Jahr: 2020

Der Corona-Effekt: Die Angst vor dem anderen

von Nikola Richter

 

Es ist die Zeit der Spaziergänge. Auf den Gehwegen, in Parks, Wäldern, an Kanälen und Flüssen flanieren Menschen, einzeln oder zu zweit, auf jeden Fall in Kleingruppen, und versuchen, an die frische Luft zu kommen, die eigenen vier Wände zu verlassen und sich nicht zu berühren. Die Innenstädte sind seit Wochen merkwürdig leer und ruhig. Dort, wo sonst Touristenbusse in Schlange stehen und ihre Dieselmotoren laufen haben, ist nun Platz. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Städten erkunden ihre eigenen Altstädte und Sehenswürdigkeiten, zumindest von außen.

Im Lustgarten auf der Museumsinsel in Berlin, wo sonst vor Reisenden kein Durchkommen ist, kann man gerade gemütlich in der Sonne sitzen. Und auf dem verwaisten Gendarmenmarkt hat eine Nachbarin mit ihrer Tochter Federball gespielt. Wir sind mit unserer Familie die Treppen zum Konzerthaus hoch- und heruntergerannt, zur sportlichen Ertüchtigung, neben uns eine Arabisch sprechende Mutter mit drei Kindern. Die Stadt empfängt ihre Bewohner! Im Görlitzer Park wird nicht gegrillt, sondern gepicknickt, geschlafen, gelesen, und im Treptower Park sehe ich oft Tai-Chi- oder Yogagruppen, Eltern mit Kindern, gemütlich gehende ältere Leute.

Wer kann, ist jetzt viel draußen.

Aber sobald es auf einem Gehweg enger wird, passiert etwas: Ich habe es schon oft erlebt, dass ich beim Flanieren die mir Entgegenkommenden abscanne, überlege, in welche Richtung sie ausweichen, und dass ich dann in einem großen Bogen um sie herumlaufe, je nach Bedarf. Eine ältere Dame, die das auch so machte, musste neulich laut lachen und rief mir zu: „Wir laufen Slalom!“ Ja, Corona kann uns auch erheitern. Wir schauen uns in die Augen und nehmen den anderen wahr, der uns vielleicht begegnen könnte. Jedoch liegt die Betonung auf dem vielleicht. Denn das Vielleicht ist ja das Problem. Wir nehmen die anderen wahr, damit diese anderen uns eben NICHT begegnen. Damit sie uns fernbleiben und nicht berühren und uns vielleicht nicht anstecken.

Wenn Jogger, deren Zahl auch genauso zugenommen hat wie die der Spazierenden, so dass der Eindruck entsteht, Joggen sein das neue Clubben, wenn diese Jogger, und es sind vor allem männliche Jogger, sich also von hinten nähern, höre ich schon ihren Atem, ihr Keuchen. Und ich hoffe inständig, dass sie mir nicht in den Nacken hauchen werden, wie Corona-Vampire, sondern dass auch sie in ordentlichem Bogen um mich herumlaufen werden. Was sie leider nicht immer tun. „Die Hölle, das sind die anderen“, lautet ein Zitat aus  Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft und derzeit ist das deutlicher als sonst. Die anderen sind potenzielle Ansteckungsrisiken, eigentlich immer schon, aber jetzt besonders.

Ich lebe in einem Haushalt mit zwei Kindern, einem Schul- und einem Kindergartenkind und die potenziellen Ansteckungsrisiken durch die anderen sind uns, wie allen, die jeden Tag öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen aufsuchen, wohlbekannt. Wie oft kommen wir Eltern morgens zu der Kita oder nachmittags zum Hort und können uns an Schildern erfreuen, die informieren:  „Wir haben Hand-Fuß-Mund, Masern, Brechdurchfall und Läuse in der Einrichtung.“ Dann betritt man beherzt die angekündigt durchseuchte Luft, knuddelt sein Kind, redet mit den freundlichen Betreuerinnen und Betreuern und geht nach Hause.

Seit Corona, seit der Schul- und Kitaschließung, in der nun neunten Coronawoche, die auch zwei Wochen Osterferien enthielt, hatten wir keine Erkältung, keine Krankheit mehr zu Hause. Ja, die anderen sind immer eine Ansteckungsgefahr, und auch ohne Corona sollten kranke Kinder zu Hause bleiben und auch ohne Corona sollten Schulen mit ordentlichen Sanitäranlagen ausgestattet sein, wo es Seife und Papierhandtücher gibt, sollte das Reinigungspersonal auch Klinken desinfizieren. Einfach, damit nicht alle ständig krank sind. 

Ein guter Corona-Effekt: Jetzt sind wir also fast immer zu Hause und seitdem gesund.

