Jahr: 2015

Wagner: Der Ring – Vierteilige Dokumentation

Ich gab einmal auf diesem Blog, und das ist Ewigkeiten her, den Hinweis auf eine vierteilige Dokumentation zu Wagners Ring, die im 2012 zum 200. Geburtstag des Meisters ausgestahlt wurde. Schon bald aus der Mediathek entfernt, erhielt ich immer wieder Emails von Menschen, die auf der Suche nach ebendieser Doku auf meinen Blog stießen.

YouTube ist unser Freund:

Ich gebe zu mich in der Welt der Oper, trotz Musik-LK, trotz prinzipieller Offenheit, trotz durchaus vorhandener E-Musik-Begeisterung, nicht besonders gut auszukennen.
2013 ist aber Wagner-Jahr, der große Komponist wäre am 22.5. diesen Jahres 200 geworden; der Mann der nicht einfach gemocht oder nicht gemocht werden, sondern nur gehasst oder geliebt, ja vergöttert, werden kann. Eingestimmt habe ich mich bereits mit der Lektüre des Zeit Geschichte Hefts zu Wagner und bin gestern durch Zufall auf eine Dokumentation auf 3sat gestoßen, die wirklich eine richtig starke Einführung in die Welt des Rings bietet. Statt sich das monumentale Opus unkommentiert zu Gemüte zu führen, arbeiten Pianisten, Literaturwissenschaftlicher, Dirigenten, Autoren und Journalisten dieses häppchenweise auf: die zugrundeliegende Geschichte wird erzählt, Themen und Musik am Klavier vorgestellt und erläutert, Orchesterproben und letzlich verschiedene Inzinierungen gezeigt, sich alles chronologisch an der Geschichte entlanghangelnd.

Für Einsteiger, wie mich, genau die richtige Mischung; für Kenner und Liebhaber, sicher auch neues Hintergrundwissen und neue Bilder.

Klassiker als und der Literaturverfilmung

Da schreibt man ein Buch, das man über alle Jahre hinweg liebt, und dann muss man so was erleben – das ist als würde man seinem Vater ins Bier pissen.

Ernest Hemingway über die Verfilmung von “In einem anderen Land”

Es gibt so unglaublich viele Möglichkeiten der Rezeption eines literarischen Stoffes. Die beliebteste ist sicher die Literaturverfilmung. Man munkelt es gäbe 200 Filme inspiriert von Jules Verne Büchern, angeblich ebenso viele von Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes. Ähnliches sagt man von Bram Stokers Dracula (Nosferatu! 1922 oder mit Christopher Lee), mit 160 Versionen, 400 mal wurde Mary Shellys Frankenstein (man bedenke nur die Version von 1994 mit Robert De Niro als Kreatur oder die von 1957 mit Christopher Lee als diese).

Literaturverfilmungen wurden mit Preisen überschüttet:

Ben Hur (1959), Vorlage von Lew Wallace (1880): 11 Oscars
Herr der Ringe (2004), Vorlage J.R.R. Tolkin (1954): 11 Oscars*
Vom Winde verweht (1939), Vorlage Margaret Mitchell (1936): 10 Oscars
Der englische Patient (1996), Vorlage Michael Ondaatje (1992): 9 Oscars
Jenseits von Afrika (1985), Vorlage Karen Blixen (1937): 7 Oscars

Ebenso berühmt und Oscar gekrönt sind:

Im Westen nichts Neues, Erich Maria Remarque, 1929
Rebecca, Daphne Du Maurier, 1940
In 80 Tage um die Welt, 1956
Breakfast at Tiffany’s, 1961
Tom Jones, 1963
Der Pate, 1972

In einer Auflistung dürften natürlich Adaptionen von Don Quijote, Stevensons Schatzinsel oder Tom Sawyer und Huckleberry Finn nicht fehlen. Verfilmungen von Dumas, Defoes Robinson Cursoe oder dem Dauerbrenner Der Seewolf von Jack London. Alles Klassiker! – Nicht nur der Literatur, sondern auch des Films.

Richard Mansfield in der berühmten Doppelrolle, 1887
Richard Mansfield in der berühmten Doppelrolle, 1887

Diese Stoffe sind schon immer ein Steinbruch für Filmemacher . Die erste Adaption von Robert Louis Stevenson Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde  datiert Wikipedia auf 1908, die letzte ist hundert Jahre später entstanden. Dazu kommt eine populäre Musical Version (mit David Hasselhoff!). Die Möglichkeiten sich solche Stoffe in verkürzter, leichterer Version zu Gemüte zu führen sind vielfältig, selbst die letzten Tage Jesu kann man sich gemütlich vorsingen lassen.

Ersetzt diese Möglichkeit den Genuss des Originals? Natürlich nicht! Aber, das gebe ich unumwunden und öffentlich zu, gibt es Bücher, auf die ich in ihrer Originalfassung nicht viel Lust verspüre. Andererseits gibt es durch die vielen Ver- und Bearbeitungen immer wieder neue Wege sich einem vertrauten und gemochten Stoff zu nähern. Die Genialität von Gründgens’ Faust Inzenierung und (vor allem) seiner Darstellung des Mephisto wird einem doch immer wieder bewusst, verleibt man sich die Aufzeichnungen erneut ein. Wie angenehm, wenn man hierzu die Version aus dem Hamburger Schauspielhaus, mit Will Quadflieg als Faust, auf DVD und die Düsseldorfer Inszenierung, mit Paul Hartmann, auf CD zur Hand hat. Wer Zeit hat, kann sich auch die 22 Stunden ungekürzten Faust I & II in der Expo Inszenierung von Peter Stein mit dem grandiosen Ifflandring-Träger Bruno Ganz als den alten H.F. gönnen.

