Ein Schweizer Wetter

Michael Fehr

Michael Fehrs Simeliberg ist ein sprödes Stück Literatur aus einem nicht ganz so idyllischen Fleck der Schweiz, das in seiner gekonnt-sperrigen Konstruktion überzeugt. Trotzdem hätte Fehr noch mehr daraus machen können.

Schweiz schwarz-weiß: Dass Schweizer Literatur mehr kann als Kuhglocken-Idylle, hat zuletzt wieder einmal Pedro Lenz in seiner Junkie-Ballade Der Keeper bin ich bewiesen, wo die Bauern sich ein Zubrot als ländliche Entzugsstationen verdienen, keiner dem anderen über dem Weg traut und sich selbst im letzten Winkel des Emmentals Ganoven und Kleinkriminelle die Klinke in die Hand geben. Michael Fehr stößt in dieselbe Richtung und räumt in seinem neuen Text Simeliberg mit dem romantischen Topos der Waldeinsamkeit auf. Statt Idylle gibt es hier jede Menge Dreck, Paranoia und militante Landjugend, auf deren Bekanntschaft man lieber verzichten würde.

Fehr hat bei einem eindrucksvollen Mundart-Vortrag im Rahmen des letztjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettlesens schon einen kleinen Einblick in sein neues Projekt gegeben, ausgezeichnet wurde er dafür mit dem Kelag-Preis. 1982 geboren, mit Ausbildung am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der Hochschule der Künste in Bern, ist er neben seiner Autorentätigkeit – Simeliberg ist nach Kurz vor der Erlösung seine zweite Buchpublikation im Verlag Der gesunde Menschenversand – auch Literaturvermittler, kuratiert das Lyrik-Netzwerk Babelsprech und kümmert sich um die Schweizer Seite des Open-Mike-Wettbewerbs.

Die abgehackte, radikal zerlegende, szenische Sprache des Vorgängerbandes findet sich auch in Simeliberg wieder. Das macht das Lesen erst anstrengend – fehlende Satzzeichen, scheinbar willkürliche Umbrüche – bringt dann aber nach einer gewissen Umstellungszeit den Lesefluss in ein gehöriges Tempo, eine Atemlosigkeit, die der unerhörten Geschichte, die hier wiedergegeben wird, sehr gut eignet.

Den kompletten Artikel lesen auf fixpoetry.com ➝

fixpoetry

Mein Miniaturterror

frank-witzel-raf

Vorwarnung: Dieses Buch ist wirklich dick. Sehr dick. 818 Seiten, mit Personenregister, um genau zu sein. Es lohnt sich aber trotzdem.

Lange gab es schon kein Buch mehr mit einem so faszinierend schön-barocken Titel wie Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Selten, vielleicht noch gar nicht, wurde so detailreich aus den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik erzählt, wohlgemerkt mit dem Blick von 2015: Frank Witzel hat, scheint es, gerade den richtigen Moment für die Veröffentlichung seines Romans gefunden, auf die sich sein Verlag Matthes & Seitz dann auch mutig eingelassen hat.

Und so steckt hier irgendwie alles drin: RAF-Terror und Beat-Club, Beichte und Dorfmief, Liebe, Paranoia und Selbstkasteiung. In loser Verwandtschaft mit obsessiven Chronisten wie Andreas Maier, der sich auf die literarische Kartografierung seiner Heimatgegend verlegt hat, lässt Witzel hessische Dorfverhältnisse der späten sechziger Jahre wiederauferstehen, in die man eintaucht, als sei es gestern gewesen. Wie ein verlorener Sohn von Oskar Matzerath füllt sein manischer Erzähler Seite um Seite mit Erinnerungen an die Jahre danach, wobei er immer wieder bewusst oder unbewusst die Kontrolle verliert und abschweift, zu Figuren wie Judas Ischariot, dem Säureattentäter Hans-Joachim Bohlmann oder eben der RAF, seinem Lieblingsthema.

Das ist ziemlich harter Stoff – aber auch auf irrwitzige Weise komisch. Witzel, der als Autor reichlich Erfahrungen mit Verschwörungstheorien, Popkultur und dem Grotesken hat (verwiesen sei etwa auf den Roman Revolution und Heimarbeit aus dem Jahr 2003), wurde nicht zu Unrecht für sein Manuskript mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet. Und so lesen sich Stellen wie die Beschreibung einer Stadtrundfahrt im Rahmen der (wohlgemerkt: fiktiven) „Hamburger-RAF-Tage“ dann folgendermaßen:

…machen wir Halt im Café Funk-Eck in der Rothenbaumchaussee (…), wo Ulrike Meinhof (…) 1958 Marcel Reich-Ranicki traf und über das Warschauer Ghetto befragte. Zu empfehlen ist der warme Butterkuchen, den wir leider zu dieser Jahreszeit nicht mehr auf der großzügigen Terrasse genießen können. Nachdem wir uns ausgiebig gestärkt haben, geht unser Ausflug weiter in Richtung Bahrenfeld, wo wir das Haus in der Friedenstraße 39 besuchen, aus dem sich Stefan Aust im September 1970 feigerweise über den Hinterhof verdrückte, als Andreas und Horst bei ihm schellten…

Für Freunde des unzuverlässigen, ja, um nicht zu sagen, paranoid-schizophrenen Erzählens ein großer Spaß – Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 ist das Buch zur Messe!

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Matthes & Seitz Berlin, 818 Seiten, 29,90 €

Dieser Artikel erscheint live zur Leipziger Buchmesse 2015. Frank Witzel stellt seinen Roman im Rahmen von „Leipzig liest“ an folgenden Terminen vor:

Donnerstag, 12. März, 12.30 Uhr: Die Unabhängigen, Halle 5, Stand E309

Donnerstag, 12. März, 19 Uhr: Café Puschkin, Karl-Liebknecht-Straße 74, 04275 Leipzig

Druck