Wir sehen in den Nachrichten, wie das Virus funktioniert, wie es sein Überleben und seine Weiterverbreitung organisiert und wie die Behörden und Expertinnen und Experten Ratschläge zur Eindämmung und Kurvenabflachung geben. Wie sich diese mikroskopisch kleine Kugel, die mich in der Vergrößerung auch immer an einen Kugelfisch denken lässt, durch den Atem, durch Tröpfchen von Wirtsperson zu Wirtsperson übertragen lässt. So unsichtbar und so mächtig. So mächtig, dass die Angst vor Corona geschafft hat, was sonst bisher niemand geschafft hat: bessere Luft, klare Sternenhimmel, Drosselung von Abgasen durch stillgelegte oder weniger arbeitende Industrien, weniger Flug- und Autoverkehr, mehr Fahrräder auf den Straßen – so dass derzeit auch schon temporäre Fahrradwege auf Auto-Fahrspuren eingerichtet wurden.

Weniger Konsum, weil weniger Konsummöglichkeiten. Mehr Bewusstsein für das, was wir wirklich brauchen und was unter dem Wort „Systemrelevanz“ zusammengefasst wird. Mehr Wissen darum, dass in den systemrelevanten Berufen wie Pflege, Bildung und Kinderbetreuung sowie Einzelhandel zu 80 Prozent Frauen arbeiten. Corona ist ein Stachel der Erkenntnis. Viele, mit denen ich spreche, wünschen sich jetzt und p.C., post Corona, eine Anpassung unserer Lebensorganisation anhand dieser Erkenntnisse. Mehr grüne und vielfältig, nicht monokulturell bepflanzte Naherholungsflächen, mehr Zeit füreinander, also mehr Home Office und Teilzeit, eine bessere Entlohnung der systemrelevanten Tätigkeiten und auch hier mehr Teilzeitjobs, mehr kleine Geschäfte als riesige Malls, mehr Spielstraßen, klare und sichere Radwege, beruhigten Verkehr, mehr regionale Landwirtschaft statt globale Handelsketten, die ja, und darüber müssen wir auch sprechen, ein Grund für globale Pandemien sind.

Brauchen wir alles immer jetzt und gleich und sofort? 

Oder reicht auch weniger übermorgen und vielleicht?

Trotz all dieser positiven Effekte ist der auffälligste Coronaeffekt aber einer, der politisch hochbrisant ist. Es ist die Angst vor dem anderen, die Corona auslöst. Die sich im extremsten Fall in Grenzschließungen äußert. Diese Angst verhindert genau das Gute, das möglich wäre, also dass wir solidarischer werde und zueinander stehen. Diese Angst bewirkt das Gegenteil: Dass wir uns voneinander körperlich fernhalten, sogar entfernen, uns nicht umarmen, berühren, die Hand geben dürfen. Großeltern dürfen und wollen ihre Enkelkinder und sonstigen Familienmitglieder nicht sehen. Jugendliche dürfen ihre Freundinnen und Freunde nicht sehen oder zum Sport und Spielen treffen. Nachbarn nur von Tür zu Tür miteinander sprechen. Sterbende und Schwerkranke dürfen kaum noch Besuch empfangen und sind einsam am Ende. Trauerfeiern finden unter schweren Auflagen statt. Isolierte sind jetzt noch Isolierter. Es fehlt das Haut an Haut. 

Natürlich wird versucht, ein Miteinander digital herzustellen und das ist auch gut und man sieht auch hier, dass diese Mittel und Wege bisher in vielen Bereichen, insbesondere in Bürojobs und in der Lehre sehr stiefmütterlich behandelt wurden. Wie viele Online-Konferenztools haben wir mittlerweile ausprobiert und teilweise exzessiv: Ich nehme an meinem Tanzkurs jede Woche per Zoom teil, sehe meine Tanzlehrerin in ihrem Wohnzimmer und alle Schlafzimmer und Flure meiner Tanzkolleginnen.

Die Grundschulklassenlehrerin lädt über einen Elternvertreter die Klasse ebenfalls zu Zoom ein. Sie selbst darf es nicht tun, da dieses Programm Sicherheitsrisiken enthält und so die Teilnahme keine schulverpflichtende ist. Lehrerinnen und Lehrer haben selten (oder nie?) berufliche E-Mailadressen von ihrer Schule und dazu gehörige Video-Konferenztools oder Cloud-Zugänge, wo man geordnet Material zum Lernen hinterlegen könnte, jeder mogelt sich jetzt gerade so durch, je nach Fähigkeit, Ausstattung und Motivation. Mit den Großeltern und anderen Verwandten sprechen wir auf Skype, was aber auch ein zweistündliches Installationstelefonat benötigte. Ostern haben wir eine familiäre und bis zu den Paten reichende Osternacht per Jitsy gefeiert, mit dem Effekt, dass eine Tante für ein Stunde „eingefroren“ war, was sie aber nicht störte, da sie uns zwar nicht gut hörte, aber sah. Und das war für sie schon etwas. Die Kinder verabreden sich nicht mehr zum Spielen sondern zum Telefonieren oder Facetimen.