Streunt man durchs Internet findet man bei YouTube und Konsorten vielerlei Möglichkeiten sich an Adaptionen zu delektieren. Dieses Thema ist hier natürlich nur angerissen, soll vielmehr

Wie haltet ihr es mit Bearbeitungen? Ist das Original sankrosankt oder gibt es gar Adaptionen, die das Original überflügeln?

*Natürlich dabei: Christopher Lee als Saruman  


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The Graphic Canon – Weltliteratur als Graphic Novel

Der Freund des Kompendiums klassischer Literatur in immer neuen Zusammenstellungen kommt in dieser Saison nicht an der deutschen Ausgabe von The Graphic Canon – Weltliteratur als Graphic Novel von Russ Kick vorbei. Das auf drei Bände angelegte Werk* versammelt im zweiten Band Literatur von Tristram Shandy über Jane Austen bis Dorian Gray**.

Der Galiani Verlag hat einige Beiträge der englischen Ausgabe durch speziell angefertigte getauscht. Das Übergehen Goethes Faust käme der Gotteslästerung gleich, ein Fehler wäre es in diesem Zusammenhang erst recht gewesen die berühmte Bearbeitung von Flix nicht aufzunehmen. (Die mag ich zwar nicht besonders, trotzdem hat sie Maßstäbe im Umgang mit klassischen Texten gesetzt.) Aufzunehmen war ebenso nach Ansicht Wolfgang Hörners, der die Edition betreut hat, ebenso E.T.A. Hoffmann und Georg Büchner. Dass Schiller und wer nicht alles fehlt? – ein solches Werk kommt nicht ohne Auslassungen und Unfairness aus. Abweichend von der englischen Ausgabe startet die vorliegende auch mit Tristram Shandy, nicht mit dem in Deutschland relativ unbekannten Kubla Khan. Warum nicht mit Don Quijote, von dem es bereits eine Graphic Novel Adaption gibt und der ebenso wie Tristram*** den Beginn des modernen Romans darstellt? – Dann müsst ihr eure eigene Anthologie veröffentlichen!

Der Band versammelt Adaptionen von Poes Raben, Dickens’ Oliver Twist, Frankenstein von Mary Shelly, Anna Karenina, Verbrechen und Strafe, Also sprach Zarathustra, Dr. Jekyll und Mr. Hide, Moby-Dick und vielen anderen mehr. Die Umsetzungen sind so vielgestaltig wie die Vorlagen selbst. Verspielt (Oliver Twist) und minimalistisch (Walden), üppig und verstörend (Jerusalem: The Emanation of the Giant Albion), mit einem einzigen Holzschnitt auskommend (Hänsel und Gretel), modern-gargoylesk (Frankenstein) und in jeder nur denkbaren Spielart. Selbstverständlich kann daher nicht jede Version den persönlichen Geschack treffen und dies kann  gar nicht Ziel eines solchen Projekts sein. Vielmehr wird ein Querschnitt der Rezeption von Weltliteratur durch sequenzielle Kunst gezeigt.

Die Unwucht des Werks in Bezug auf Literatur des englischen Sprachraums, ist für den deutschen Leser zumutbar. Durch die Einleitungstexte wird man so auf bisher Unbekanntes stoßen, die Zumutung wird so zur Bereicherung.

Notabene: Das Buch enthält natürlich nicht den kompletten Faust von Flix und den gesamten Whitman Lyrikbestand. Es handelt sich eher um repräsentative Ausschnitte oder wahnwitzige, einseitige Zusammenfassungen (z.B. von Rattelschneck, der den Hessischen Landboten auf eine Seite eindampft, um auf einer zweiten noch einen Seitenhieb auf den veröffentlichenden Verlag unterzubringen). Es wird aber ebneso vorgeführt, dass man einen Briefwechsel in eine Graphic Novel konvertieren kann (Briefe an George Sand von Gustave Flaubert).

Am besten, obwohl die Wahl wirklich schwer fällt, hat mir die Moby-Dick Version von Matt Kish, der auch Herz der Finsternis bearbeitet hat, gefallen. Und weil ich ein fürchterlich netter Kerl bin, der artig und höflich bei Galiani angefragt hat, gibt es hiervon noch einen Haufen Bilder für geneigte Leser und Betrachter (kleiner Haufen, auf der Seite von Matt gibt es alle Bilder).


*In Amerika sind bereits alle drei Bände erschienen.

**Den Untertitel monierte meine Madame Jane Austen nicht in die Mitte der Reihe literarischer Figuren passt. Ich bin da nicht so streng.

