Mit dem Kleiderbügel im Abfluss der Welt

Ann Cotten hat mal wieder das Fach gewechselt: Mit Lyophilia erscheint im Suhrkamp Verlag der zweite Band mit Erzählungen der anarchischsten der deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen.

Damit nicht genug, verzweigt sich das ohnehin schon auf eine beachtliche Größe angewachsene Werk Ann Cottens nun auch noch ein weiteres Mal. Im Wiener Sonderzahl Verlag sind zuletzt unter dem Titel Was geht? ihre Salzburger Poetikvorlesungen erschienen (The Daily Frown berichtete); davor das japanische Reisebuch Jikiketsugaki Tsurezuregusa bei Peter Engstler und Fast Dumm, amerikanische Reflexionen bei Starfruit Publications, englischsprachige Gedichte in der Broken Dimanche Press – Lather in Heaven – und natürlich das irre Versepos Verbannt!, das zuletzt im Hausverlag Suhrkamp verlegt wurde.

In Lyophilia nun geht es in das weitläufige Gebiet der Science-Fiction. Und herausgekommen ist dabei eine knallbunte Wundertüte: Von japanisch inspirierter Kürzestprosa bis zur hundertseitigen Novelle ist alles dabei. Es geht um außerirdische Sprachen, die buchstäblichen Untiefen von Wikileaks („Mit dem Kleiderbügel im Abfluss der Welt“), vermeintliche und wirkliche Geistererscheinungen am Kahlenberg in Wien („Nepomuk“), prekäre Arbeitswelten der Zukunft („Putztruppenweiseheiten“) und eine entlang des klassischen H.G.-Wells-Romans erzählte psychedelische Zeitreise im Prenzlauer Berg. Die Kernstücke bilden zwei jeweils weit über hundert Seiten lange Erzählungen, deren kleinster gemeinsamer Nenner möglicherweise die Liebe ist: „Proteus oder Die Häuser denen, die drin wohnen“ über eine Affäre, die sich über mehrere Paralleluniversen erstreckt und „Anekdoten vom Planeten Amore (Kafun)“, in der auch die titelgebende Lyophilisation zur Sprache kommt:

Wir patentierten einen Lyophilisator des Geistes, ein Konkurrenzprodukt zum Coder Kant der Uni Osaka, das unter dem Namen Hegelator zugleich als Treiber hinter einem der beliebtesten Rides im Philosophenpark wertvolle Konversationserfahrungen machte, Industriespionage nicht ausgeschlossen. Die Künstlichen fanden an den Denkweisen ihrer Menschen nostalgischen Geschmack, auch wenn sie es lästig und auch eklig fanden, dieses Denken andauernd in Feuchtform um sich zu haben. Vieles, was Psychologie, Philosophie und Literatur formuliert hatten, stellte sich auch nach der Erforschung der Muster als verblüffend treffend heraus, wie ja auch die Entdeckung des Periodensystems der Elemente das Kochen und sein Vokabular nicht wesentlich veränderte.

Alles klar? Was sich schon im schaudernden Fächer zeigte, wird hier bestätigt: Ann Cotten ist auch als Erzählerin nicht zu stoppen. Grandios verplaudert, mitunter auch nervtötend in ihrer Ausführlichkeit, sprudeln ihre Geschichten munter über die 463 Seiten, die Lyophilia umfasst. Dabei ist es nicht einmal klar, ob Lyophilia wirklich als Science-Fiction-Band verstanden werden kann: Wirken Erzählungen wie „Nepomuk“ und das kurze Dialekt-Stück „Tullner Creeks“, die durchaus Tagebuch-Charakter haben, nicht nah an der Realität? Nicht immer jedenfalls ist die Grenze zum Spekulativen klar zu ziehen.

Vielleicht hat sich die durchaus dem Blödeln nicht abgeneigte Autorin hier aufs Neue selbst übertroffen. Festgehalten werden kann zumindest das: Langweilig wird es uns mit Ann Cotten noch lange nicht werden.

Ann Cotten: Lyophilia. Erzählungen, Suhrkamp Verlag, 463 Seiten, 24 €

Welcome to Miami

Nach Lärm und Wälder legt Juan S. Guse seinen zweiten Roman vor – in Neonfarben leuchtend und dick wie ein Ziegelstein kommt Miami Punk daher.

Wie in der von Paranoia geprägten Prepper-Welt des Vorgängers macht sich Guse auch hier daran, eine ganze Welt zu erfinden, die der unseren auf eine unheimliche Art ähnlich sieht. Zugrunde liegt ein entscheidendes Gedankenspiel: Was würde passieren, wenn sich der Atlantik vom einen Tag auf den anderen von der Ostküste der Vereinigten Staaten zurückzieht?