Wir gingen auf Distanz. Wir sind auf Distanz.

Das Symbol dieser Angst vor den anderen ist die Maske. Kannten wir sie eher als Verkleidungsutensil beim Fasching, als zeitgenössisches Symbol für die Luftverschmutzung in meist asiatischen Großstädten oder als ein Utensil aus dem möglichst steril arbeitenden Krankenbetrieb z.B. in der Chirurgie ist sie nun zu einem begehrten Alltagsprodukt geworden. Zunächst lief der Verkauf mit medizinischen Masken über Online-Shops so gut an, so dass sich einige eine goldene Nase verdienen konnten. Dann hörte man von gigantischen Maskenbestellungen der Bundesregierung. In Krankenhäusern wie in der Charité fingen Mitarbeiter an, Masken und Desinfektionsmittel zu entwenden. Ich habe Berichte von Pflegerinnen gelesen, die ihre Masken mehrmals nutzen müssen, weil es zu wenige gibt. Kioske in Berlin, die die Grundbedürfnisse der Bevölkerung wohl am besten im Blick haben, bieten derzeit neben den Dauerbrennern Alkohol, Zigarette, Schoko nun auch Masken und selbstverständlich Klopapier an. 

Die Maske ist nun also ein Alltagsgegenstand geworden. Bei uns hängen selbstgenähte Masken am Schlüsselbrett, damit man sie für den Einkauf nicht vergisst mitzunehmen. Menschen mit Nähmaschine fertigen sie für ihre Freundinnen und Freunde, verkaufen sie per Facebook oder auf Plattformen für Selbstgemachtes wie auf Dawanda oder von Hand zu Hand unter Bekannten. Der Second-Hand-Laden Vintage Berlin verkauft durch das Fenster. Die Buchhandlung Leseglück in Kreuzkölln bietet an der Kasse Masken an, die eine Kundin herstellt. All dies ist eigentlich eine schöne Geschichte über Nachbarschaftshilfe, Tauschgeschäfte, kleine Ökonomien, Kiez-Kulturen, Handwerk, etwas, was wir viel mehr bräuchten und was sich den großen Monopol-Ökonomien mit Ideenreichtum und Freundlichkeit entgegenstellt.

Die Masken sind so beliebt, dass man sie schon überall in Selfies einbaut. Ich möchte daher sehr laut rufen: Bitte keine Masken-Fotos mehr. Wir haben schon genug davon gesehen! Die Maske ist schon zu einem Fashion Statement geworden. Die Farbe wird passend zum Outfit gewählt oder sie besticht durch ein besonderes Muster. In Kreuzberg habe ich sogar schon Aufnäher dort entdeckt, wo der Mund sein müsste, die Masken rufen uns zu: „Fck Corona“, „Fck Nazis“ oder zeigen eine herausgestreckte Rolling-Stones-Zunge. 

Ich frage mich, was passiert, wenn wir vom anderen nur noch die Augen sehen? Sind Augen, wie man so sagt, der Spiegel der Seele? Werden wir gut darin werden, in den Augen der anderen zu lesen? Das wäre dann noch ein erfreulicher Corona-Effekt. Doch: Kommen wir uns mit Maske überhaupt so nah, dass wir uns in die Augen sehen könnten? Werden wir hinter der Maske überhaupt noch lächeln, wenn es keiner sieht? Oder werden wir gut darin, leichte Wellenbewegungen auf dem Stoff als Mimik zu lesen? Oder bleiben wir schlicht auf 1,5 Meter Abstand?

Werden wir uns nach Corona wieder die Hände schütteln?

Werden wir uns erschrecken, wenn wir einen fremden Mund sehen?

Wie werden uns wieder näherkommen?

 

Photo by Volodymyr Hryshchenko on Unsplash

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (13)

Dies ist der dreizehnte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11, Teil 12)