***Tristram Shandy zählt übrigens zum Anfangsbestand der 54 und ist inzwischen in einer erschwinglichen Ausgabe (günstiger geht bei diesem Werk wirklich nicht, man vergleiche den Markt!) in neuer Übersetzung ebenfalls bei Galiani erschienen. [Nachtrag: tatsächlich ist eine Don Quijote Adaption im ersten Band enthalten, worauf mich der Verlag freundlicherweise hingewiesen hat]

Braucht mein Blog ein Impressum?

Immer wieder kommt in den sozialen Netzwerken die Frage auf, wie die Impressumspflicht für Blogs ausgestaltet ist. Bis zur nächsten großen Gesetzesänderung oder Kehrtwende der Rechtsprechung darf man beruhig von diesen Grundsätzen ausgehen.

[Stand: 16. November 2015]

Brauche ich überhaupt ein Impressum?

Nur ein Blog, der lediglich ausschließlich persönlichen oder familiären Zwecken (1) dient, ist von der Impressumspflicht ausgenommen. Sobald Du Dich mit Deinem Blog an die Allgemeinheit richtest, scheidet diese Einordnung bereits aus! Ein Impressum nach den folgenden Maßstäben ist daher in aller Regel für jeden Pflicht!

Betreibst Du Deinen Blog nicht geschäftsmäßig (2), gilt für Dich die eingeschränkte Impressumspflicht nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Rundfunkstaatsvertrag. Nach diesem hast Du Namen und Anschrift leicht erkennbar, unmittelbar erreichbar und ständig verfügbar anzugeben. Da das Angebot Deines Blogs sehr wahrscheinlich ein journalistisch-redaktionelles sein wird, ist zusätzlich ein Verantwortlicher für das Angebot zu nennen. Der Verantwortliche muss u.a. seinen ständigen Aufenthalt im Inland haben und voll geschäftsfähig (über 18 Jahre und bei Sinnen) sein.

Betreibst Du Deinen Blog geschäftsmäßig (3), so trifft Dich die strengste Form der Impressumspflicht nach § 5 Telemediengesetz. Hiernach musst Du neben Name und Anschrift, dem Besucher Angaben machen, die „schnelle elektronische Kontaktaufnahme und unmittelbare Kommunikation mit ihnen ermöglichen, einschließlich der Adresse der elektronischen Post“ (dazu sogleich), Umsatzsteuer-ID und bei zulassungspflichtigen Berufen noch weitere Angaben. Für die Geschäftsmäßigkeit reichte den Gerichten in der Vergangenheit schon alleine das nachhaltige Angebot auch ohne Gewinnerzielungsabsicht aus. Nach einer Gesetzesänderung ist nun aber entscheidend, ob Du Deinen Blog auf lange Sicht betreibst und auf Deinem Blog eine Leistung angeboten wird, die in der Regel gegen Entgelt bereitgehalten wird. Dies ist zwar nicht nur deshalb ausgeschlossen, weil zum Abrufen der Artikel keine Zahlung nötig ist oder sich der Blog hinter einer Bezahlschranke befindet, sondern es kommt darauf an, ob eigene Waren oder Dienstleistungen angepriesen werden. Nach meiner Einschätzung ist diese Voraussetzung bei rein journalistisch tätigen Blogs nicht erfüllt.

Verlinkst Du dagegen bspw. über ein Affiliate-Programm direkt auf eine Bestellmöglichkeit, dürfe es sich dagegen um eine Leistung gegen Entgelt im weitesten Sinne handeln, so dass Dich die strenge Impressumspflicht trifft. Die Höhe Deiner Einnahmen spielt dabei keine Rolle. Gleiches gilt, wenn Du gegen Geld Werbung auf Deiner Seite schaltest oder Google Anzeigen nutzt! Möchtest Du auf Nummer sicher gehen, so solltest Du Dich selbst in Kategorie (3) einsortieren.

Zwischenergebnis

Mein Blog..

(1) dient ausschließlich persönlichen und familiären Zwecken → keine Impressumspflicht

(2) ist nicht geschäftsmäßig

(2a) → Name und Anschrift

(2b) mit redaktionellen-journalistischen Inhalten → Nennung eines Verantwortlichen für den Inhalt, der über 18 Jahre ist und in Deutschland wohnt

(3) wird geschäftsmäßig betrieben → Name und Anschrift, E-Mail Adresse und zweite Möglichkeit der Kontaktaufnahme, Umsatzsteuer-ID

Wie muss ich mein Impressum auf der Seite einbinden?

Hast Du Deinen Blog nach einer der vorgenannten Kategorien eingeordnet, muss Du dafür sorgen, dass das Impressum muss in jedem Fall leicht erkennbar, unmittelbar erreichbar und ständig verfügbar ist.

Faustformel: Das heißt in der Regel, dass es egal wo auf der Seite sich der Besucher gerade befindet, das Impressum lediglich zwei Klicks entfernt sein darf.

Muss ich meine Telefonnummer im Impressum angeben?

Unterfällt Dein Blog der Impressumsplicht nach § 55 RStV, Kategorie (2), so musst Du lediglich Namen und Anschrift angeben. Die Angabe einer Telefonnummer ist nicht nötig.