In Miami, einer Stadt, die mit ihrem berühmten Sandstrand wie keine andere das Freizeit-Paradies im Hochglanzformat verkörpert, passiert genau das. Erzählerisch wird dieses Phänomen nun über mehrere Stränge erforscht: Über eine junge Programmiererin, die an ihrem opus magnum, einem Rollenspiel, das sich selbst fortschreibt, arbeitet; über Teilnehmer eines geheimnisvollen Kongresses, der dauerhaft in einer futuristischen Hochhaussiedlung tagt; über die Arbeit der „Behörde 55“, die von der Stadt beauftragt wurde, die gesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen des Meeresschwunds zu erforschen (und nebenbei dem misstrauisch beäugten Kongress auf den Zahn zu fühlen); und schließlich über eine Gruppe von Counter-Strike-Spielern, die zum letzten Turnier der legendären Version 1.6 des First-Person-Shooters nach Miami reist. Mit der Zeit kommen sich die einzelnen Handlungsträger näher, und eine dunkle, bedrohliche Atmosphäre legt sich über das Geschehehn; dazwischen darf man sich auf die Bekanntschaft mit Ringer-Verbänden, Todesschwadronen, Verschwörungstheoretikern aller Art und Pilgern, die das Meer suchen, freuen; es gibt einen Katalog herabfallender Dinge, die aus dem Hochhauskomplex geworfen werden, Planspiele ganzer Wirtschaftssektoren, die ihre Arbeit verloren haben, aber trotzdem ihren Tagesablauf aufrechterhalten, und die Lebensgeschichten ehemaliger professioneller Dauerwerbesendungs-Schauspieler nachzulesen.

Juan S. Guse erweist Science-Fiction-Klassikern wie J.G. Ballard oder Stanislaw Lem ebenso die Referenz wie professionellen Spieleentwicklern und der kulturellen Bedeutung, die Computerspiele bereits heute haben. Trotz des hohen erzählerischen Anspruchs lässt sich das mit 634 Seiten keineswegs leichtgewichtige Buch erstaunlich zügig lesen: Durch einen geschickten Umgang mit der Informationsvergabe wird erzählerisch in jedem Kapitel gerade immer genug offen gelassen, dass man man mit Spannung darauf, was als nächstes passiert, sofort weiterliest. Für Nerds gibt es außerdem noch jede Menge Anspielungen auf Vorbilder von David Foster Wallace über Kathy Acker bis hin zu Claude Lévi-Strauss zu entschlüsseln; ein geheimes Bonuslevel, das sich über im Text verstreute Internet-Adresse und erwähnte WLAN-Zugänge freischalten lässt, existiert natürlich ebenfalls. Stefan Härtel von Bookster HRO prognostiziert bereits „Kultstatus“; Marten Hahn meint auf Deutschlandradio Kultur: „Es dauert lange, bis man weiß, ob Miami Punk großer Mist oder großes Kino ist“, schließt dann aber mit dem Fazit: „Ein Werk mit magischer Qualität.“ Zauberhaft ist tatsächlich auch die Titelillustration der Cyberpunk-Künstlerin Alice Conisbee, die an dieser Stelle, wie auch die herstellerische Gesamtverarbeitung, noch einmal eine besondere Erwähnung verdient – und Miami Punk zu einem gelungenen Gesamtkunstwerk macht.

Juan S. Guse: Miami Punk, S. Fischer, 640 Seiten, 26 €

Buchpremiere am 7. März 2019 um 19:30 Uhr im Berliner Ringtheater

Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (4/4)