Das mittlerweile über 150 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

Woche 9: 4. Mai bis 10. Mai

4.5.2020

Marie Isabel, Dunfermline

Meiner älteren Nachbarin ist langweilig. Sie sieht traurig aus, als sie mir meinen Teller (ich hatte ihr frischgebackene Ingwerkekse vor die Tür gestellt) über den Gartenzaun reicht. Wie mir stehen ihr die Haare zunehmend zu Berge. Sie vermisst ihre Unabhängigkeit. Allein einkaufen zu gehen. Alte Freundinnen zu besuchen, die weiter weg wohnen, so, wie sie es jedes Jahr macht. Eine von ihnen hatte am Telefon gesagt, dass sie Glück hätten, weil sie an das Alleinsein gewöhnt seien. “Wie aber geht es jetzt denen, die gerade jemanden verloren haben? Ich erinnere mich noch gut daran, wie das bei mir damals war.” –– Andere Frauen, mit denen ich mich austausche, erleben den Lockdown auch als positiv. Mehr Zeit für den Garten, das Kind. Das Leben entschleunigt. Trotz neuer Herausforderungen, wie der digitalen Lehre, oder, im Gegenteil, der Abwesenheit von Berufstätigkeit, weil frau in den bezahlten Urlaub geschickt wurde. –– Im Deutschlandfunk kommentiert ein Soziologe, dass es zwei Gruppen von Menschen gebe: jene, die den Lockdown fast unerträglich finden und jene, die sich darin nicht nur eingerichtet haben, sondern sogar wohl fühlen. Ich befinde mich irgendwo dazwischen, denke ich erst, erkenne aber dann, dass ich einem Selbstbetrug aufsitze, denn was mir wirklich zunehmend fehlt, ist Bewegungs-, Reise-, Interaktionsfreiheit. Nicht Freiheit in einem abstrakten, wie auch immer idealen oder idealisierten Sinne, sondern ganz praktisch. Spezifisch die Freiheit, meine Familie zu besuchen. –– Dazu passt die verstärkte Polizeipräsenz, die mein Mann und ich auf unserem wochenendlichen Spaziergang bemerken. Fünf Polizeiwagen auf Streife in einem Zeitraum von zwei Stunden (wohlgemerkt am Stadtrand). Das ist nicht normal. Das ist einfach nur neu. Und es bereitet mir enormes Unbehagen. Da kann ich verstehen, warum andere, gerade frisch eingezogene Nachbarn, zumindest in ihren Garten immer mal einen Gast einladen, oder zwei. Oder dass es mittlerweile Untergrund-Friseur-Netzwerke gibt. Oder Menschen, die dagegen aufbegehren, nachts nicht mehr unterwegs sein zu dürfen, dabei wollen sie doch nur Sternschnuppen beobachten. Unter Einhaltung aller Abstandsregeln, versteht sich. Langweilig ist mir übrigens nicht. Oder vielleicht doch.

5.5.2020

 

Sarah, München 

“Ihr habt ja noch so viel Zeit,” sagt meine Schwiegermutter. Ich verstehe nicht gleich. “Für mich ist ein Jahr leider viel.” Sie hat sich bisher nicht ein Mal beklagt. Nicht über Einsamkeit, nicht über die Angst zu erkranken, nicht darüber, dass sie nicht mehr zum Chor gehen kann und nicht ins Theater. Gleichbleibend fröhlich liest sie den Kindern über Facetime vor, plaudert über Hochbeetbau, unsere Katzen und die Fortschritte ihrer Bohnen, die sie auf ihrem kleinen Balkon gepflanzt hat. “Für mich ist ein Jahr recht viel.” Erst jetzt wird mir klar, was der Corona-Lockdown für sie bedeutet. Sie ist Mitte 70. Noch fit, wie man so schön sagt. Aber die Jahre, in denen sie reisen kann, Radfahren, ihre Enkel zu Besuch haben, sind gezählter als unsere. 

Was Corona nimmt, ist so unterschiedlich. Die letzten Jahre in Bewegung. Den Jugendlichen die Chance auf Parties und sorglose Saufereien am Baggersee, oder wo auch immer. Den Kindern ihre Spiele mit anderen Kindern. Den Eltern die Zeit, durchzuatmen, den Künstlern nimmt sie die Bühne, uns allen die Gemeinschaft. 

 

Fabian, München

Man dürfte sich ja vermutlich nicht vorstellen, dass es sich bei den ordinären Top-Manager-Darstellern von Ihro Gnaden Systemrelevanz in Too big to fail-Manier der deutschen Kraftfahrzeugsherstellungs- und -vertriebs-Industrie um genau die Knalltüten handelt, die man sich wiederum vorstellt, wenn man sie im Wirtschaftsteil der meisten größeren Zeitungen Förderprogramme aus der konjunkturpolitischen Steinzeit fordern liest, weil – es ist ja durchaus plausibel, dass diesen Typen qua Position gewissermaßen und in Verpflichtung den qua Gewohnheit et al. berechtigten Dividendenausschüttungsinteressen ihren Aktionären gegenüber jeglichem Handeln gegenüber, das sich als zeitgemäß vernünftig aufgreifen ließe, die Hände gebunden sind; und natürlich hängen Arbeitsplätze dran, und Existenzen.