Betreibst Du Deinen Blog allerdings nach der obigen Definition gewerbsmäßig – was wie gesehen sehr schnell angenommen werden kann, auch wenn kein Geld oder nur sehr wenig fließt, Kategorie (3) – so musst Du Angaben machen, „die eine schnelle elektronische Kontaktaufnahme und unmittelbare Kommunikation mit Dir ermöglichen, einschließlich der Adresse der elektronischen Post“. Die Adresse der elektronischen Post ist klar: Deine Email-Adresse.

Was aber ist eine schnelle elektronische Kontaktaufnahme und unmittelbare Kommunikation, die zusätzlich (!) bereitgehalten werden muss? Das ist unter Juristen umstritten.

Einige Gerichte gingen bisher davon aus, dass dies zwingend eine Telefonnummer sei. Nur so sei unmittelbare Kommunikation möglich. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 16. Oktober 2008 aber entschieden, dass die zweite Angabe nicht zwingend eine Telefonnummer sein muss. Es kann auch eine elektronische Anfragemaske, als ein Kontaktformular, angeboten werden. Dies ist schon daher konsequent, weil ein Anruf heute nicht mehr unbedingt die schnellste Möglichkeit ist mit jemandem in Verbindung zu treten. (Ruf mal bei mir auf dem Festnetz an, da geht den ganzen Tag keiner ran.) Der Kauf eines Prepaid-Handys und die Angabe dessen Nummer im Impressum macht dieses, meiner Meinung nach, sogar unwirksam, wenn ich das Handy in die Schreibtischschublade lege und alle paar Tage draufsehe. Dann habe ich das Handy gekauft, um die Impressumspflicht zu umgehen, denn ich bin gerade nicht unmittelbar erreichbar. Ein Kontaktformular ist, neben der Angabe der Email-Adresse, daher absolut ausreichend! Dass das Formular meist mit der bereits angegebenen Email-Adresse verknüpft und identisch ist, ist dabei vollkommen in Ordnungen. Dem Besucher soll nur nicht zugemutet werden extra eine Email über ein eigenes Programm oder durch Einloggen im eigenen Account zu schreiben.

Wie schnell muss ich antworten?

Streit besteht auch noch darüber, in welchem Zeitraum ich eine Anfrage beantworten muss und hier wird meist (vorschnell) 60 Minuten genannt. Ja, diesen Zeitraum nahm der EuGH bei einem größeren Unternehmen an. Es kann aber kleinen Unternehmen oder gar Bloggern nicht zugemutet werden, ständig innerhalb einer Stunde erreichbar zu sein. Ich müsste also einen Mitarbeiter in meiner „Redaktion“ 24/7 bereithalten, das kann nicht mal einem normalen mittelständischen Betrieb zugemutet werden, so dass man inzwischen von einer Frist von 24 Stunden ausgeht, die man Zeit hat auf Anfragen zu antworten.

Man muss hierbei auch immer im Hinterkopf behalten, dass es sich bei der Impressumspflicht nicht um Schikane des Betreibers der Seite geht, sondern um Rechtssicherheit für den Verbraucher.

Stefan Zweigs brennendes Geheimnis

Wann darf man eine neue Biographie über jemanden schreiben? Wenn tatsächlich neue Erkenntnisse erlangt wurden, unbekannte Briefe oder Tagebücher aufgetaucht sind, man anderer Meinung ist als vorherige Biographen – man einfach Lust hat?

Die Mutmaßung Stefan Zweig könnte homosexuell gewesen sein ist nicht neu, die Tagebücher wurden, wie fast sämtliche Briefe bereits akribisch ausgewertet und die Biographie von Oliver Matuschek ist noch keine zehn Jahre alt. Ulrich Weinzierl schreibt trotzdem und dies tut in erster Linie dem be- und verhandelten Autor gut, denn auch ein gemeinfreier Klassiker, soll immer wieder in Erinnerung gerufen werden und dies geht am besten mit einem kleinen Skandal. In diesem Fall einem berühmten Penis, besser dem Penis eines Berühmten.

Ich aß Müsli und trank Tee als ich das Buch las.  Instagram
Ich aß Müsli und trank Tee als ich das Buch las.
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Stefan Zweigs brennendes Geheimnis möchte dabei auch gar keine Biographie sein. Es ist vielmehr eine psychologische Studie, die Weinzierl, ebenso wie Matuschek, in “Drei Leben” unterteilt. Diese sind in diesem Fall die Ehe mit Friderike Zweig, geschiedene von Winternitz, die Untersuchung einer möglichen Homosexualität und der Schluss Zweig sei Exhibitionist gewesen. Tatsächlich neu ist hieran, wie gesagt, nicht viel. Dass die Ehe von Stefan und Friderike in vielerlei Hinsicht unglücklich war, wussten wir ebenso wie von dem sehr berechneten Werben der Dame um den späteren Gatten, dass Zweig seine Frau in den letzten Jahren zu einem Faktotum der Latifundien am Salzburger Kapuzinerberg degradierte ist nicht zuletzt aus dem Briefwechsel bekannt.

