Jahr: 2015

Februar 2015

722Lebensstufen – Julian Barnes
Michael Maar hat eine hohe Meinung von Julian Barnes und ich eine hohe Meinung von Michael Maar, daher habe ich nach Als sie mich noch nicht kannte (naja, ok) nun auch das neuste Werk Lebensstufen gelesen. Die hymnischen (F.v. Lovenberg in der FAZ) oder völlig aussagefreien Besprechung kann ich nicht nachvollziehen. Die vorgeschaltete Geschichte der Ballonfahrt und der Liebe zwischen Fred Burnaby und Sarah Bernhardt taugt nicht mal als schön erzählte Parabel (für was? die Liebe?) und das anschließende Klagelied Barnes’ auf seine verstorbene Frau verkommt zu einer wehleidigen Selbstbetrachtung. Mir soll keiner vorwerfen ich sei ein gefühlloser Trampel, aber die Litanei auf die Verstorbene erscheint mir zum Teil derart intim, dass ich sie nicht lesen möchte und dann wieder derart alltäglich, dass sie für mich keinen Mehrwert hat. Ich will den Schmerz des Einzelnen nicht klein reden, und speziell nicht den von Julian Barnes, aber die Trauer hätte er mit sich und den ihm Nahestehenden ausmachen sollen, Geld sollte man nicht dafür bezahlen.

351Die jungen Leute – J.D. Salinger
Was hat J.D. noch in seinem Nachlass versteckt? Bis dieser gelüftet wird, müssen sich die Bewunderer mit dem Wenigen bisher Veröffentlichten begnügen. Hierzu gehören auch diese drei frühen Geschichten. Bereits aus diesen des damals noch sehr jungen Mannes lässt sich der spätere Star erahnen: in den Dialogen liest man seine Lakonie, dazu seine kurzen, aber detaillierten Beobachtungen. Ob man von einem anderen Autor diese drei sehr kurzen Stories veröffentlichen würde, wage ich zu bezweifeln, dieses 80 Seiten Büchlein – in schönem roten Leinen – ist für die Fans des scheuen Titanen aber ein Muss, das Nachwort von Thomas Glavinic eine informative Beigabe. Zum Einstieg dann aber doch lieber und immerwieder Der Fänger im Roggen.

347Jahre mit Ledig – Fritz J. Raddatz
Der Mann hatte einen Plan. Einen Tag vor dem Erscheinen dieses kleinen Büchleins, seines 40., stirbt Effjott in der Schweiz. Bedenkt man Zeitpunkt und Sterbeort wird es sich wohl, wie immer angekündigt, um begleiteten Suizid handeln. Somit handelt es sich bereits, vom Erscheinungstermin her, um die erste pousthume Veröffentlichung des Verlegers, Autors, Journalisten, Essayisten, Krawallbruders, Dandys und Unruhestifters – zwei fertige Bücher liegen noch bei seinem Nachlassverwalter.
Raddatz würdigt in Jahre mit Ledig einen seiner großen Förderer Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. Viele Anekdoten kennt der geneigte Tagebuch- und Autobiographieleser bereits, aber nicht minder unterhaltsam als in den Vorwerken werden sie hier in einem wunderschönen, grünen Leinenbuch präsentiert. Blumig rauschend, elegisch schildert Raddatz wie eh und je, lobt sich und andere und nimmt mit in eine ferne Zeit im Nachkriegsdeutschland als das Büchermachen noch ein Abenteuer und Verleger noch Halunken und Schlitzohre waren.
FJR wird mir fehlen!

416Madame Bovary – Gustave Flaubert
Endlich habe ich die Neuübersetzung von Elisabeth Edl gelesen, diese verdient noch eine ausführliche Besprechung.

“Wenn ich schon etwas Neues anfange, dann richtig. Flaubert ist sozusagen der Nachkomme Stendhals, aber der Apfel ist weit vom Stamm gefallen, sprachlich und stilistisch. Außerdem hat sich bei mir auch so eine Art kleiner Größenwahn ausgebildet: Jetzt machst du die größten Romane Frankreichs neu – nach den zwei Hauptwerken Stendhals die zwei Hauptwerke Flauberts, „Madame Bovary“ und die „Éducation sentimentale“. Danach sehen wir weiter, ich habe keine Angst, dass mir der Stoff ausgeht.” Elisabeth Edl 2012 in der FAZ.

372Vor den Vätern streben die Söhne – Thomas Brasch
Siebzig Jahre wäre Brasch im Februar geworden. Als Hommage an den fast vergessenen Autor beider Deutschlands habe ich mir daher diesen kleinen Roman vorgenommen, der nach seinem Erscheinen 1977 sofort zum Bestseller wurde. Brasch, der Filmemacher, Lyriker und – wie sein Freund und Grabredner Raddatz – Unruhestifter, schildert in kleinen teils verwobenen Miniaturen das Leben in der DDR. Eine völlig andere Sicht, gerade für mich als fast Nachwendekind. Brasch ist kraftvoll, zornig, zärtlich, anklagend und nachsichtig zugleich. Mit Sicherheit nichts für jeden, aber ein besonderes Zeitzeugnis eines Autors, der hoffentlich nicht vergessen wird.

646Astronauten – Sandra Gugic
Einen modernen unaufgesetzten Ton hat die Openmike-Preisträgerin Sandra Gugic. Wenige schaffen es jugendlich zu klingen ohne es mehr zu sein ohne sich anzubiedern. Eine ausführliche Rezension wird Saskia in der nächsten Zeit liefern: “Sechs sehr unterschiedliche Menschen erzählen im Debütroman von Sandra Gugic von sich selbst, und allmählich enthüllt sich, wie ihre Wege sich überschneiden, wie sie Vertrauen fassen, es enttäuschen und doch aneinander hängen – wie sie ihre Maßnahmen gegen die Kälte der Welt treffen.” Guter Erstling bei C.H.Beck (s.u.).

060Arbeit und Struktur – Wolfgang Herrndorf
Nicht gelesen, aber gehört und immer noch wunderschön und furchtbar traurig, kraftvoll, erschüttern, lebensbejahend und verzweifelt.

“Wie ehrlich und detailliert Herrndorf seine depressiven und wahnhaften Phasen beschreibt, als hätte ein anderer als er selbst diese erlebt, gnadenlose Analysen, die immer eindringlicher werden, wenn man die gespielte Distanz aufbricht indem man sich erneut vor Augen führt, das Herrndorf über sich schreibt. Der Schmerz, den er durch literarischen Abstand zu verbergen sucht und doch offen zugibt.”

549KL, Gespräch über die Unsterblichkeit – John von Düffel
Was soll ich denn hiermit anfangen? In fiktiven Interviews und Begegnungen trifft der namenlose Journalist und Philosoph, unter anderem und vor allem den Modeschöpfer KL, aber auch das moderierende Vollweib BS oder ein Heide Simonis Double. Was als schöne Idee, nämlich das gänzlich andere Interview und Porträt von Prominenten, die sonst nur die üblichen Fragen beantworten, beginnt, verläuft ohne jeglichen Unterhaltungswert im Nichts, auch lernen tue ich nichts. Das Stärkste an diesem Buch ist die Idee für das Cover, zu Ende gelesen habe ich es nur, weil es so wenige Seiten hatte und ich immer noch auf einen Knackpunkt gewartet habe, der aber am Ende leider ausblieb.