Oder es ist so banal wie’s klingt, dass, sie beim Fußball, die Paradigmatik der institutionellen Interessen, für die sie stehen, ihnen die Alternativlosigkeit der Positionen, die sie vertreten, so gehörig und nachhaltig ins Bewusstsein gehämmert hat, dass es selbst beim besten Willen nicht mehr möglich ist, in andere, wahlweise kreative Richtungen zu denken.

 

6.5.2020

 

Nabard, Bonn

Bis vorhin kannte ich Yahya Hassan nicht. Ich wusste nicht wer er war und was er für viele bedeutete. Was er schrieb noch woran er litt. Welche Vergangenheit er besaß noch welche Zukunft er wohl besessen wird. Er ist tot. Und jetzt lese ich einige seiner Zeilen. Sie sind brutal, ehrlich. Erschreckend. Für mich manchmal abstoßend. Hat er wirklich seine Geschichte erzählt? Seine Realität? Ich glaube ich kenne einige “Yahya Hassans” in meinem Umfeld die nicht diesen Mut haben wie er es hatte und sich so öffentlich zur Schau zu stellen. 

Wieso muss der Tod eines Schriftstellers mich von dieser Pandemie ablenken? Oder die Brandanschläge wohl verübt von einer rechtsextremen Terrorgruppe die letzten Tage in Bayern? 

Ich hab kaum Zeit gehabt mich diesem Tagebuch zu widmen, die Pandemie beginnt sich jetzt erst zu lockern doch die Krankenhäuser sind voll mit Patienten mit Covid 19. 

Bald habe ich frei, dann widme ich mich wieder Hafez und seiner Lyrik. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

Kiefern knacken leicht im prallen Sonnenschein. Jemand schiebt einen leeren Rollstuhl über den Golfplatz. Hier patrouilliert keine Polizei, also wird auf dem Gras geruht, zumeist abseits der Greens, mit Ausblick auf die Landschaft ringsum. Es schneit Blütenblätter. Ungestörter Löwenzahn wächst kniehoch. Glockenblumen klimpern violett. Die Vögel sind fleißig und in der Mehrzahl. Kurze Hosen, Sonnenhüte, Hundehalter, Hundelose. Ein seltsames Paradies, aus der Zeit gefallen, surreal, das überall aufquellende Leben, die Farbigkeit, während die Tage im Lockdown immer weniger scharf abgegrenzt scheinen, auch kürzer irgendwie. Fühlt sich so Ewigkeit an? Bäume stehen gelassen da. Lange Sicht. Offiziellen Angaben zufolge ist die Insel in Sachen Todeszahlen im weltweiten Vergleich nun fast an der Spitze angekommen. Rekorde, die niemand brechen will. Es sei zu früh für klare Erkenntnisse, heißt es dazu während der Prime Minister’s Question Time im momentan fast leeren Unterhaus. Bei manchem hohlen Wort hört man den Nachhall jetzt ganz deutlich, da die Zwischenrufer, Rauner und Schreihälse auf beiden Seiten fehlen. Die Frage, wie Lockerungen aussehen könnten, schwebt im Raum, jetzt, wo wir gerade mal einen halben Schritt vom Abgrund entfernt sind, vielleicht, wobei wahrscheinlicher ist, dass niemand so genau weiß, wo wir eigentlich stehen. Zurück auf dem Golfplatz der fehlende Fluglärm, der noch reduzierte Autoverkehr, Stimmen, die weit tönen, ein Mutterruf, ein Wiehern, ein Elsternschrei, Klanglandschaft vergangener Jahrzehnte. Vielleicht wird sie wiederkehren, wenn wir uns vortasten ins Danach. Kann man im Paradies wachsen? Das sollte so sein, denn sonst wäre es eher eine Form der Hölle. Jetzt zumindest ist Entwicklung möglich, über vertraute Verhaltens- und Denkweisen hinaus, nicht immer leicht, schmerz- oder klaglos, warum auch, nicht ohne Enttäuschungen, warum auch, aber selbst in diesen ewigen Zeiten bleibt Veränderung die Regel, und warum sie nicht zum Positiven wenden, wo es nur geht, nach Herzenslust? Zufriedenheit zulassen. Genuss. Liebe. Lachen. Großzügigkeit. Überlegen, worüber es sich wirklich zu streiten lohnt. Was sich ändern muss. Endlich. Gelassenheit üben und gleichzeitig Entschlossenheit. Mitmenschlichkeit, Freundlichkeit, Gerechtigkeit… Vielleicht schaffen wir es ja so doch irgendwann in ein Paradies. Diesseits. Manchmal, denke ich, als ich den Weg nach Hause einschlage, muss man einfach nur stehen bleiben, um das eigene Herz schlagen zu hören.