Doch eine derart genaue Beschreibung der Ehe wie bei Weinzierl aber habe ich noch nicht gelesen und hatte bisher eher Mitleid mit Friderike Zweig, hervorgerufen insbesondere durch teils harsche und sehr abweisende Briefe des Gatten. Weinzierl zeichnet dagegen ein höchst unvorteilhaftes, möglicherweise aber zutreffendes Bild. Friderike hat sehr berechnend um den berühmten Schriftsteller geworben, ihn sanft belagert und mit vorgegebener Großzügigkeit, speziell seinen Affären gegenüber, an sich gebunden. Manchmal erinnert ihr Verhalten an leichte Formen des Stalkings. Die Vereinnahmung des inzwischen Ex-Gatten ging nach dessem Tod mit der Verklärung, nicht nur des Verblichen, sondern auch der eigenen Rolle weiter; ein zum Teil wirklich garstiges Weib. Völlig unklar bleibt mir bis heute die Begeisterung Stefans für die Romane Friderikes, die diese vornehmlich schrieb, um ihn zu becircen, voller schrecklich schwülstiger, übertrieben triefiger Bilder, ja sogar widerlicher pädophiler Motive.* Weinzierl spricht zu recht von nicht bloß miserabler Literatur, hart an der Grenze zu pseudopoetischer Kindesmissbrauchspornographie.  Eine überaus kuriose Beziehung band diese beiden Menschen aneinander, ein Band, das auch nach der Scheidung nicht abriss. Weinzierl dröselt dieses anschaulich und gewissenhaft auf.

Die vermutete Homosexualität kann Weinzierl dagegen nicht belegen, zeichnet aber ein gelungenes Bild der Zeit, in der die Knabenliebe innerhalb der Intellektuellenszene nicht zwingend akzeptiert, aber geduldet und sehr häufig war. Von klassischer Homosexualität kann insoweit trotzdem nicht die Rede sein, da stets nur die griechische Jünglingsliebe zelebriert wurde, vor bärtigen alten Männern, dürfte es Stefan Zweig geschüttelt haben. Nicht ohne Grund verliebte sich Thomas Mann selbst als Großvater nur in junge Kerls. Die Wenigsten der Zitierten waren wirklich schwul, sondern in einer irgendwie merkwürdig-changierend Form des Begehrens zwischen Homosexualität und leichter Form der Pädophilie gefangen.

“Dann spazieren, Liechtenstein, schaup.”

Gerda Wegener: Les Delassements d’Eros (1925)
Gerda Wegener: Les Delassements d’Eros (1925)

Weinzierl gibt selbst zu, dass wir uns weniger im Reich der Spionage bewegen als in demjenigen der Vermutung und Andeutung, auf unsicherem Terrain. Dies betrifft nicht nur die ersten beiden Abschnitte, als vor allem den wirklich das brennende Geheimnis des Exhibitionismus behandelnden Teil. Diese Vermutung wurde bereits u.a. von Oliver Matuschek touchiert, im Ergebnis aber verworfen, und beruhte damals vor allem auf den Aussagen Benno Geigers, eines ehemaligen Freundes Zweigs, der aber nicht für die Zuverlässigkeit seiner Erinnerungen bekannt ist. Weinzierl will nun in den Tagebüchern eindeutigere Hinweise von Zweig selbst entdeckt haben. Seine Theorie fußt grundlegend auf dem Wort schaup, das er als schauprangern, im Sinne von sich selbst zur Schau stellen, als die Vornahme von exibitionistischen Handlungen übersetzt und tatsächlich ergibt die zitierte Stelle im Tagebuch so Sinn und ja, viele weitere Stellen werden schlüssig.

Doch nehmen wir an, dass Weinzierl recht hat, was heißt das für Autor und Werk? Exhibitionismus ist als Persönlichkeits- und Verhaltensstörung in Form einer Störung der Sexualpräferenz nach ICD-10 anerkannt. Doch ist diese Krankheit damals wie heute mit einer Stigmatisierung verbunden, die früher beispielsweise bei Knabenliebe so nicht verhanden war. § 183 StGB** stellt exhibitionistische Handlungen von Männern unter Strafe, für Knabenliebe gelten glücklicherweise ähnliche, ungleich schärfere Verbote. Diese Krankheit, diese Verhaltensauffälligkeit hat Zweigs Leben und Werk unzweifelhaft geprägt, ob jemand durch sein Handeln Harm angetan wurde, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden.

Viele der kompromittierenden Stellen hat Zweig sicher vernichtet, doch die zitierte Stelle (wohl von ihm übersehen, mutmaßt Weinzierl) blieb ebenso wie andere (diese anscheinend wissentlich) in den Tagebüchern, die, davon musste Zweig ausgehen, veröffentlicht werden würden, wenn sie nicht gar dafür geschrieben wurden. Ob dies eine letzte Form des Exhibitionismus des schauprangernden Zweig war? Hier fällt besonders die Diskrepanz zwischen der diskreten, fast völlig vom Ich gelösten, Autobiographie, in der nicht mal die Ehefrauen auftauchen und der intimen Selbstentblätterung auf.

Die neuen Aspekte der Persönlichkeit Zweigs werden bei der Lektüre dessen Werk sicher einfließen, nicht aber mein Lesen bestimmen. Mein Bild seiner Bücher ändert dies nicht. Denn losgelöst von etwaigen Einflüssen auf diese, tritt der Autor für mich beim Lesen erstmal als Person mit allen etwaigen Stärken und Schwächen in den Hintergrund. Die Erkenntnis um Stefans Zweig verdirbt mir nichts, sondern fügt eine neue Facette zu meiner Sicht auf einen bedeutenden Autor mit Schwächen hinzu.