Die nun folgenden Kapitel verweisen noch einmal deutlich auf die dem Roman zugrundeliegende Funktion, nämlich dass er selbst Produkt einer gigantischen Rechenoperation ist: Ein Witzearchiv, eine Sammlung verworfener Motti, ein Abkürzungsschlüssel sowie ein Personenverzeichnis markieren den Übergang zum letzten Viertel von Dunkle Zahlen. Dann wird es wagemutig: In noch einer weiteren Handlungsebene, die im Paris des Jahres 1987 spielt, wird der belgische Geheimagent Dupont eingeführt, der zum Schein für die Softwarefirma IBM arbeitet. Leonid Ptuschkow dagegen, inzwischen schon ein alter Bekannter, begegnet uns wieder im Jahr 1974: Erneut ist er fasziniert von der poetisch durchdrungenen Idee, das universelle Computerprogramm, mit dem sich die Geschichte der Menschheit vorhersehen lässt, zu schreiben (Verweis auf den Dichter Teterewkin!). Auf der Programmierer-Spartakiade im Jahr 1985 wird zunächst zu Geheimdienstlerin Jewhenija Swetljatschenko geschwenkt, die, wie nun klar wird, das Computerprogramm aus dem verschollenen Gepäck des kubanischen Jugendtrainers Eduardo Piñero an sich gebracht hat, dessen ausgefeilte Analysemethoden für die Arbeit der Staatssicherheit enorm hilfreich sind. Dupont, der belgische Geheimagent, ist inzwischen in Moskau angekommen, wo er geheime Bänder, getarnt als Kassetten mit russischer Volksmusik, sowie eine geheimnisvolle rote Kladde durch verschiedene Stationen (darunter eine Spielzeugfabrik) transportiert, bis er unversehens einen Schlag gegen die Schläfe erhält. Leonids Erzählstrang bewegt sich nun zielstrebig auf das Jahr 1985 zu: Wir treffen 1981 am Grab seiner Eltern wieder, er ist schon Trainer der russischen Programmiererauswahl und soll für Erfolge bei der ersten Spartakiade sorgen. Doch wie geht es eigentlich mit der abenteuerlichen Mission von Mireya Fuentes weiter? Nachdem sie sich (unter Drogeneinfluss?) auf der Party in der kubanischen Botschaft in ein Vogelwesen (!) verwandelt und einen Rundflug über Moskau unternommen hat, ist sie in das Badezimmer der Botschaft zurückgekehrt, wo sie in der Badewanne zwar wieder in ihre menschliche Form zurückfindet, gleich aber die nächste fantastische Reise antritt, die sie diesmal in die Kanalisation führt. In einer Säulenhalle trifft sie auf ein Kind und einen liebestollen Zwerg, wird dekontaminiert und angewiesen, Schutzkleidung anzulegen – Schnitt! Die Programmierer-Spartakiade dauert an, das sowjetische Team muss herbe Verluste einstecken, der Ausgang des Trainerwettkampfs ist wegen Mireyas Abwesenheit offen. Mehrere kurze Kapitel aus auf wildeste zusammengewürfelten Zeiten (1989, 1996, 2019-2021) greifen nun noch einmal die wichtigsten Motive des Romans auf und variieren diese in bester Zufallsgeneratoren-Manier, bevor es zum großen Finale kommt: In einer Art Graphic Novel ohne Bilder, also mit leeren grauen Rechtecken, wird Mireyas Geschichte ausschließlich über Fußnoten zu Ende erzählt. Sie befindet sich nach ihrer Dekontamination in einem weiß gekachelten Laborraum, wo ihr eine Apparatur mittels Linsen und Spiegeln wundersame Bilder zeigt. Der Schluss: Ein Zoom auf ihre geweitete Pupille, in der sich der Himmel spiegelt.

Im letzten Viertel will, so scheint es, Dunkle Zahlen noch einmal alles an Einfallsreichtum und fantastischen Ideen aufbieten, auch in formaler Hinsicht: Zwischen die Kapitel gestreut ist ein Programmcode und ein Kreuzworträtsel, auch das Schlusskapitel, das quasi nur aus Fußnoten besteht, ist eine gelungene Irritation der Lesegewohnheiten. Viele Fragen bleiben aber doch offen, auch scheint sich der Strom der verschiedenen Handlungsstränge doch etwas zu verheddern und um eine Auflösung verlegen. Wer eine linear erzählte Mystery-Story erwartet hat, wird diesen Roman ohnehin schnell beiseite gelegt haben, das ist klar. Doch auch dem von komplex und ambitioniert angelegten Romanen begeisterten Leser wird es zeitweise etwas zu haarsträubend und verschachtelt. Hier liegen die Stärken vor allem in der ersten Hälfte des Romans, die durch liebevolle Figurenzeichnung und die originelle Setzung des gesamten Themas überzeugt. Gesamtfazit also: Ein abenteuerliches Leseerlebnis, das am Ende ein wenig zu viel Geduld verlangt!

Matthias Senkel: Dunkle Zahlen, Matthes & Seitz Berlin, 488 Seiten, 24 €

Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (3/4)

Aufgabe der Meschpoweff, für die Dmitri Sowakow inzwischen arbeitet, ist die Effektivitätssteigerung der gesellschaftlichen Produktionsprozesse mittels neuartiger Rechenapparate – was nicht überall auf Gegenliebe stößt. So ist man sich im Strömungsmaschinenkombinat Krschischanowski (ein herrlicher Zungenbrecher!) über den versprochenen Fortschritt durch Effektivität nicht so sicher und befürchtet eher Mehrkosten durch die Anschaffung der Computersysteme.

