatan 26 Kronohagen, liegen bislang noch nicht auf Deutsch vor.

Henrik Tikkanen: Brändovägen 8 Brändö. Tel. 35. Verbrecher Verlag, 160 Seiten, 22 €

Wie ein schlafender Mauersegler klingt

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Sandwichmaschinen sind etwas Praktisches. Man sollte aber gut auf sie aufpassen.

Im „Schloss”, dem Internat, wo Maruan Paschens Roman Kai spielt, sind sie sogar verboten und müssen deshalb in den Zimmern versteckt werden. Das ist aber noch nicht das Seltsamste an diesem Debüt, das in diesem an spannenden Neuerscheinungen nicht gerade armen Bücherherbst mit irisierender Bizzarerie hervorsticht.

Kai, die titelgebende Person, lernt man zuerst einmal nicht kennen. Der Ich-Erzähler ist damit beschäftigt, in seiner neuen Bleibe anzukommen. Aber das hier irgendetwas im Argen ist, fällt schnell auf: Die kurzen, in Miniaturform abgefassten Beobachtungen, die er tätigt, zeugen von einer verzerrten, auf eklatante Weise verschobenen Wahrnehmung, die andauernd Nebensächlichkeiten in den Fokus rückt, wichtige Zusammenhänge ignoriert und immer genau dann abschweift, wenn es spannend wird. So funkelt diese Erzählung wie ein geschliffener Edelstein: Nie bekommt man genau in den Blick, was abläuft, ja, mehr noch, jeder Leser wird dieses Buch anders lesen, andere Details hervorheben, andere Beobachtungen machen.

Man kennt diesen unzuverlässigen Erzähler von so unterschiedlichen weltliterarischen Vorgängern wie William Faulkner oder Joseph Roth, nicht zufällig ist besonders die klassische Moderne eine Epoche, die dieses Mittel gerne zur Anwendung brachte: Krise des Erzählens, Vertrauensverlust der Sprache, entnervtes Subjekt.

Umso erstaunlicher ist es, dass Maruan Paschen diese Referenzen leichtfüßig in sein Schreiben übernimmt und mit einem eigenen, dem kurzen Format zugewandten und damit sehr poetischen Stil verbindet, der, nebenbei gesagt, auch die üblichen Internatsroman-Sujets weit hinter sich lässt:

Ich übe kurz Gitarrespielen, bin aber abgelenkt von einem Mauersegler, der vor meinem Fenster schwirrt. D-Moll, das sieht aus wie ein schlafender Mauersegler klingt. Danach kann ich vermutlich besser Gitarre spielen, vielleicht aber auch nicht.

Damit begibt er sich nicht nur in eine große Tradition, sondern führt auch ein ganz eigenes, hochspannendes Schreibexperiment durch, das in der jüngeren Autorengeneration ohne Beispiel ist. Lesen!

Maruan Paschen: Kai. Eine Internatsgeschichte. Matthes & Seitz Berlin, 101 Seiten, drei Abbildungen, 16,90 €

Dieser Artikel erscheint live zur Frankfurter Buchmesse. Maruan Paschen stellt seinen Roman Kai an folgenden Terminen vor:

Mittwoch, 8. Oktober, 18:30 Uhr: Frankfurter Kunstverein

Maruan Paschen, Jan Hoffmann, Markus Sehl und Marlon del Mestre im Gespräch zur »Tippgemeinschaft« des Deutschen Literaturinstituts Leipzig

Freitag, 10 Oktober, 17:00 Uhr: Frankfurter Kunstvererein

Lesung aus Kai. Eine Internatgeschichte

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