Zuletzt: Vorkenntnisse sind für die Lektüre empfehlenswert, setze ich bei dem Einstieg in Spezialthemen wie dieses bei euch klugen Menschen aber voraus. Weinzierl schreibt sehr unterhaltsam, ohne den nötigen Ernst zu vernachlässigen, das Buch kann man easy wegsnacken, wie warmes Brot mit Butter, falls sich das lesen lässt. Besonderes Schmankerl, der immer wieder versteckte beißende Spott.***

Darf man auch mal sagen: das Format dieses Buchs ist perfekt, nicht zu hoch, schmal aber nicht fitzelich, großzügiger Satz. Alles richtig gemacht Zsolnay!


*Nach eigenen Angaben hat Ulrich Weinzierl sämtliche Romane von Frau Z. gelesen, fast unvorstellbar bei Ausschnitten wie:

Langsam ließ er sie zurückgleiten ins Moos. Hände kosten sie und grüßten die Kleinode ihres Leibes. Ihre Haare waren wie besonnte Seide, darunter die Pulse in den Schläfen pochten, wie kleine gläserne Hämmerchen. Auf die Wangen senkten sich die Lider herab wie bebende Schmetterlingsflügel. Ihre Lippen öffneten sich und er erschauerte, bald würde er ihre Süße kosten. Nun fühlte er die gläsernen Hämmerchen durch die feine Haut des Halses an seinem Mund und vor der Zartheit ihrer Schultern erbebte er, denn sie waren die eines Kindes. Ihre Brüstlein waren jungen Tauben gleich, die rosige Schnäbelchen aus dem Gefieder spreizten, wenn der Flügelschlag der Liebe ihrem Durste naht. Er meinte zu vergehen […] Da, als er wie ein von göttlichem Zorn Besessener über ihr raste, fühlte sie plötzlich namenlose Erlösung und während ihr ganzes Sein ausströmte in demütiger Verzückung zu randloser Ewigkeit, sah sie im ersten fahlen Licht des Morgens ihn zur Seite stürzen, als hätte Gott ihn an Felsen zerschellt.

Friderike Zweig – Vögelchen

**Hierzu die Strafrechtswissenschaft:

Die Vorschrift schützt die Selbstbestimmung über die Abgrenzung des höchstpersönlichen sexuellen Bereichs, die durch die aufgedrängte, häufig schockiernde Konfrontation mit fremder, beziehungsloser, aber gleichwohl auf das Opfer gerichteter und daher vielfach als Bedrohung empfundener Sexualbetätigung verletzt wird.

Fischer, StGB, § 183 Rn. 2

***Nicht so wie ich spotten würde, aber Spott, der in so einem ernsten Buch, eines so vordergründig ernsten Menschen, auffällt. Bspw.:

Eigentlich hatte Zweig mit dem lyrischen Dichten bereits aufgehört (was in Kenntnis seines Jugendwerks keiner riesiger Verlust war) […]

 

Rückschau – Heinrich Heine

Ich habe gerochen alle Gerüche
In dieser holden Erdenküche;
Was man genießen kann in der Welt,
Das hab ich genossen wie je ein Held!
Hab Kaffee getrunken, hab Kuchen gegessen,
Hab manche schöne Puppe besessen;
Trug seidne Westen, den feinsten Frack,
Mir klingelten auch Dukaten im Sack.
Wie Gellert ritt ich auf hohem Roß;
Ich hatte ein Haus, ich hatte ein Schloß.
Ich lag auf der grünen Wiese des Glücks,
Die Sonne grüßte goldigsten Blicks;
Ein Lorbeerkranz umschloß die Stirn,
Er duftete Träume mir ins Gehirn,
Träume von Rosen und ewigem Mai –
Es ward mir so selig zu Sinne dabei,
So dämmersüchtig, so sterbefaul –
Mir flogen gebratne Tauben ins Maul,
Und Englein kamen, und aus den Taschen
Sie zogen hervor Champagnerflaschen -Das waren Visionen, Seifenblasen –
Sie platzten – Jetzt lieg ich auf feuchtem Rasen,
Die Glieder sind mir rheumatisch gelähmt,
Und meine Seele ist tief beschämt.
Ach, jede Lust, ach, jeden Genuß
Hab ich erkauft durch herben Verdruß;
Ich ward getränkt mit Bitternissen
Und grausam von den Wanzen gebissen;
Ich ward bedrängt von schwarzen Sorgen,
Ich mußte lügen, ich mußte borgen
Bei reichen Buben und alten Vetteln –
Ich glaube sogar, ich mußte betteln.
Jetzt bin ich müd’ vom Rennen und Laufen,
Jetzt will ich mich im Grabe verschnaufen.
Lebt wohl! Dort oben, ihr christlichen Brüder,
Ja, das versteht sich, dort sehn wir uns wieder.