 

Fabian, München 

Ach, die Aufmerksamkeiten fesseln sich doch selber, oder ein paar Viertelstunden in der Sonne vorm Weg nach Hause blenden eine ganze Reihe anderer Dringlichkeiten aus, oder drängen Sie zur Seite, oder drei Viertelstunden am Platz vorm Brunnen, sichere fünf bis sechs viertel Stunden, bevor schätzungsweise der warme Schein der fast schon abendlichen Frühlingssonne vorüber gezogen gewesen wäre – und die schweigsameren Pausen zwischen den Gesprächsthemen waren angenehm kurz, scheint mir, angenehm, insgesamt, ohne dass wesentlichere Unbehaglichkeiten sich einnisten können zu haben scheinen. 

 

Berit, Greifswald

Es ist schön, wie manche Stimmen hier schreiben, dann wieder für eine Weile verschwinden, wieder auftauchen, andere sind ganz regelmäßig da. Ich lese euch alle gerne, mag es, wenn ich sehe, wie andere zeitgleich im Dokument unterwegs sind, schreiben, verbessern, Sätze umstellen. Es ist eine besonders Intimität gemeinsam in einem Dokument zu schreiben, dabei zu sein, wenn andere ihre Gedanken entwickeln.

Die Regelungen in Mecklenburg-Vorpommern wurden gelockert und ich habe ein Ferienhaus am Strand gebucht – ein verlängertes Wochenende in der letzten Maiwoche. Wir schauen uns gerade oft die Bilder des Strandes im Internet an, Vorfreude ist etwas schönes. Eines meiner Kinder hat sogar schon ein Namensschild für das Ferienhaus gemalt.

Nun hoffe ich, dass uns die gefürchtete zweite Viruswelle keinen Strich durch die Rechnung macht. Diese kleine Reise war ein Trost für uns, denn es ist immer noch schwer zu akzeptieren, dass wir diesen Sommer nicht in Island verbringen können. Menschen, die wir sehr lieben, werden älter, der Sommer war für uns ein lange geplante Möglichkeit viel gemeinsame Zeit zu verbringen. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen können? Ich habe Angst, dass etwas auf Island passiert und wir nicht schnell dort sein können, festhängen in Deutschland.

 

7.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Was genau Anfang nächster Woche südlich der Grenze zwischen Schottland und dem Rest der Insel passieren wird, weiß noch niemand (BJ soll am Sonntag eine Ansprache halten, hach, wie freuen wir uns alle darauf). Was jedoch relativ sicher ist: Der Lockdown in Schottland wird zunächst andauern, wohl für mindestens drei weitere Wochen. Vielleicht lässt man uns ein wenig länger oder häufiger vor die eigene Haustür, um unseren sportlichen Aktivitäten nachzugehen, aber damit dürfte es dann auch schon erledigt sein. Ich hatte, merke ich, sehr auf Lockerungen gehofft. Dabei ist klar, dass die jetzige Entscheidung nicht zuletzt mit Blick auf die Datenlage vernünftig ist (Schottland scheint etwa zwei Wochen hinter dem Süden her zu hinken, was die Ausbreitung des Virus angeht). Dennoch: Es ist, als ob vor dem inneren Auge ein Rollo mit Karacho runter kracht. Der ersehnte Horizont, der sich vorsichtig geöffnet hatte, verschwindet, geschwind, aus dem Blickfeld. Draußen scheint die Sonne. Drinnen künstliches Licht. Nur gut, dass ich um die wechselhafte Natur des inneren Wetters weiß. 

 

Rike, Köln 

der motorradunfall in der abendsonne neben einem frühen grünen roggenfeld. das kann auch passieren. der körper reagiert auf den anblick mit tränen. was möchte ich von diesem tag behalten? dankbar für die picknickdecke im richtigen moment, 100% polya-irgendwas. wie viele jahrzehnte sie mich überdauern wird. die decke ist eine schildkröte oder ich bin für sie ein hundeleben, oder sie wird vielleicht 4 menschenleben alt. morgen esse ich mit s. ein frühstück an einem ungewohnten ort. “lockerungsmaßnahmen.”

 

8.5.2020

 