665Das Monster von Neuhausen – Ernst Augustin
Zusammen mit von Düffel und Julian Barnes streitet sich Ernst Augustin um den Titel Die größte Zeitverschwendung des Monats. Ein Patient unterzieht sich einer Operation, die missglückt. Der zur Rechenschaft gezogene Chirurg streitet alles ab und belastet seinerseits die Gegenseite, bloß zu simulieren. Im Buch selbst wird auf knapp 110 Seiten aus Sicht des Verteidigers der Prozess gegen den sich rächenden Patienten ausgebreitet. Doch was Ernst Augustin hier lamentiert ist bei keinem Gericht in Deutschland üblich, hat keinen Witz, keine Sprache, keine Story und nicht mal eine literarische Form. Warum C.H.Beck so etwas verlegt, wenn sie eine Gugic (s.o.) verlegen können, ist mir ein Rätsel. Die Höchststrafe dieses Buch zu lesen.

130Alles ist jetzt – Julia Wolf
Ich bin befangen, mach du, sagt mir Saskia, die sich gar nicht mehr einkriegt über das Romandebüt ihrer Freundin und unserer 54stories-Autorin Julia. Ganz sicher die Überraschung des Monats, ausführlichere Rezension folgt auch hier.

Anstelle eines Nachrufs – Brief an Fritz J. Raddatz

Sehr geehrter Herr Prof. Raddatz,

die letzten Tage schlief ich schlecht, denn ich bin ein sehr schlechter Schwimmer. Doch seit ich in Hamburg wohne und die Vorstellung Ihrer Tagebücher verpasste, plane ich einen Besuch im Holthusenbad, um Sie bei Ihrem „morning swim“ zu treffen und mit Ihnen zu sprechen. So legte ich mir bereits viele Gesprächseinstiege zurecht die Situation eines Ihnen im Schwimmbad auflauernden jungen Mannes zu erklären. Da ich Sie heute aber nicht antraf, stattdessen nur ein 5 Euro teures Duschbad nahm, ich aber viel hätte sagen wollen, schreibe ich Ihnen diesen Brief.

Die große Zeit des Raddatz’schen Feuilletons in der Hamburger Wochenzeitung liegt vor meiner Geburt und erst vor knapp einem Jahr stieß ich auf Ihre Tagebücher. Zuerst skeptisch, zunehmend angezogen und später wie im Wahn las ich diese, die letzten 500 Seiten des ersten Bandes an einem Stück. Meine Freunde fuhren mir über den Mund und verbaten sich eines Abends, Sie ständig als meine Referenz zu nennen, so sehr war ich in Ihren Aufzeichnungen gefangen, so sehr bestimmten Sie in dieser Zeit selbst mein alltägliches Denken.

Ich las Ihre Autobiographie, weilte auf Sylt, verschlang dreimal, jeweils auf der Hin- und Rückfahrt und einmal am Strand, Ihre Liebeserklärung an die Insel und wartete sehnsüchtig auf den nächsten Band Ihrer Tagebücher. Im Internet sah ich alte Sendungen, in denen Sie zu Gast waren und fand alte Interviews. Nach dem zweiten Band Ihres Diariums las ich „Lieber Fritz“, nun begleiten mich Ihre „Stahlstiche“; „Die Tagebücher in Bildern“ und die Sammlung Ihrer Romane sind bereits geordert. Von wenigen Autoren, und keinem Journalisten, habe ich derart begeistert jegliche Veröffentlichung gelesen, von keinem in derart schnell aufeinanderfolgender Lektüre ohne mich satt zu fühlen.

Aus jedem Ihrer Texte spricht die Leidenschaft für das Sujet, in jedem steckt soviel von Ihrer Persönlichkeit; viele berühren mich tief. In Ihren Tagebüchern sind Sie zuweilen ein spitzzüngiger Spötter, aber eben auch, nein vor allem, dieser sensibler Mensch, dessen menschliche Enttäuschungen und Ängste bewegen. Ihre Ehrlichkeit, Ihre Geschichte und Persönlichkeit, die Sie (allen) Ihren Texte zu Grunde legen, erzeugt eine Authentizität, die mich glauben lässt Sie zu kennen und ich fühle mich Ihnen nah.

Anders als Sie bei der Lektüre der Gide Tagebücher verspürte ich bei den Ihren keine “wachsende Enttäuschung, [weil] doch fast nur dünn aufgegossener Literatur-Klatsch (mit sehr/zu vielen Einschüben von Attacken auf ihn, zumal über Leute und Phänomene, die heute meist vollkommen verblaßt – was allerdings dem Herrn FJR mit seinen Tagebüchern ebenso passieren wird!)”. Auch wenn es nicht zu leugnen ist, dass bereits viele Begebenheiten und Autoren als damaliger Zeitgeist heute nicht mehr viel beachtet werden, verblassen diese nicht, vielmehr leuchten Sie in Ihren Büchern. Hubert Fichte und Paul Wunderlich, um nur zwei zu nennen, waren mir vor der Lektüre Ihrer Bücher unbekannt, ich musste sie erst nachschlagen, heute betrachte ich mit Freude die Bilder, lese mir unbekannte Autoren. Entgegen der von Ihnen geäußerten Bedenken gibt es heute noch genügend, auch junge, Menschen, die sich für Kultur und Literatur dieser Zeit begeistern können, sie brauchen einen Lehrer, ich lerne aus Ihren Tagebüchern.

Weiterhin keine wachsende Enttäuschung, weil Sie immer wieder auf frappierende Weise ehrlich sind, nicht nur mit Ihren Mitmenschen, sondern eben auch mit sich selbst. Sie sprechen über eigene Arroganz, Ihren Stolz, über die Enttäuschungen, Angst und den Tod. Niemand gibt so redlich über sein Innerstes Auskunft, schreibt seine Schwächen nicht klein, sondern gesteht sie und das trotz der vielen, häufig so persönlichen und verletzenden, Kritik.

Neben dieser persönlichen Ebene durchleuchten Sie den Kulturbetrieb, die Sehnsucht aller Künstler nach Anerkennung, die Ränkespiele untereinander, Intrigen und Fallen, Sie eröffnen und demaskieren eine Welt, die mir vorher zu großen Teilen unbekannt war, ich lerne aus Ihren Tagebüchern. Dazu schaffen Sie es, fast beiläufig in einem Tagebuchnotat, immer in Ihren großen Kritiken, Literatur auf den Punkt bringen, den Stil eines Autors in einen Satz einzuschmelzen. Sie vermitteln Ihre Liebe und Begeisterung für Literatur und Kunst, Sie erzeugen bei mir ein Bedürfnis alle von Ihnen gelobten Werke sofort zu konsumieren, Sie machen mich neugierig und klüger.