Heinrich Heine (1797-1856)

Sylvia Plath – Die Tagebücher

Wird auch oft gesucht: Emily Dickinson – Virgina Woolf

Grave of Sylvia Plath
Das Grab Sylvia Plaths in
Heptonstall, West Yorkshire
© Mark Anderson
CC BY-SA 2.0

Legendäre Lyrikerin und ebenso legendäre Selbstmörderin, der Name Sylvia Plath ist untrennbar mit beiden Attributen verbunden. Es kann daher keinen Text über sie geben, der beides nicht zumindest streift. Aus diesem Grund beginnt Elisabeth Bronfen ihre Studie über Plath mit der Kontroverse, ein eigentlich zu harmloses Wort für etwas, das der deutsche Jurist Störung der Totenruhe nennt (§ 168 Abs. 2 StGB), um das Grab der Dichterin*. Immer wieder wurde der Grabstein beschädigt. Die Nachkommen ließen diesen daher entfernen, doch ein anonymes Grab, das steht außer Frage, genügt nicht einer Frau, die ein solches Werk geschaffen hat, die solchen Einfluss auf die Literatur nach ihr nahm.

Der Streit, um den auf dem Grabstein stehenden Ehenamen Plaths (Hughes), lag auch daran wie Ted Hughes mit dem Erbe seiner Frau umging und wie der Feminismus Sylvia sehen will. Hughes, selbst Schriftsteller, doch bald vom posthumen Ruhm der verblichenen Frau überflügelt, war kein fürsorglicher Nachlassverwalter, sondern, so warfen ihm nicht nur die Jünger auch neutralere Außenstehende vor, vorrangig auf Schonung der eigenen Familie und Vermehrung des pekunären Erbes, als auf Förderung des Nachruhms und Heil für die Literatur(geschichte) aus. Ersteres möchte man ihm (fast) nachsehen, waren die Kinder beim Selbstmord der Mutter nebenan, nur durch nasse Handtücher, mit denen sie die Fugen der Küchentür vor Aufdrehen des Gashans abgedichtet hatte, vom eigenen Erstickungstod getrennt. Nicholas, damals erst ein Jahr alt, nahm sich fast fünfundvierzig Jahre später ebenfalls das Leben. Spätwirkungen durch den Tod der Mutter kann man zwar nicht sicher annehmen, der auf der Familie liegende Schatten dagegen ist offensichtlich. Hughes Vorsicht daher verständlich.

sylvia plath tagebücher diary diariesLetzteres ist dagegen unverzeihlich. Ted Hughes hat große Teile des Tagebuchs verbrannt, statt sie nur unter Verschluss zu halten, eine Band angeblich verloren, in vorherigen Ausgaben rigide zensiert. Die 1997 bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienene Fassung  ist aller Voraussicht nach die umfassendste Version, die noch zu erwarten ist. Denn auch nach Hughes Tod 1998 sind keine weiteren Streichungen, Auslassungen oder gar Teile wieder aufgetaucht, die angeblich verbrannten Hefte, anscheinend wirklich in Flammen aufgegangen, die verlorenen, verloren**.

Doch auch die vielen Auslassungen im vorliegenden Band können die Lektüre des fast funfhundert Seiten starken Diariums nicht weniger interessant machen. Auslassungen, die in Sorge für die vorgenommen wurden, die ihr Leben als Person in diesem Drama noch zu Ende leben müssen, so die Herausgeberin Frances McCullough. Auch wurden einige bösartige Spitzen – Plath hatte eine sehr scharfe Zunge und zwar so gut wie allen gegenüber – und Kürzungen ihrer ziemlich ausgeprägten Erotik wegen vorgenommen.

Die Aufzeichnungen setzen 1950, Plath ist 18, ein und enden 1962. Sie sind reich, üppig, voller Verlangen nach Lebendigkeit, voller hoher Erwartungen, schreibt die Übersetzerin Alissa Walser ganz richtig. Doch sie sind der Steinbruch, aus dem Plath für ihr gesamtes Werk schöpfte. Das Panoptikum eines Lebens, in dem alles dieses Ausmachende zu sehen ist: Der Schmerz und das Genie, Hoffnung und Depression, der Kampf um Anerkennung als Frau, wie als Schriftstellerin; der Lebenskonflikt einer jungen, intellektuell ambitionierten Frau in den Zwängen der 50er Jahre, in den Zwängen einer Ehe mit einem teils übermächtigen, beherrschenden Mann, in den Zwängen des Hausfrauen- und Mutterdaseins. Und bei der Lektüre wird immer wieder deutlich, warum Plath später zu einer Ikone des Feminismus wurde, nicht nur weil sie um Respekt für ihr Schaffen und ihre Rolle als Frau kämpfte, sondern eben auch weil sie daran zerbrach. Die Tragik ihres Schicksals und das Wissen um das Ende ihres Lebens machen die Lektüre besonders eindrücklich. Es ist die starke Stimme, einer immer wieder schwachen, aber nicht aufgebenden Frau, die schlussendlich zerrieben wird zwischen den eigenen Ambitionen, ihrem Genie und den Beschränkungen als Frau ihrer Zeit.

elisabeth bronfen sylvia plath coverSekundärlektüre ist nicht zwingend notwendig, um die Tagebücher zu verstehen, insbesondere da diese mit einführenden und erläuternden Worten der Herausgeberin versehen sind, doch will man die Welt Plaths erschließen, möchte man tiefer gehen, und das sollte man, nimmt man sich fünfhundert Seiten Innenleben vor, ist der Band von Elisabeth Bronfen, ebenfalls bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen, unerlässlich. Nicht immer publikumsnah geschrieben, aber tiefschürfend und nach kurzer Eingewöhnungszeit unterhaltsam, da sehr klug udn genau, setzt Bronfen sich mit dem Plath-Mythos, Sylvias autobiographischen Schriften, der Dichtung und ihrer Prosa auseinander.