Schnitt ins Jahr 1999: Die Zwillinge Sjarhej und Palina Aljaksejewna Morschakin, Ex-Teilnehmer der Programmierer-Spartakiade, sind inzwischen Inhaber der Softwarefirma CSM. Ihr Hobby: Das Sammeln seltener Spielautomaten und historischer Rechner. Ein mysteriöser Schweizer hat ein ganz besonderes Objekt für sie: Eine echte GLM! Im Gegenzug verlangt er eine Hacker-Operation, „eine minimal-invasive Maßnahme, eine langfristige Geschäftsperspektive, sozusagen“…

Auf knapp zwei Seiten wird nun wieder eine Episode aus der Zeit des mysteriösen fiktiven Dichters Teterewkin eingeflochten – Alexander Puschkin und ein gewisser Leo Sorokin, verabreden sich zum Duell, das dann aber doch nicht stattfindet, dafür dichten sie gemeinsam ein Sonett unter dem Pseudonym Teterewkin – worauf es wieder zurück ins Jahr 1963 zu Dmitri Sowakow geht. Dieser hat sich, nachdem doch einige Pilotprojekte zur angestrebten Effektivitätssteigerung der volkseigenen Betriebe in Gang gebracht werden konnten, erst einmal eine Kur in den vielgerühmten Mineralwasserbädern des Kaukasus verdient. Dort trifft er unverhofft auf eine alte Bekannte: Jewhenija Swetljatschenko. Ebenso unverhofft macht sie sich auch wieder aus dem Staub, taucht aber schon bald ein zweites Mal wieder auf: Dmitri wurde mit einem neuen Auftrag bedacht, der ihn an einen unbekannten Ort führt (es geht durch Schächte, Minen und unterirdische Büros), wo Jewhenija ihn schon erwartet, was auch langsam etwas Licht in ihre Funktion bringt: Sie vertritt den Geheimdienst, der auf seine Arbeit aufmerksam geworden und seine Hilfe braucht, um an mathematisch erstklassig ausgebildete Mitarbeiter zu kommen.

Zeitsprung ins Jahr 1985: Ein Blick hinter die Kulissen der Programmierer-Spartakiade zeigt ein ausgefeiltes Überwachungssystem, das sämtliche Gespräche der Teilnehmer aus den Hotelzimmern mitschneidet; großes Ungemach bereitet dem Abhörspezialisten Kusmitsch dabei allerdings, dass die belauschten Gespräche größtenteils aus Belanglosigkeiten und groben Witzen bestehen. Mireya Fuentes unterdessen scheint in ihrer Mission weiterzukommen: Von ofiizieller Stelle in der kubanischen Botschaft erhält sie eine Vollmacht zur Abholung des Koffers von Trainer Eduardo, in dem die Bänder zur Teilnahme am inoffiziellen Trainerwettbewerb aufbewahrt sind. Leider hat sie, am Flughafen angekommen, wieder Pech: Das gesamte Gepäck ihrer Mannschaft sei auf Geheiß der Botschaft schon wieder auf dem Rückweg nach Kuba! Frustriert beschließt sie, um auf andere Gedanken zu kommen, den Abend auf einer Feier der Botschaft zu verbringen.

Nach einem etwas jähen und überraschend fantastischen Ende des Kapitels finden wir uns erstmals in diesem Roman auf einer Zeitebene in der Zukunft wieder: Im Jahr 2023 hört sich ein bereits vom hohen Alter gezeichneter Leonid Ptuschkow Tonbandaufnahmen an, die seine Verbindung mit Dmitri Sowakow und Jewhenija Swetljatschenko (die nun mit dem neuen Nachnamen Arsenjewna auftritt) erhellen. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Programmierer-Spartakiadenkomitees arbeitete Dmitri mit Jewhenija zusammen, die im Auftrag des Geheimdienstes die Aufgaben der teilnehmenden Kader so gestaltete, dass komplexe Missionen wie etwa die Kalkulation von Raketenabfangmanövern von diesen unbewusst gelöst wurden. Der Trick: Durch die Zerlegung in harmlose Teilaufgaben, deren Lösungen später miteinander kombiniert wurden, schöpfte keiner der Teilnehmer Verdacht. Eine weitere Mission, für die gestiegenen Rechnerkapazitäten eingesetzt wurden, war die „Witzeabwehr“: Hier gibt das folgende Kapitel weiteren Aufschluss, dass die bereits bekannte Rechenmaschine GLM im Einsatz zeigt. Durch eine Analyse von Lochkarten, die einer Rasterfahndung gleicht, soll es ihr gelingen, den Urheber eines bestimmten in der Bevölkerung kursierenden politischen Witzes zu bestimmen. Doch noch ist der Prozess nicht hundertprozentig ausgereift…

Fortsetzung folgt! Der vierte und letzte Teil des Dunkle Zahlen Lesetagebuchs erscheint am 8. März 2018. Neuigkeiten auch auf Twitter und bei Facebook.

Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (2/4)

Weiter im Text: Heute geht es unter anderem in die DDR und nach Kuba, und ein Mathematiker wird zum Dichter.

Der Ausflug in die Biografie des fiktiven Dichter-Programmierers Gavriil Efimović Teterewkin im Kapitel „Nachwort“ wird gefolgt von einer kurzen Ergänzung („Paradigmenwechsel“), die von einem Zusammentreffen des „vermeintlichen Großneffens“ Teterewkins, Rodion Woronin, mit Lenin und Maxim Gorki auf der Ferieninsel Capri berichtet. Er kündigt an, das unvollendete Werk seines Großonkels, die Erfassung der Welt in einem gigantischen Poem durch automatisierte Schreibverfahren, zu einem glorreichen Abschluss zu bringen. Seinen Zuhörern ist es aber eher an einer Partie Schach gelegen – und außerdem sei Teterewkin doch ästhetisch vornehmlich ein Produkt der Herrschaftssysteme des 19. Jahrhunderts, die der Sozialismus zu überbieten suche.

Zurück ins Jahr 1985: Mireya Fuentes gelingt es nach einer wilden Taxifahrt tatsächlich, den Fahrer zu finden, der das kubanische Spartakiaden-Team in die Quarantänestation des Chowrinskaja-Krankenhauses im Leningrader Rajon gebracht hat. Das Krankenhaus stellt sich heraus als ein gespenstischer Ort: Zu großen Teilen noch Baustelle, aber von Arbeitern keine Spur. In einem etwas versteckt liegenden Flachbau trifft Mireya dann aber endlich ihr Team, allesamt wohlauf, von schwerer Krankheit keine Spur, doch auch behandelnde Ärzte sind für keine weitere Auskunft zu erreichen. Um die Chance zu nutzen, zumindest noch beim internen Trainerwettbewerb der Spartakiade einen Erfolg zu verbuchen, bekommt Mireya nun von Teamtrainer Eduardo den Auftrag, seinen Koffer ausfindig zu machen. Die dort verwahrten Bänder mit dem Programmiercode müsse sie nur in seinem Namen zur Startzeit in einen Computer einlegen und den Startbefehl geben, um das Programm zu starten.

Damit kehrt Mireya zum Austragungsort zurück – und nun kommt es zur ersten Verknüpfung der Erzählstränge: der sowjetische Trainer, den Mireya kurze Zeit später während einer Versammlung im Untergeschoss des Hotels „Kosmos“, wo die Programmier-Spartakiade stattfindet, zusammen mit den anderen kennen lernt, ist niemand anders als Leonid Ptuschkow, der im bisherigen Romanverlauf erst als junger Mann auftrat! Auf diesen richtet sich nun auch wieder die Aufmerksamkeit: In seiner Zeit im Krankenhaus hat er die schöne Nadeschda kennen gelernt, mit der er bald nach seiner Entlassung nach Moskau zurückkehrt. Er versucht, sein Studium der Angewandten Mathematik wieder aufzunehmen, doch das fällt ihm sichtlich schwer. Konzentrationsschwierigkeiten und Kopfweh machen ihm zu schaffen, er wirkt abgelenkt, und beginnt stattdessen aus einem plötzlich aufkommenden inneren Impuls heraus, Gedichte zu schreiben: „Statt Binären und Programmierbefehlen spukten ihm rhythmisierte Wortgruppen durch den Kopf“. Mit der Zeit kehrt die Konzentration zurück, doch Leonid macht sich Gedanken: War er nicht in einer ähnlichen Stimmung, damals, als er Sergei Alexejewitsch sein Notizheft mit mathematischen Versuchen präsentierte? Auf der Suche nach Antworten kehrt er in seinen Heimatort Feofania zurück, hat dort eine Epiphanie und macht sich an die Abfassung eines Traktakts über die „Automatisierte Ermittlung der Leistungsfähigkeit Künstlicher Intelligenzen“. Er wird eingeladen, die neue Forschungseinheit OMEM zu unterstützen, wo er zum zum ersten Mal in Kontakt mit der ominösen Rechenmaschine GLM und einer großen Menge Lochkarten kommt.