Ihre Bücher bilden seit gut einem Jahr die Grundlage meiner Bildung. Ich verdanke Ihnen viel und möchte dem Menschen, den ich durch die Lektüre intimster Berichte zu kennen meine, danken für die Freude, die Sie mir mit jedem Ihrer Texte machen, alle habe ich mit Gewinn gelesen. Auf diesem Wege, unpersönlicher, aber vollständig bekleidet, möchte ich Ihnen meine Hochachtung übermitteln und erneut aufrichtig danken.

Es grüßt Sie herzlich

[Diesen Brief hat Fritz J. Raddatz über seine Sekretärin Heide Sommer im Mai 2014 von mir tatsächlich erhalten.]

Wie liest Du, Stefan?

In „Wie liest Du?“ stellen in regelmäßig unregelmäßigen Abständen Kritiker, Autoren und Verlagsmitarbeiter, Blogger, Vielleser und Buchhändler ihre Art des Lesens vor. Hier geht es nicht um einzelne Inhalte, sondern vielmehr um die Technik sich ein Buch zu erarbeiten – den Akt des Lesens von außen betrachtet.

Heute mit Stefan Möller, dem Hedoniker, der gerne Lesebefehle erteilt: Noch nie wurden Bücher mit so einem freundlichen Lächeln empfohlen.

1. Überspringst Du einzelne Stellen – gar Kapitel – oder liest Du ein Buch, wenn dann komplett?

Ich lege Bücher weg, wenn sie mich nicht nach rund 50 Seiten überzeugen. Und ich überspringe oftmals bestimmte Stellen, weil mich zum Beispiel selbst in guten Thrillern Actionszenen für gewöhnlich langweilen.

2. Schummelst Du und springst vor, um das Ende schneller zu erfahren?

Nein.

3. Nutzt Du Lesezeichen (immer dasselbe/andere?) oder legst Du ein Buch offen auf die Nase?

Bei Taschenbüchern knicke ich die entsprechende Seite ein, ich lege Bücher offen hin und ich verwende alles, was sich an Zetteln, Kärtchen und ähnlichem so findet, als Lesezeichen. Mitunter verwende ich sogar Lesezeichen. Selten, weil nie eins da ist, wenn man es gerade braucht.

4. Liest Du Taschenbücher einseitig, wie ein Magazin, indem Du das Cover komplett umklappst?

Nein.

5. Liest Du lieber kurze oder lange Kapitel?

Ich lese am liebsten gute Kapitel.

6. Markierst Du? Mit Bleistift, Marker, Klebezettel, einfach die entsprechende Seite umknicken oder schreibst du lieber Stellen raus?

Ich verwende Klebezettel und Bleistift.

7. Schaust Du ältere Lektüre nochmal nach markierten Stellen durch?

Nein. Ab und zu finde ich aber mal ein markiertes Buch im Bücherschrank oder auf dem Flohmarkt. Und dann frage ich mich häufig, warum die eine oder andere Stelle markiert wurde.

8. Welches ist das (nichtwissenschaftliche) Buch, in dem Du am meisten markiert hast?

Keine Ahnung, wird wohl einer der Romane sein, mit denen ich mich während meines Komparatistikstudiums beschäftigen musste.

10. Benutzt Du einen eReader? Als Ergänzung zum Gedruckten – ausschließlich – gar nicht?

Ich lese sehr viel auf meinem Tablet, allerdings fast ausschließlich journalistische Texte. Ansonsten sind in meiner Kindle-Bibliothek ein paar rechtefreie Klassiker, mehr nicht.

Pressestimme für die 2. Auflage

Es gab da diesen Kerl, der bei mir im Blog kommentierte, ausführlich und klug. Also statte ich ihm einen Gegenbesuch ab und lernte Konrad Geyer kennen. Konrad wohnt im Süden Marokkos in einem Wohnwagen. Ausgestattet mit einem kleinen Erbe will er dort schreiben bis dieses aufgebraucht ist. Sein letzter Versuch, nach mehreren gescheiterten, ein Schriftsteller zu werden. Sein Leben und Schaffen beschreibt er nebenher im Blog.

Konrad kritisiert Thor Kunkel und eine Dame mit dem falschgeschriebenen Namen einer Hamburger Literaturprofessorin streitet sich daher mit ihm, Burkhard Spinnen (bis letztes Jahr Vorsitzender der Jury beim Bachmannpreis) antwortet persönlich (?) auf von Konrad veröffentlichte Kritik, es geht heiß her hier, auch weil Konrad munter trollt. Ich kehre häufig wieder und lese gerne die bissigen Beiträge, ich mag Konrad, obwohl er ein schwieriger Typ zu sein scheint.

Konrad Geyer ist Wolf Schmid

Aber dieser Konrad existiert gar nicht, schreibt mir Wolf Schmid als ich Konrad bitte bei Wie liest Du teilzunehmen. KG ist das Heteronym von WS. Ob ich denn seinen, Wolfs, Debütroman bei Erscheinen rezensieren wolle, fragt er. Ich schlucke den Schreck über Konrads Tod und Wolfs Leben hinunter und sage zu. Denn es gibt keine moralischen Bedenken für mich Wolfs Roman zu besprechen, ich kenne den Mann ja nicht, bin in meinem Urteil also völlig unvoreingenommen. Die Tatsache, dass Pedalpilot Doppel-Zwo einen merkwürdigen (im Sinne von komischen, im Sinne von irgendwie doofen) Titel hat und als erstes Buch überhaupt im Liesmich Verlag (was ist denn das für ein merkwürdiger Name?!) erscheint, würde mich normalerweise abschrecken, aber das bin ich Konrad schuldig, denke ich.

PEDALPILOT-COVER-Finale1-425x595Doch Ende des letzten Jahres erreicht mich ein handwerklich schön gearbeitetes Buch in Klappenbroschur, innerhalb des Umschlags findet sich eine Karte der Hamburger Innenstadt, das Cover ist schlicht-elegant-hübsch. Ein positiver Ersteindruck, hatte ich doch irgendwas in gedruckter Selfpublisher-Richtung erwartet, nur das Lesen muss noch warten. Zugegeben habe ich etwas, nicht Angst, aber Skepsis, dem Buch gegenüber. Fiktive (?) Stimmen von Fahrradkurieren auf dem Rücken preisen die Lektüre zwar an, doch was gebe ich auf deren Meinung, vor allem, wenn einer davon direkt zugibt eigentlich keine Bücher zu lesen. “Ein skurriler Roman über Fahrradkuriere in Hamburg..” – auf was habe ich mich da nur eingelassen. Also schiebe ich und schiebe, Wolf fragt inzwischen nach, ob das Buch denn überhaupt angekommen ist: ist es, ist es, liegt aber bis jetzt nur drohend neben meinem Bett.

Was soll ich diesem Mann sagen, der inzwischen auch auf 54stories einen Text veröffentlicht hat, den ich gar nicht übel, sondern ziemlich gut finde: Moin Wolf, irgendwie mag ich Dein Buch nicht lesen, Fahrradkuriere interessieren mich nicht, weiß nicht ob ich das mögen kann und Dir dann sagen, dass ich es nicht mag.