Ted Hughes verabschiedete sich kurz vor seinem Tod übrigens mit dem Gedichtband Birthday Letters von seiner Frau, damals eine literarische Sensation. Zur Versöhnung mit allen Jüngern Plaths konnte dies nicht mehr führen, aber in Zusammenhang mit der Gesamtausgabe der Tagebücher, das musste man dem Mann zugestehen, die Gemeinde hatte ihn zu Unrecht verdammt. Sein Leben an der Seite Sylvias war alles andere als leicht, so Michael Maar.

Zur Lyrik wird an dieser Stelle ein zweiter Teil in Bälde folgen.

* Der Grabstein steht wieder, wie man sieht. Jäten müsste man aber mal. Stänkern und Namen ausmeißeln können immer alle, aber ein bisschen Unkraut zupfen ist dann zuviel.
** 2000 erschien eine weitere Ausgabe der Tagebücher, herausgegeben von Karen Kukil, The Unabridged Journals of Sylvia Plath, die allerdings nicht ins Deutsche übertragen wurden, in dieser sind lediglich einige Namen abgekürzt und insgesamt nur zwölf Sätze gestrichen.

S – Das Schiff des Theseus

Nora Bossong – 36.9 Grad

Von Nora Bossong stammen die beiden besten Gedichte meines Jahres. Das liegt zum einen daran, dass sie auf unserem Literaturspielplatz 54stories erschienen sind und ich allgemein wenig Lyrik lese, wenn es sich denn vermeiden lässt. Zum anderen liegt es aber daran, dass Nora Bossong hervorragende Gedichte schreibt. Und Essays. Und Romane. Und überhaupt.

nora bossong 36,9° grad hanserNun also 36,9 Grad und gleich auf den ersten Seiten bestätigt sich der Verdacht, dass die Autorin irgendwo rare Verben und Adjektive züchtet, die sie nach Bedarf ernten und servieren kann. Selten wurden in einem Buch so viele Wörter textmarkergelb unterstrichen, weil die Frauenkörper so schön schwappen und die Worte bröseln und im Erzählton eine Süffisanz schwingt, bei der man – völlig gegen die Teilnahmslosigkeitsetikette – sogar morgens in der Bahn schon grinsen kann. Stilistisch gibt es also nichts zu meckern und viel zu loben. Und auch der Inhalt ist ein klug komponierter Spiegelplot. Auf der einen Seite der italienische Kommunist Antonio Gramsci (1891-1937), ein verwachsener Revolutionär, der zwischen Verstand und Verliebtheit taumelt und schließlich in Mussolinis Kerkern dahinsiecht. In den Episoden steckt viel Recherche und ein bisschen Fiktion und Gramscis verknotete Beziehung zu den Schwestern Julia, Eugenia und Tatiana Schucht zeichnet den scharfen Denker zwischendrin als hilflosen Herzschmerzensmann.

Im zweiten Handlungsstrang tritt fast ein Jahrhundert später der leidlich renommierte Wissenschaftler Tonio Stöver auf, den schon sein Vorname zur Gramsci-Forschung verdammt und der vor seiner zerbröckelnden Ehe nach Rom zur Feldstudie flieht. Angetrieben von seinem Vorgesetzten soll Stöver ein verschollen geglaubtes Notizheft Gramscis aufstöbern, wobei der schon fast pathologische Fremdgeher jedoch die Jagd nach einem mysteriösen Lockenphantom vorzieht, das an die Schucht-Schwestern erinnert.

Im Kern von Nora Bossongs Roman finden sich zwei Männer, die an ihren Partnerinnen vorbei lieben. Gramscis Begehren, das seinen Intellekt gefährdet, wie die Frauen schon so oft den Männern den Geist vernebelt haben, existiert vor allem in Briefumschlägen und in der Ferne. Tonio Stöver dagegen ist so verliebt in das Spiel der Verführung und die Idee der Unerreichbarkeit, dass er die gegebene Präsenz seiner Frau Hedda nicht ertragen kann. Das ist ein Gedanke, der Spannung enthält, der jedoch im Roman so akribisch auserzählt wird, dass ihm spätestens in der Mitte die Luft ausgeht. Die Streitdialoge zwischen Tonio und Hedda sind choreographierte Worttänzchen, die selten über routinierte Beleidigungen hinausgehen und insgesamt ändert keine der Figuren ernsthaft etwas an ihren Haltungen. Doch während Gramsci seine Faszination durch die Gedanken zur Natur des Widerstands zumindest weitgehend behält, verblasst Tonio Stöver schließlich zu einem berechenbar eitlen Waschlappen.

Insgesamt hat der Roman etwas von einer römischen Statue: perfekt geschnitzt und doch ein wenig – man verzeihe – unter Körpertemperatur.

[Saskia Trebing]