Rike, Köln 

Sich die hände eincremen ist gut. Mit einem mittagsschlaf den tag scheiteln in 2 hälften ist gut. Über etwas schlafen hilft. Kritik in angebrachten dosen hilft. Stopp sagen, wenn es zu viel ist auch. Ich will in die welt brüllen an die mächtigen idioten, die angekurbelte wirtschaft hat zu diesem totalen unfall geführt. Wie könnt ihr das nur wieder verlangen. Ich muss gar nichts ankurbeln. Ich will dass ihr menschen rettet und nicht konzerne, damit die vielleicht offiziell durch arbeitsplätze menschen gerade mal etwas geld  zum überleben geben. Menschen wollen leben und wirken. man kann das auch arbeiten nennen. sie müssen nicht zwangsläufig in einer fluggesellschaft arbeiten dafür. Eine fluggesellschaft könnte auch eine andere art von gesellschaft sein. Das fliegen der gesellschaft hat dazu geführt, dass sich die vorsilbe vor der -demie geändert hat. und 10 milliarden soll es geben für lufthansa, und 8 milliarden fehlen für die finanzierung eines impfstoffs. die verhältnismäßigkeit ist verbrecherisch. Ich will niemand von denen umbringen, ich will nur mundtot machen die idiotischen mächtigen in den institutionen. „the full weight rests with those people who control the institutions.“ und gleichzeitig: die verantwortung liegt genau so bei mir. Das nebeneinander ist im vergleich absurd aber gleichzeitig ist es so. 

9.5.2020

 

Rike, Köln 

ich schicke mama die schokoeier von ostern mit der alkoholfüllung in einem unversicherten päckchen zurück und lege ihr eine schokolade dazu, die eigentlich meine lieblingsschokolade ist, von der ich nicht weiß, ob sie sie mag. Vielleicht werden wir uns die kommenden monate immer wieder brieffreundinnenmäßig unsere lieblingssüßigkeiten höflich vor und zurück schicken. Was stand in ihrem brief? Ich habe sie gefragt, was das grausamste ist, was sie jemals getan hat. Die antwort war liebenswürdig. Morgen ist muttertag. Ich hoffe, die eier sind nicht auf meinem antwortbrief explodiert. ich hatte mir mühe gegeben. 

 

Viktor, Frankfurt

Das fühlt sich nicht gut an. Gerate immer häufiger in Gespräche, in denen es nur darum geht, dass es mit dem Virus gar nicht stimmen kann, er sei nur die “kleine Schwester” der Grippe (warum eigentlich Schwester?), er sei nicht tödlicher und das alles könne gar nicht stimmen, und wir werden entmündigt, und der wirtschaftliche Schaden …, und die wollen doch eine Impfpflicht einführen … und …

Ach, manchmal schweige ich. Aber wenn es Menschen sind, denen ich nahe stehe, wenn sie Dir WhatsApp-Nachrichten mit YouTube-Videos irgendwelcher “Naturheilkunde-Sender” schicken –  man ist das alles anstrengend. 

Es gibt einerseits einen riesigen Informationsbedarf, andererseits wenden wohl nicht wenige Menschen ihre Zeit dafür auf, sich bei den K. Jebsens dieser Welt zu informieren, statt unterschiedliche etablierter Medien heranzuziehen, zu vergleichen und auch die Kritik wahrzunehmen, die sich darin wiederfindet. Ich weiß nicht, wie man dieses Paradoxon auflösen kann. 

Was mir auffällt:

  1. Persönliche Situation wird unreflektiert auf die gesellschaftliche Situation übertragen, bzw die gesellschaftliche Situation wird mit der persönlichen Brille bewertet;
  2. Berechtigte Zweifel an einzelnen Anti-Corona-Maßnahmen werden als Argument genutzt, alle Maßnahmen anzuzweifeln;
  3. Diffuse Ängste treiben die Menschen, und ausgerechnet die eine Person, die am heftigsten mit mir diskutiert, hat sich am wenigsten an irgendwelche Regelungen gehalten.

Ich bin ziemlich ernüchtert, ich fürchte, das Selbstbild einer Wissensgesellschaft ist ein Wunschbild. Oder ein Trugbild. Wunschbild wäre noch okay, Wunsch heißt, wir streben es an. Trugbild ist gefährlich.

 

Slata, München

Ich wollte etwas zum heutigen Feiertag, zum Tag des Sieges über den Faschismus schreiben, genauer, über das faschistische Deutschland, eine witzige Sache eigentlich, sich in Deutschland gegenseitig zu gratulieren, die Welt von Deutschland befreit zu haben, und dann noch eine Rezension zu Yahya Hassans Gedichten, und ein eigenes Gedicht beenden und Notizen vorbereiten, am Montagmorgen mit einem neuen Disskapitel beginnen, die Hausaufgaben für nächste Woche ausdrucken und sortieren, die Hausaufgaben für diese Woche abfotografieren und hochladen bei OneNote für die Lehrerin, eine Runde Kinderyoga nach der neuen CD machen, ein paar Kapitel Pettersson und Findus lesen, die Gurkenpflanze vom Balkon reintragen, den Hamsterkäfig saubermachen, im Keller nach Topfuntersetzern suchen, und es ist Samstagabend und ich gehe mir die Haare färben.