Dann aber liege ich im Bett und bin nicht müde, habe das letzte Buch abgeschlossen und beschließe in Pedalpilot Doppel-Zwo reinzulesen, schaden kann und wird es nicht. Eher kann ich einen Abbruch als gar keinen Anfang rechtfertigen. (Was gräme ich mich eigentlich so, kann mir doch egal sein, wenn mir sympathische Leute schlechte Bücher schreiben?)

Lieber ein Abbruch als kein Anfang

Fahrradkuriere, Titel, unbekannter Autor, unbekannter Verlag – alles egal, 50 Seiten später bin ich noch nicht müde, es tritt ein was ich nicht für möglich hielt, ich lese dieses Buch und eine Last fällt von mir, denn es ist gut! In einem Rutsch, nur durchbrochen von Schlaf und Arbeit, lese ich Pedalpilot Doppel-Zwo.

Walter bat ihn zu warten, packte einen letzten Karton auf die Karre, schloss den linken Türflügel und fragte Thommy, ob er denn schon einmal in Hamburg gewesen war. “Selbstverständlich. Beim König der Löwen. Muss man gesehen haben”, sagte Thommy und verpasste dem Türflügel einen Stoß.

Walter ist Paketfahrer und nie aus dem kleinen Ort der Schwäbischen Alb herausgekommen, seine Frau ist auf der Suche nach Freiheit und Geld mit einem schmierigen Vertretertypen durchgebrannt und sein Sohn schlägt sich in Hamburg durch. Als er in Rente geht, will er diesen endlich mal in Hamburg besuchen. Doch Vater will eigentlich gar nicht in Rente, schon gar nicht verreisen, er ist scheu, etwas feige und eigenbrödlerisch und der Sohn Johannes will an sich keinen Besuch, will dem Vater und sich sein auf der Stelletreten nicht eingestehen. Statt Höhenflügen in der Großstadt hält er sich immer noch als Fahrradkurier über Wasser, träumt wie der Vater von der Liebe einer seiner Kundinnen.

Doch just in der Zeit in der Walter Johannes besucht, hat dieser einen Fahrradunfall und Vater muss einspringen, um dem Filius den Job und die Existenz zu erhalten. Die Voraussetzungen eines Rentners ohne Ortskenntnisse, ohne wirkliche Einarbeitungszeit sind denkbar schlecht doch Walter schlägt sich beachtlich und er verdient sich Stück für Stück den Respekt von Kollegen und Konkurrenz, während Vater und Sohn sich das erste Mal seit Jahren wieder annähern und beider Leben Struktur erhält. Und dann ist da noch Maga, die Schönheit vom Empfangstresen des chicen Büros in der Innenstadt, die sich noch ziert mit Johannes eine Beziehung einzugehen.

Parallelen

Ganz anders als vermutet, finde ich in Pedalpilot Doppel-Zwo sehr viele Stellen mit persönlichem Bezug. Während meines Zivildienstes habe ich viel Tommy Jaud und Oliver Uschmann gelesen, leichte Unterhaltung mit Humor und männlichen Hauptfiguren mit Lebens- und Frauenproblemen, einer meiner Kollege war ehemaliger Fahrradkurier. Zwar bin ich noch nicht in dem Alter, in dem ich mich unbedingt wieder jung fühlen will, aber diese kleine Zeitreise gefällt mir. Dazu kommt für den Neu-Hanseaten Walters Entdeckungstour durch die Stadt mit Punkten zum Abhaken: Johannes wohnt in den Grindelhochhäusern, dort habe ich mir eine Wohnung angesehen, am Neuen Wall werden Sendungen abgeliefert, ich arbeite um die Ecke, im Bunker war ich erst gestern. Der Hamburger erkennt seine Stadt, ohne dass dies regionalkrimiesk mit dem Holzhammer eingearbeitet worden wäre.

Wolf schreibt locker, unterhaltsam und doch nicht oberflächlich. Die beiden Protagonisten sind sympathisch und ihre Geschichte solide konstruiert. Vielleicht ist es etwas zu offensichtlich, dass Vater und Sohn eine Logistikerfamilie sind, vielleicht ist Pedalpilot in manchen Stellen etwas zu vorhersehbar, aber dann gibt es wieder  Bilder wie  den Pacman spielenden Kurier auf der Suche nach der besten Route. Die Sprache Schmids ist insgesamt fast etwas zu gut für einen “bloßen” Unterhaltungsroman, denn dieser Debütant kann schreiben. Wolf ist Tommy Jaud in gut!

Was kann ich ihm und seinem Buch außer diesem vorwerfen? Zu kleine Schrift im Blog und einen komischen Titel, aber Pedalpilot Doppel-Zwo hat mir richtig Spaß gemacht und ich würde mich freuen, wenn das Buch trotz Debüt-Autor und -Verlag mehr Leser findet.

Seien wir großzügig, denn die Sendung erreichte mich noch 2014, für mich sind Wolf und sein Pedalpilot die Überraschung des Jahres! Dies ist keine fiktive Pressestimme; schreibt doch einfach “Tommy Jaud in gut” auf die Rückseite der zweiten Auflage. Marokko oder nicht, echte Kommentare im Kommentarblog oder nicht, Wolf, Konrad, Ihr bist ein Schriftsteller, endlich!

[Den Titel gibt es leider nicht bei ocelot. Dieses Buch ist das einzige, das ihr bei amazon bestellen dürft oder direkt beim Verlag.]

Januar 2015

Der Horizont – Patrick Modiano (abgebrochen)
Ein schlechter Start in das neue Jahr. Die Geschichte um eine verlorene und wiedergefundene Jugendliebe rauscht nur so an mir vorbei und bevor ich begreife worum es eigentlich geht, habe ich schon wieder den Faden verloren. Modiano lese ich mal, aber nicht jetzt.

Gehen – Tomas Espedal (abgebrochen)
Fehltritt no. 2: auf dem Weg eines der vielgerühmten Bücher des Herrn Knausgard zu erwerben, empfahl mir der Buchhändler meines Vertrauens auch dieses Werk. Der beste Freund Knausgards ist also Tomas Espedal und schreibt über einen Kerl, der Heim, Herd, Frau und Kind verlässt. Er zieht zu Fuß durch Europa, um zu sich zu finden, sowie Land und Leute kennenzulernen. Auch nach 100 Seiten finde ich absolut kein Zugang zu Gehen. Übrigens ist Knausgard noch nicht offiziell abgebrochen, hat es aber ebenfalls schwer.

Kastelau – Charles Lewinsky
Erstes Lesehighlight des Jahres! Eine geschickt gestrickte Story um einen aberwitzigen Filmdreh in den Alpen am Ende des zweiten Weltkriegs.

Kein CoverCharles Lewinsky: Kastelau397 Seiten, Nagel & Kimche München 2014Buch bestellen

Herz der Finsternis – Jospeh Conrad
Unglaublich dichter Klassiker! Kann man immer wieder mit wohliger Beklemmung lesen.