Hier schwenkt die Erzählung zu einem Betriebsausflug einer Gruppe DDR-Geheimdienstler auf die Insel Warenz in den frühen sechziger Jahren. Kleinwerth, der spätere Trainer der DDR-Auswahl bei der Internationalen Programmier-Spartakiade, ist mit von der Partie, außerdem Achim Zwierer, der einen Geheimauftrag erhält, der mit der Beschaffung einer Rechenmaschine zu tun hat.

Neuer Handlungsort Kuba, im August 1961: Juri Gagarin, der erste Mann im All, besucht mit einer Entourage die Hauptstadt Havanna, darunter ein gewisser Oberst Bolaño; außerdem Personenschützer Sergei Bogosian, der es bald mit der etwas zudringlichen Plakatmalerin Aldonza Fuentes zu tun bekommt und mit ihr eine Nacht verbringt. Könnte sich hier ein Rätsel in Mireya Fuentes‘ Familiengeschichte lüften? Dmitri Sowakow indes, der schon länger nicht mehr auftrat, kehrt, im Jahr 1962, als Inspekteur der sogenannten „Meschpoweff“ zurück in die Handlung.

Es wird kompliziert: Während sich nach und nach die Bezüge der verschiedenen Handlungsebenen herausschälen, bereitet es beim Lesen mitunter Schwierigkeiten, den rasanten Zeitsprüngen zu folgen. Mit großer Hingabe ist beispielsweise die Geschichte von Leonid Ptuschkow erzählt (hier wurden beim Handlungdsprotokoll bewusst einige Auslassungen gemacht) – muss dann wirklich der in DDR-Strang hineingrätschen? Die Antwort darauf, was es nun wirklich mit der Quarantäne der kubanischen Programmierer auf sich hat, scheint sich der Erzähler absichtlich für später aufzuheben: Hier kommt es schon zu leichten Frustrationserscheinungen.

Fortsetzung folgt! Der dritte Teil des Dunkle Zahlen Lesetagebuchs erscheint am 1. März 2018. Neuigkeiten auch auf Twitter und bei Facebook.

Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (1/4)

Eine „wilde und manchmal fantastische Erzählung“, ein „schillerndes Mosaik“, ein Roman „so unberechenbar wie die Geschichte selbst“: So wurde Matthias Senkels neuer Roman Dunkle Zahlen in der Frühjahrsvorschau des Verlags Matthes & Seitz Berlin beworben. In Leipzig war man angetan: „Eine anarchische Hommage an den Unernst“ befand die Jury und setzte das Buch auf Nominierungsliste für den Preis der Buchmesse. Für Lothar Müller war in der Süddeutschen Zeitung der Fall klar: Dunkle Zahlen sei nichts weniger als „eines der witzigsten, übermütigsten Experimente in der Gegenwartsliteratur“.

Grund genug, genauer hinzuschauen. Und da Dunkle Zahlen mit etwas unter 500 Seiten ein durchaus ausladender Roman ist, soll dies in den kommenden Wochen in der Form eines Lesetagebuchs geschehen, einer Form, die schon einmal Anwendung fand bei Thomas Pynchons komplexem Cyberspace-Roman Bleeding Edge. Angelegt ist das Lesetagebuch auf vier Teile, der erste Teil behandelt die Seiten 1-113.

Zack, Zack, gebe ich ihre Zahlen ein und tippe, zack, zack noch ein paar dazu, dann läuft die GLM heißer – so viel verstehe ich immerhin von den wundersamen Werken unserer Altvorderen.

Weißer Umschlag, schwarzer Titel, keine Autorenangabe: Kryptisch, „wie ein Rebus“ (Lothar Müller) präsentiert sich die äußere Aufmachung von Dunkle Zahlen. Allein die Rückseite verzeichnet Autor und Verlag, liefert einen kurzen Klappentext sowie einen Blurb von Olga Martynova: „Eine Parabel, die auch vor der Zukunft warnt“. Parabel? Schon ein erster Wink zur möglichen Rezeption? Aber erst einmal das Buch aufgeschlagen – und da folgt auch schon die zweite Irritation: Unvermittelt beginnt ein Textabsatz, in dem ein gewisser Motja von zwei Annuschkas darum gebeten wird, Teewasser für eine größere Gesellschaft aufzusetzen – was er auch prompt tut, indem er in eine nicht genauer definierte Maschine mit dem Namen GLM zwei Zahlen eingibt, worauf diese heißzulaufen beginnt. Die nächste Seite zeigt einen schwarzen Bildschirm mit ein paar Zeilen russischem Programmcode und der Erklärung, dass es sich hier um den Startbildschirm der Literaturmaschine GLM-3 handelt, die quasi auf Knopfdruck „das unvollendete Poem Dunkle Zahlen“ ausspuckt. Und wirklich: Jetzt erst folgen Titelseite, Verlagsangabe sowie der Vermerk „Deutsch von Matthias Senkel“, weiters ein Inhaltsverzeichnis in der Anmutung eines Schaltkreises, und das erste Kapitel „MSMP#01“, das in Moskau am 27. Mai 1985 einsetzt.