Schloss Gripsholm – Kurt Tucholsky
Aus Anlass Tuchos Geburtstag als Hörbuch genossen.

Cornflakes mit Johnny Depp – B.J. Novak
Großartige, kurzweilige Shortstories und trotzdem mit Tiefgang. Das Wunderkind Novak (The Office) ist witzig und klug, seine Kurzgeschichten ein weiteres Lesehighlight des Januars! Dringliche Empfehlung!

Kein CoverB.J. Novak: Cornflakes mit Johnny Depp
gebunden, 333 Seiten
Blumenbar by Aufbau, Berlin 2014 Buch bestellen

Theoda – S. Corinna Bille
Die in Deutschland kaum (oder sehe ich das falsch?) bekannte Corinna Bille erzählt eine Ehebruchgeschichte in einem winzigen Örtchen im Wallis. Bedrückende Enge im schweizer Dorfmuff.

Pedalpilot Doppelzwo – Wolf Schmid
Wunderbares Debüt – ausführliche Rezension folgt!

In Love – Alfred Hayes
Eine junge Frau wird auf einer Party von einem deutlich älteren Mann angesprochen und erhält ein unmoralisches Angebot. Für 1000 Dollar solle sie mit ihm gehen. Doch sie ziert sich und bekommt die Offerte doch nicht aus dem Kopf. Die Verlockung des Geldes und ihr Wankelmut zerstören peu a peu die Beziehung zu ihrem Freund und viel zu spät realisieren alle Beteiligten, dass man Liebe nicht kaufen kann.

Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts – Herbert Rosendorfer (abgebrochen)
Der inzwischen verstorbene Herbert Rosendorfer gehörte zur Zunft der schreibenden Juristen und konnte es in Teilen durchaus mit dem viel bekannteren Bernhard Schlink aufnehmen (Ich geh zu Fuß nach Bozen). Aber der Versuch juristische Anekdoten und Schnurren des Alltags in Gericht und Staatsanwaltschaft zu einem unterhaltsamen Roman zu formen, ist gescheitert. Die Rahmenhandlung, der jeden Donnerstag vor dem gemeinsamen Musizieren, erzählende Ex-Staatsanwalt, ist bemüht bildungsbürgerlich und zäh, nein langweilig. Dies gilt auch für die  zum Besten gegebenen Geschichten, die zum Teil grobe juristische Fehler enthalten, die jeden Studenten in Strafrecht – Allgemeiner Teil sang- und klanglos untergehen lassen würden. Finger weg und lieber zu oben Erwähntem greifen.

Unterwerfung – Michel Houellebecq
Das erste Skandalbuch 2015 mit gar nicht soviel Zündstoff wie behauptet wird.

Das Fest der Bedeutungslosigkeit – Milan Kundera
Der 85-jährige, von mir schon tot geglaubte, Kundera wirft nochmal eine als Roman titulierte Miniatur auf den Markt, die für mich absolut keinen Mehrwert hatte. Lieber Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins nochmal lesen!

Eine schöne junge Frau – Tommy Wieringa
Viel, viel schöner dagegen diese als Roman titulierte Miniatur über die Liebe eines renommierten Wissenschaftlers zu (s)einer schönen jungen Frau. Zwei Personen erfahren die Schwierigkeiten, die eine Liebe und ein gemeinsames Leben mit sich bringen können, gerade als es dann auch noch um den gemeinsamen Kinderwunsch gibt. Und bei diesem Buch darf man sogar dem Klappentext glauben, wenn er sagt: “Schonungslos, sensibel und genau erzählt Tommy Wieringa von der großen Liebe, die einem Mann in der Mitte des Lebens widerfährt und seine ganze Person in Frage stellt.” Ich kannte Tommy Wieringa vorher nicht, aber den muss man sich merken!

Kein CoverTommy Wieringa: Eine schöne junge Frau
123 Seiten, Hanser Verlag, München 2015Buch bestellen

Der Tag, als meine Frau einen Mann fand – Sibylle Berg
Fast auf Eine schöne junge Frau aufbauende Lektüre nämlich in den mittleren Jahren der Ehe von Rasmus und Chloe, die zwar die besten Kameraden sind, denen aber Lust und Liebe in zwanzig Ehejahren weitestgehend verloren gingen. In Innenansichten der beiden werden die Konflikte der saturierten Mittelschicht und ihrer Wohlstandsprobleme geschildert, auf der Suche nach dem perfekten Partner. Unterhaltsam und nachdenklich.

Eierlecken zum Walgesang

Wenn ich mich morgen auf den Marktplatz stelle und Gott ist tot brülle, werden die Passanten aufschauen, aber kopfschüttelnd weiter spazieren. Innerhalb einer Kirche dürften solche Rufe schon etwas schlechter ankommen, ebenso wie unverhüllte Brüste mit der Bestätigung, dass Sie direkt unter uns weilt und Femenaktivistin ist. Sonst kann man in Deutschland Skandale mit Religionskritik eigentlich nicht mehr machen, dafür ist die (christliche) Kirche von innen heraus schon zu skandalgeschüttelt. Wenn nun aber dieser ungepflegte, nuschelnde Mann mit dem wilden Haar und der schlechten Haltung einen neuen Roman herausbringt, ist das Geschrei vom Skandal wieder groß, was weniger an der Religion, sondern mehr am Ruf des schreibenden clochards liegen mag.

Einige Zeilen zur Frage, ob Michel Houellebecq und Unterwerfung eine Gefahr für Morgen- und Abendland darstellen, ob sie die Grundfesten unserer Demokratie, unseres Lebens erschüttern.

Gegen den Strich

Houellebecqs Held François ist im Frankreich des Jahres 2022 Literaturprofessor an der Sorbonne, Spezialist für Joris-Karl Huysmans den Autoren der Dekadenz. Er beschaut seinen Nabel und wälzt private Sorgen um das Älterwerden, das Allein- und Verlassensein. Freunde hat er keine und seine Frauenbekanntschaften sind mit jedem Studienjahr wechselnde Damen seiner Fakultät. Während François also vornehmlich mit seiner Person beschäftigt ist, schwelt es in Frankreich kurz vor den Präsidentschaftswahlen. Die Rechten um Marine Le Pen haben gute Karten an die Macht zu gelangen, die bürgerlichen Parteien scheinen politisch nicht mehr auf die Beine zu kommen und als neue Macht positioniert sich bereits Mohammed Ben Abbes, der Kandidat der Muslimbrüder. Um eine Machtergreifung des Front National zu verhindern, gehen die gemäßigt Linken eine Koalition mit Ben Abbes ein und dieser wird mit ihrer Hilfe zum Präsidenten gewählt. Statt des erwarteten Rechtsrucks, gibt es nun einen muslimischen. Der berühmte französische Laizismus wird aufgehoben und Professor François verliert aufgrund seines falschen (keinen) Glaubens sein Amt.

Die Gesellschaft verfällt zurück ins Patriarchat: Frauen erhalten nur eine rudimentäre Schulbildung, sind vor allem die Hüterinnen der Familie, nur wenige dürfen studieren und wenn nur die schönen Künste, was schlagartig viele neue Jobs für Männer schafft und so die Arbeitslosigkeit drastisch reduziert. Der Tagesablauf wird an die Gebetszeiten angepasst, die Essgewohnheiten den muslimischen Speisevorschriften, die saudischen Petrodollars finanzieren die staatlich-muslimischen Universitäten, deren Lehre entsprechend angepasst wird und François flieht vor dem Wandel, sich und der Zukunft quer durchs Land.

Berufsmäßiger Skandalautor

Die Skandälchen, die Houellebecq früher durch seine Sexszenen, seine Person und sein Frauen- und Weltbild hervorrief, sind nichts gegen die Sturm, der über ihn aufgrund von Unterwerfung niederging. Die geringen Quoten der Buchmacher auf einen Skandal gingen nach den Attentaten von Paris wohl auf 0. Der Chef-Anecker Frankreichs eckte mit langem Anlauf an. Wobei die Pünktlichkeit doch erstaunt, denn er hat ja keinen Artikel zwei Tage nach den Anschlägen lanciert, sondern bereits letztes Jahr ein Buch geschrieben, das heute den Zeitgeist so vortrefflich spiegelt.

Betrachtet man nun aber dieses Buch, das Gero von Randow bedrohlich Nichts für intellektuelle Feiglinge nennt, genauer, möchte man die Presse doch bitten das Ganze nicht allzu hoch zu hängen. Klar wird zu Musik vom Typ Walgesang frei von Lust abwechselnd in Muschi und Arsch gefickt, es werden Eier geleckt und mit großer Sorgfalt Sperma von Lippen geleckt. Aber das schockiert inzwischen auch niemanden mehr. Seine Ausführungen zur Politik im allgemeinen, Demokratie und der Trennung von Staat und Kirche im Besonderen, dürften einen aufgeklärten, sich seines Verstandes bedienenden Westeuropäers kaum erschüttern.

Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.

Losgelöst von der ewigen Debatte, um “Das-wird-man-wohl-noch-sagen-dürfen”-Kritik, solcher an Religionen oder deren Auslebung durch den Einzelnen, geht Houellebecq vielmehr drängende Fragen der westeuropäischen Demokratien an. Warum haben so viele Angst, dass ihre Interessen nicht beachtet werden? Warum sind viele so lethargisch und dann wieder so aufgebracht? Wie kann man die schlechteste aller Staatsformen verbessern?

Man wählte einen Mitte-links-Kandidaten, abhängig von seinem Charisma für die Dauer von einem oder zwei Mandaten, ein drittes wurde ihm aus undurchsichtigen Gründen verwehrt. Dann wurde das Volk dieses Kandidaten beziehungsweise der Mitte-links-Regierung überdrüssig – hier ließ sich gut das Phänomen des demokratischen Wechselspiels beobachten -, woraufhin die Wähler einen Mitte-rechts-Kandidaten an die Macht brachten, ebenfalls für die Dauer von ein oder zwei Mandaten, je nach Typ. Seltsamerweise war der Westen überaus stolz auf dieses Wahlsystem, das doch nicht mehr war als die Aufteilung der Macht zwischen zwei rivalisierenden Gangs, nicht selten kam es sogar zu einem Krieg, um dieses System anderen Ländern aufzuzwingen, die diesbezüglich weniger enthusiastisch waren.

So fragt sich der Leser: erkenne ich den Wandel in der Gesellschaft und reagiere ich angemessen darauf? Um mich herum sind die meisten desinteressiert, hoffen es werde alles bleiben wie es war und gestehen sich ihre Furcht vor der Veränderung nicht ein, aber wie agiere ich? Was muss erst geschehen, dass ich aus mir heraus etwas ändern möchte oder mich mit einem vorhandenen Zustand nicht mehr zufrieden gebe. Diese Fragen wird Michel Houellebecq einem nicht individuell beantworten können, aber die Enttäuschung wenn François wieder in seine Lethargie zurückfällt, den Weg des geringsten Widerstands geht, könnte ein Fingerzeig für den Leser sein, etwas mehr Demokratie zu wagen.

Houellebecq warnt den Leser vorm Abstumpfen, dem Totschweigen von Problemen, führt das ständige Distanzieren und Widerrufen von Parteien vor, die dann doch aus politischen Unruhen ihren Nutzen ziehen. Diese Botschaft trägt er, zu seinem Unglück, nicht auf einem Schild vor sich her, sondern hat sie mit der Geschichte verwoben. Daher wird er so häufig Opfer der kritischen Schnellschüsse von Journalisten, die ihm Islam- und Fremdenfeindlichkeit vorwerfen. Unterwerfung ist nicht so plakativ wie The Circle; Houellebecq nicht Eggers. Michel ist witzig, ist gebildet, bösartig und klug, ein genauer Beobachter; er schreibt Literatur, die unterhalten kann, nicht muss. Aber ähnlich wie bei Eggers ist Unterwerfung nicht bis ins Letzte raffiniert konstruiert, in seinem Gang vorhersehbar und trotzdem ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. Nur manchmal wird eben nicht richtig klar was hier gespielt wird: Dystopie, Liebesgeschichte oder die vom traurigen alternden Mann, Politthriller? So wird der Roman zwar automatisch zum Politikum, nicht aber zwangsläufig zu großer Literatur.

Darf der das?

Ohne Frage dürfte Unterwerfung dazu geeignet sein, Menschen zu verletzen, aber so sehr wie den Westeuropäer niedergeschriebenes Eierlecken nicht mehr schockiert, sind wir auch auf dem Gebiet der Toleranz religiöser Kritik weit fortgeschritten. Warum sollte Houellebecq also nicht eine religiöse Dystopie schreiben dürfen? (Wobei es sich meiner Meinung nach nicht einmal um eine solche handelt.) François steht am Ende, soviel darf verraten sein, nicht in einer brennenden Welt, der Eiffelturm und das Parlament bleiben.

Während die reichen Araberinnern tagsüber die undurchsichtige schwarze Burka trugen, verwandelten sie sich abends in schillernde Paradiesvögel: Mieder, transparente BHs, Strings mit bunter Spitze und Schmucksteinen, also genau das Gegenteil der westlichen Frauen, die sich tagsüber sexy und elegant kleideten, weil ihr sozialer Status auf dem Spiel stand, abends aber zusammensanken, in unförmige Freizeitklamotten stiegen und beim Gedanken an Verführungsspielchen nur müde abwinken.