Die metafiktionalen Zeichen sind gesetzt: Wir sollen es hier also mit einem computergenerierten Roman in russischer Sprache zu tun haben, der von Matthias Senkel lediglich ins Deutsche übertragen wurde. Eine ziemliche Volte zur Eröffnung! Dafür ist man im ersten Kapitel gleich mitten im Geschehen: Es sind sieben Stunden bis zur Eröffnung der zweiten Internationalen Spartakiade der jungen Programmierer in Moskau, und der Vorsitzende Dmitri Sowakow muss sich mit der unangenehmen Geheimdienstlerin Jewhenija Swetljatschenko herumschlagen, die eine nicht so ganz saubere Abhöraktion zu planen scheint. Ein kurzes Stimmungsbild – dann ist das Kapitel schon wieder zu Ende und wir springen ins Leningrad des Jahres 1948. Hier treffen wir auf den jungen Leonid Ptuschkow, einen wissbegierigen Schüler, der in seinem Notizheft mathematische Operationen improvisiert. Diese lassen Sergei Alexejewitsch Lebedew, Leiter eines örtlichen Labors, aufhorchen und alle Hebel in Bewegung setzen: Dieser Junge braucht einen Studienplatz in Moskau! Zurück im Jahr 1985 muss Mireya Fuentes, die Dolmetscherin des kubanischen Teams der Programmierer-Spartakiade feststellen, dass die Kader-Auswahl zwar in Moskau gelandet, aber aus unbekannten Gründen mit sofortiger Wirkung unter Quarantäne gestellt wurde. Da aufgrund der Zeitverschiebung niemand in Kuba zu erreichen ist und die Zeit drängt, beginnt sie, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Eingeschoben wird nun ein erneuter Rückblick in die Jugend der Geheimdienst-Majorin Jewhenija Swetljatschenko, die sich in einer vorerst nicht näher bezeichneten „nordrussischen Industriesiedlung“ ihre Sporen verdient, nachdem sie schon in ihrer Kindheit ausgeprägten detektivischen Spürsinn bei der Klärung von Nachbarschaftsstreitigkeiten an den Tag gelegt hat. Von Dmitri Sowakow erfahren wir ebenfalls mehr: Dieser arbeitet, bevor er Vorsitzender der Programmier-Spartakiade wurde, an experimentellen Stadtentwicklungsmodellen, die der herrschenden Parteilinie aber zu progressiv erscheinen. In der Konsequenz sieht sich auch Dmitri in die Provinz verschlagen, namentlich einem Arbeitslager, in dem im Akkord Rechenoperationen „für Forschung, Produktion und Verwaltung“ des Landes durchgeführt werden. Dmitris Aufgabe ist es, diese Prozesse zu optimieren und das Lager auf eine bevorstehende Automatisierung der Rechenleistung vorzubereiten. Nach einem enzyklopädieartigen Einschub über den Begriff der „dunklen Zahlen“ und ihre Bedeutungen richtet sich der Fokus wieder auf Leonid Ptuschkow, der mittlerweile am Institut für Angewandte Mathematik in Moskau studiert, wo er sämtliche Komilitoninnen und Komilitonen mit seinem Können überflügelt. Aus dem bequemen Studentenleben reißt ihn jäh ein Einberufungsbescheid – er muss fortan seine mathematische Begabung der Armee zur Verfügung stellen. Kurz bevor er sich zum unfreiwilligen Dauereinsatz verpflichtet sieht, wird er jedoch durch einen Unfall, der ihn für einige Zeit ans Krankenbett fesselt, aus dem Spiel genommen.

Die Hauptfiguren scheinen gesetzt: So ist zumindest zu hoffen, denn schon jetzt fällt es schwer, den Überblick über die verschiedenen Handlungsebenen zu behalten, die Matthias Senkel einführt. Ob und wie diese zusammengeführt werden, ist zu diesem Punkt völlig offen. Die Sowjetunion der fünfziger und achtziger Jahre schildert Senkel mit einem Auge fürs Detail, das intensive Recherche vermuten lässt. Voraussetzungsreich ist sein Schreiben allerdings auch – Begriffe wie „Komsomol“ oder Anspielungen auf das zeithistorische Alltagsgeschehen werden nicht näher erklärt oder kommentiert. Hinzu kommt, dass man Matthias Senkel als Erzähler auch nicht trauen kann: Unversehens montiert er nach Leonid Ptuschkows Studentenjahren nämlich nun das Kapitel „Nachwort“ ein, mitnichten ein Nachwort des Romans, sondern der Schluss einer Biografie über die auf genialische Weise ausgedachte Dichterfigur Gavriil Efimovič Teterevkin (1812-1841), dessen unollendetes Hauptwerk eine Art früher Quellcode für einen Proto-Computer ist, ein „eiserner Golem“, der, so der Plan des Dichters, auf Knopfdruck die gesamte Welt erzählen soll…

Fortsetzung folgt! Der zweite Teil des Dunkle Zahlen Lesetagebuchs erscheint am 22. Februar 2018. Neuigkeiten auch auf Twitter und bei Facebook.

Rumpelstilzchen im Atomkraftwerk

matthias-nawrat-unternehmer-ausschnitt

Matthias Nawrats kurzer Roman Unternehmer ist Parabel, Märchen, Dystopie, Coming-of-age-Roman: Eine aufregende Kombination, mit Sinn fürs Detail ausgearbeitet, die leider aber an manchen Stellen übers Ziel hinausschießt oder auch einfach nur anstrengend zu lesen ist.

Die Umschlagabbildung von Unternehmer ist bereits ein klug-doppeldeutiges Sinnbild für das Thema von Matthias Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde, Biologie und später am Bieler Literaturinstitut studierte und beim Wettlesen in Klagenfurt – wie passend für diesen Roman – mit dem Preis der Kärntner Elektrizitäts-Aktiengesellschaft ausgezeichnet wurde. Als Nicht-Muttersprachler erhielt er 2013 außerdem den Förderpreis zum renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung.

Zu sehen sind zerfledderte Magnetspulen – genauso gut könnte es sich aber auch um Heuballen handeln, beides passt zum Setting dieser im ländlichen Schwarzwald verorteten Erzählung von Lipa, Berti und ihrem Vater, die als verschworene Gemeinschaft aufgelassene Fabriken nach Elektroschrott durchforsten, der gewinnbringend weiterverkauft werden kann.

Den kompletten Artikel lesen auf fixpoetry.com ➝

fixpoetry

Intergalaktische Rechtschreibung

lem-sterntagebuecher

Es ist eine große Freude, die Bücher von Stanisław Lem zu lesen. Eine noch größere Freude ist es, nach Jahren wieder in das Werk des polnischen Science-Fiction-Meisters einzutauchen und zu merken, dass die Begeisterung, als wäre sie in einer Zeitkapsel aufgehoben, wie von selbst zurückkehrt.

Selbst die kleinsten Missgeschicke erscheinen, beispielweise in den Sterntagebüchern, in einem ganz anderen, nahezu poetischen Licht, etwa dieses hier:

So hatte ich denn nicht nur nichts ausgebessert, sondern obendrein noch ein wertvolles Werkzeug verloren und mußte tatenlos zusehen, wie es sich entfernte und vor dem Hintergrund der Sterne immer kleiner wurde.

Mit dem intergalaktischen Schelm Ijon Tichy lässt es sich in der schön gestalteten aktuellen Ausgabe der Sterntagebücher unbeschwert durch das Universum reisen; schön auch der Nebeneffekt bei Science-Fiction, deren Übersetzung aus den siebziger Jahren stammt: Anachronismen wie das unreformierte daß wurden (vielleicht absichtlich, vielleicht auch aus Faulheit) beibehalten, die Reise in die Zukunft ist also gleichzeitig eine in die Vergangenheit des eigenen Lesens – und der Rechtschreibung.

Dass man den gesamten Lem (und gerade Lem!) auch problemlos in der digitalen Variante lesen kann, hat zuletzt noch einmal René Walter anhand seines Lieblingsbuchs festgehalten:

Jedenfalls: Gestern habe ich zufällig festgestellt, dass Suhrkamp Stanislaw Lems Summa Technologiae vor ein paar Wochen endlich auch digital veröffentlicht hat.

Allerdings hat Suhrkamp die E-Book-Integration auf der eigenen Seite noch nicht ganz konsequent umgesetzt, weswegen man das (wohl im Print vergriffene) Buch gar nicht erst dort findet – und sich einstweilen mit den Sterntagebüchern begnügen muss. Für alles Digitale stehen die einschlägigen Plattformen bereit.

Stanisław Lem: Sterntagebücher, aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz, mit Zeichnungen des Autors, suhrkamp taschenbuch, 528 Seiten, 10 €

Abbildung/Foto: Suhrkamp Verlag, Wikipedia