Houellebecq beobachtet und beschreibt erst mal nur wie die unterschiedlichen und verschiedenen Kulturen zusammenprallen. Dem Leser bleibt die Interpretation überlassen, ob er Frauen gerne tagsüber oder abends oder gar nicht sexy haben mag. Klar darf der das (beide: Autor und Leser)! Als meine kleine Schwester nach ihrem Auslandssemester aus Südkorea wiederkam und von den neusten Trends berichtete – Transplantation von Schamhaaren gegenüber Rasur zur Kindfrau oder Flucht vor jedem Sonnenstrahlen gegenüber dem Bräunungswahn der Europäer – berichtete sie ebenso wertfrei wie Michel, einen Skandal haben beide nicht verdient. Wahlweise die deutsche oder französische Fahne öffentlich zu entzünden, steht von meiner Warte jedem frei, nur haben die Brandstifter das Buch wohl meist nicht gelesen oder die Erzählung meiner Schwester nicht aus erster Hand – Zorn, Hass und Wut sind unangebracht, weil unberechtigt.

Vor allem schürt Unterwerfung keinen Hass (recte: sollte keinen Hass erzeugen), es stachelt nicht auf, es entwirft eine andere Welt, die nicht einmal als besonders schlecht, nur als anders, dargestellt wird. Houellebecq sagt nie, dass er den Islam ablehnt, kritisiert diesen sehr moderat, ebenso aber auch jede andere Religion. Dieser Roman wird weder das Abend- noch das Morgenland zum Einsturz bringen, er möge doch aber bitte zum Einsturz von Denkverboten führen.

Sapere aude, Feigling!

“Sagen wir es so: Man wird nicht reaktionär, wenn man das Buch anfasst – aber es ist auch nichts für intellektuelle Feiglinge”, schließt Gero von Randow und liegt damit ziemlich falsch, gerade der intellektuelle Feigling sollte zugreifen, er kann nur lernen. “Es hat noch nie jemand seine politische Meinung geändert, weil er ein Buch gelesen hat”, sagte Houellebecq bei der Präsentation des Buchs in Köln. Von der Möglichkeit einer Meinungsänderung abgesehen, die ich durchaus für möglich halte, fängt aber vielleicht der Leser an zu hinterfragen. Das Interesse kann doch häufig am besten durch Kontroversen und Anecken erweckt werden; in dieser Hinsicht machen Houellebecq wenige etwas vor.

Donnerlittchen!

SONY DSCPoetry Slams sind etwas für Nerds, Lyrik was für Lehrer, Redensarten für Oma. Daher zog der Slammer Lars Ruppel aus mit „Holger, die Waldfee“ zehn Redensarten in moderne Lyrik zu verwandeln: Der mit einem Feenfluch belegte alte Schwede, der durch Zufall heiliggesprochene Strohsack oder der entlassene Herr Specht, alle Gedichte Ruppels so ironisch sie erst gezeichnet zu seien scheinen, enthalten nicht nur Humor, sondern immer auch eine Moral. Doch kein Zeigefinger vermittelt diese, sondern ein Augenzwinkern und so wird auch das letzte Bisschen Bänkelsängertum, das Format und Vorhaben anhaften könnten, von Ruppel egalisiert. Schöner kann man nicht belehrt, besser nicht unterhalten werden. Dieser Dichter reimt nicht für die Bütte, ist vielmehr lustig ohne sich anzubiedern und klug ohne Schlaumeierei.

Sie mögen keine Nerds, Lehrer oder Redensarten? Lesen Sie Ruppel! Sie mögen keine Lyrik? Der Deutsche Meister im Poetry Slam wird Sie zu ihrem und seinem Jünger machen!

[Diese Rezension erschien im BÜCHERmagazin 2.2015]

C.F. Meyers “Der römische Brunnen” nach Helmut Krausser

Der römische Brunnen – Die Coverversion von Helmut Krausser

Der Wasserstrahl steigt auf, ergießt
sich fallend in die Marmorschale,
die sich füllt und überfließt
in eine zweite – Halfinale –

denn die Schale in der Mitte
jener Schalenleiter reicht
den Überfluß an eine Dritte
weiter, nimmt und gibt zugleich.

trinkt und tränkt, empfängt und lenkt
die schwappende Flut
und jede strömt und ruht.


Der römische Brunnen – Das Original von C. F. Meyer

Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Krausser zu seiner Coverversion:

“Ein immergrünes Kanongedicht, das, genauer betrachtet, ein Update gut verträgt. Es handelt sich mehr um eine sprachliche Aktualisierung als um eine konkrete Verbesserung. Es geht auch nicht, wenigstens in den meisten Fällen, um Verbesserung. Mich interessiert schlicht, was ich aus diesem oder jenem Einfallgemacht hätte – wenn ich ihn denn gehabt hätte. Zuallererst ist dergleichen ein Experiment und/oder eine Hommage.”

Aus: Helmut Krausser – Verstand & Kürzungen
Mit freundlicher Genehmigung des DuMont Verlags

Wie liest Du, Petra?

In „Wie liest Du?“ stellen in regelmäßig unregelmäßigen Abständen Kritiker, Autoren und Verlagsmitarbeiter, Blogger, Vielleser und Buchhändler ihre Art des Lesens vor. Hier geht es nicht um einzelne Inhalte, sondern vielmehr um die Technik sich ein Buch zu erarbeiten – den Akt des Lesens von außen betrachtet.

© Petra Gust-Kazakos
© Petra Gust-Kazakos

Heute mit Petra Gust-Kazakos von Philea’s Blog. Unter dem Motto „Leselust & Reisefieber“ versammeln sich auf Philea’s Blog Buch-Tipps, die zur Lektüre ermuntern möchten (nicht gelesen wird ja schon genug), Beiträge zu literarischen Themen, Interviews, Reiseberichte und Fundstücke von unterwegs – seien sie aus dem echten Leben, den virtuellen Räumen oder aus der Welt der Bücher.

1. Überspringst Du einzelne Stellen – gar Kapitel – oder liest Du ein Buch, wenn dann komplett?
Wenn ich anfange, Stellen oder gar Kapitel auszulassen, ist das immer ein Zeichen dafür, dass mir das Buch nicht besonders zusagt. Bücher, die mir gefallen, lese ich ganz.

2. Schummelst Du und springst vor, um das Ende schneller zu erfahren?
Habe ich schon ab und zu vor lauter Ungeduld gemacht, allerdings ärgere ich mich immer, dass ich es gemacht habe.

3. Nutzt Du Lesezeichen (immer dasselbe/andere?) oder legst Du ein Buch offen auf die Nase?

Ich nutze immer Lesezeichen und habe auch sehr viele, da ich sie sammle.

4. Liest Du lieber kurze oder lange Kapitel?
Das ist mir gleich, am liebsten lese ich gute.

5. Markierst Du? Mit Bleistift, Marker, Klebezettel, einfach die entsprechende Seite umknicken oder schreibst du lieber Stellen raus?
Ja, alles schon vorgekommen.

6. Schaust Du ältere Lektüre nochmal nach markierten Stellen durch?
Gelegentlich ja.

7. Welches ist das (nichtwissenschaftliche) Buch, in dem Du am meisten markiert hast?
Zuletzt F von Daniel Kehlmann.

8. Deine liebste markierte Stelle:

Da gibt es jede Menge Stellen, die mir zu bestimmten Zeiten besonders wichtig waren; eine absolute Lieblingsstelle habe ich nicht.

9. Benutzt Du einen eReader? Als Ergänzung zum Gedruckten – ausschließlich – gar nicht?
Gar nicht, auch wenn ich schon häufiger mit dem Gedanken spielte, um mir mein Reisegepäck zu erleichtern.

Erinnern ist scheiße

Dies ist eine absolut wahre Geschichte!

Ein nicht mehr ganz junger Mann macht sich mit einer Spitzhacke bewaffnet in L.A. auf einen Stern des Walk of Fame zu zerstören. Denn für Samuel A. Saunders ist das Kino, das wirkliche Kino, nicht mehr existent.

Die Studios verdienen ihr Geld nur noch mit Popcorn-Filmen für Teenager. Explodierende Autos und Witze über Verdauungsfunktionen. Farbige Brillen soll man sich aufsetzen für ihre lächerlichen 3D-Effekte. Kinderkram. Sie schreien immer lauter, um sich gegenseitig zu übertönen. Weil sie das kunstvolle Lügen verlernt haben.

Dieser Saunders hat seine Promotion über Walter Arnold geschrieben, einen deutschen Schauspieler, der nach dem Zusammenbruch des dritten Reichs in die USA auswanderte und dort unter dem Namen Arnie Walton zu einem gefeierten, gar oscarprämierten Mimen wurde. Der Student recherierte so gut, dass seine Dissertation über die Vergangenheit Arnolds derartig viel Sprengstoff enthielt, dass sein Doktorvater die Annahme aus Sorge um einen Skandal verweigerte. Der Versuch seine Arbeit in ein Enthüllungsbuch umzuschreiben und als populärwissenschaftliches Werk herauszubringen, scheiterte an der Zurückhaltung der Verlage, dort scheute man sich ebenso ein Denkmal des amerikanischen Films vom Sockel zu stoßen. Saunders zog sich zurück und bestritt seinen Lebensunterhalt mit einer Videothek, spezialisiert auf Klassiker der Filmgeschichte, aber Digitalisierung und Internet gruben Wasser und Gewinne ab. Nach dem Tod Arnolds/Waltons witterte Saunders die letzte Chance sein Buch zur Veröffentlichung zu bringen, doch der Stern des Schauspielers ist so schnell verglüht, dass sich schon kurz nach dessen Tod keiner mehr für ihn interessiert, die Enthüllungen würden ungelesen verpuffen.

Also zieht Saunders los das in sterngegossene Andenken zu zerstören, mit roher Gewalt zu vollenden, was ihm mit Argumenten nicht vergönnt war. Er wird, wie in den USA üblich, von einem Polizisten angeschossen und stirbt an den Folgen. Nun hat Charles Lewinsky Saunders Nachlass gesichtet und aus dessen gesammelten Aufzeichnungen, Interviews, Tagebuchaufzeichnungen und Kurzgeschichten ein grandioses Buch komponiert.

Authentisches Bild einer unglaublichen Geschichte

"Der Watzmann" von Caspar David Friedrich (1824/25)
“Der Watzmann” von
Caspar David Friedrich (1824/25)

Lewinsky greift in die Texte Saunders kaum ein, arbeitet nur dem Auslassen von Redundantem oder stellt handschriftliche Einfügungen kursiv und so entsteht ein authentisches Bild einer unglaublichen Geschichte: Im Winter 1944 gaukelt eine Gruppe von Produzenten und Schauspielern der UFA dem Reichspropagandaministierium vor ihr Film Lied der Freiheit sei derart bedeutend für die Moral des bereits schwer kriegsmüde gewordenen deutschen Volks, dass dieser als kriegswichtig und die Beteiligten als unabkömmlich eingestuft werden. Um aber aus dem von Bombenangriffen schon stark zerstörten Berlin zu entkommen, geben sie auch vor, der Film, der eigentlich zur Zeit der napolionischen Kriege spielt, müsse in den Alpen gedreht werden. Also reist die Filmcrew in das Dorf Kastelau, nahe Berchtesgarden.

Dieses Dorf ist in seinem Glauben an das neue Deutschland noch nicht erschüttert, Auswirkungen vom heimkehrenden Krieg spürt man nicht und der rigorose Ortsvorsteher sorgt dafür, dass keiner der Bewohner aus der ideologischen Reihe tanzt.

Die Filmstars sind in der Provinz die erste Attraktion seit Ausbruch des Krieges und werden entsprechend neugierig, aber auch kritisch beäugt. Daher wird es umso schwieriger den Schein einer wirklichen Filmproduktion aufrecht zu erhalten, neben dem Problem einen Kriegsfilm mit einer Handvoll Schauspieler zu drehen, einem völlig falschen Drehort und dem zu Neige gehenden Filmmaterial, gibt es auch noch Spannungen in der Crew und die Amerikaner stehen bald nahe Berchtesgarden – was sollen die nur über einen Nazipropagandafilm denken?

Eine absolut unwahre-wahre Geschichte!

Was Charles Lewinsky in Kastelau konsturiert, ist derart überzeugend, dass es durchaus eine wahre Geschichte seien könnte und gerade der bereits auf Seite 11 in einer Fußnote gebrachte Link zum Nachlass von Saunders und die Beteuerung des Autors es handele sich um eine wahre Geschichte, lässt den Leser lange in dieser Illusion, durch eingebaute Wikipedia-Einträge z.B. zu Kastelau kommt man vorerst gar nicht auf die Idee die Spurensuche selbst im Internet weiterzuverfolgen. Jede Figur und jedes Dokument hat eine eigene Stimme, insbesondere die Kurzgeschichten von Werner Wagenknecht, dem mit Schreibverbot belegetem vom Produzenten aber protegierten Autor, sind derartig andersartig großartig, dass man an eine wahre Geschichte glauben will, allein um dessen Romane direkt nach Kastelau lesen zu können. Aber auch durch das Verraten dieses Tricks Lewinskys, den fast jede Rezension direkt zu Anfang preisgibt, dürfte dieses Buch nicht an Reiz verlieren. Denn diese unwahre könnte leicht eine wahre Geschichte sein. Das Verstecken von Deserteuren im Keller, das Belügen von sich und anderen, die Wendehalsmentalität von Mitläufern alles ist so in dieser wundersam-grausamen Zeit vorgekommen, insbesondere der Impuls der Filmcrew ihren Einfluss zu nutzen um der Gefahr für das eigene Leben zu entkommen, ist so verständlich, dass man die Realität dieses Buches selten hinterfragt.

Und selbst als ich (endlich) verstanden hatte, dass es sich um ein Konstrukt handelte, wollte ich an dessen Wirklichkeit glauben, ich wollte die wahren Darsteller kennenlernen und ihre Geschichten lesen, ich wollte die Autobiographie von Walter Arnold lesen, mit meinem Wissen über ihn und seine Verstellung, wollte die beschriebenen Filme sehen und vor allem mehr von Werner Wagenknecht lesen – ich wollte weiter an die Realität dieser Geschichte glauben – mehr kann man von Fiktion nicht verlangen!