 

Nabard, Bonn

23:12Uhr, Samstag Abend. Iftar liegt hinter uns und niemand macht anstanden nochmal raus zu wollen. Niemand ruft an und fragt ob wir noch ein Eis von McDonald’s wollen. McFlurry mit Daim hab ich letztes Jahr Samstags gegönnt. Mit Redu und Ahmad kurz in der Moschee vorbei geschaut, bisschen Spiritualität gesammelt und dann ins Karizma. Ein Shisha-Kopf geraucht und  Tee getrunken. 

Stattdessen ein leeres Glas vor mir, Drake tönt aus den Kopfhörern, es skippt gleich zu Sampha’s Part. “Don’t think about it too much, too much, too much…”  September 2013, fast sieben Jahre ist das her. Was macht das mit euch wenn ihr Lieder und sie sich immer noch so anhören als wären sie gestern erschienen? Die gleiche Gänsehaut, das gleiche Gefühl. Ich glaube ich bin eh immer jemand gewesen der zu viel Emotionen beim hören der tunes gesteckt hat als andere. 

Was machen wir eigentlich diesen Sommer? ES sollte mein letzter Sommer als Student sein. Ohne lernen, ohne Doktorarbeit, ohne Seminare oder Praktika. Auf Station buckeln und nach Feierabend an den Rhein oder Hofgarten. Das wird wohl nix. R ist bei 1.1, in den nächsten Tagen wird es steigen. Schön war’s.

 

10.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Stell Dir vor, es ist langes Wochenende und keiner merkt es. Oder vielleicht doch. Aber nicht, weil sich alle Welt in Freizeitaktivitäten ergeht. Oder vielleicht doch. Der Reihe nach: Freitag, VE-Day‚ Tag der Befreiung (seltsamer Name). Da geht es ja eigentlich um Erinnerung. Demgegenüber entblödet sich mancher, die Situation im Mai 1945 mit der im Mai 2020 zu vergleichen. Stichwort ‘Nullstunde’ (https://www.hessenschau.de/kritik-an-bouffier-text-ueber-kriegsende-und-corona-pandemie,kritik-bouffier-8mai-100.html). Am Morgen ist auf BBC Radio Four vom Krieg gegen das Virus die Rede, nur diesmal in unmittelbarer Parallelsetzung zum Zweiten Weltkrieg. Da hilft nur Ausschalten. Kritische Stimmen zu derartigen Nebeneinanderstellungen finden sich auf beiden Seiten des Kanals. Hohn, Spott und Verachtung ziehen auf der Insel zudem VE-Streetparties auf sich, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. 

Am Samstag, 9. Mai, lese ich dann von Demonstrationen in Deutschland, auf denen neben Verschwörungstheoretikern, Rechten, Linken und Impfgegnern, je nach Ort, auch jede Menge andere Menschen zugegen zu sein scheinen. Das sind allerdings Peanut-Probleme, schaut frau beispielsweise nach Belarus, ein Land, über das Europa sowieso viel zu wenig redet. Dort hält die Regierung doch gleich mal locker die jährliche Militärparade ab, von sozialer Distanz hier (wie auch sonst übrigens) keine Spur: Was ein guter Diktator sein will, lässt sich so eine Gelegenheit ja nicht entgehen. Wie es um die Bevölkerung dort wohl gerade steht?

Heute endlich die lang ersehnte Botschaft des Premiers Johnson, die von vorsichtigen Lockerungen spricht, diese aber gleich wieder relativiert und die Zuhörer:innen verunsichert. Die Kritik lässt nicht lange auf sich warten. Einig ist sich das vereinte Königreich momentan überhaupt nicht. Während Wales, Nordirland und Schottland weiterhin im Lockdown sind und der Slogan unverändert lautet: ‘Stay at home’, hat England jetzt ein neues Motto, von dem keiner genau weiß, was es bedeuten soll: ‘Stay alert’

… Was wiederum an die endlosen Pandemie-Werbeslogans erinnert, die einem momentan u.a. aus dem Fernsehen (auf Twitter, Facebook, Instagram, etc., kann man den Werbebannern der Pandemie-Warner eh nicht entwischen) entgegenschallen. Plötzlich auf dem Bildschirm auftauchende Videoaufnahmen von ‘Durchschnittsbürgern’, die per Skype, Zoom, WhatsApp etc. ihren Freund:innen und Angehörigen in gefühlsduseliger Weise ‘Mut machen’. Alternativ: Wohlfühlzeit daheim. Dagegen sind die erstaunlich schnell auf den Covid-Modus umgeschwenkten kommerziellen Werbespots ja fast noch erträglich, oder zumindest unfreiwillig komisch. 

Soviel zum langen Wochenende.

 

Fabian, München

Die Stadt hat ihren Lärm wieder. War nur eine Frage der Zeit, aber von Seiten des Fußgängers ist die Unabdinglichkeit, mit der die Leute ihre Kraftfahrzeuge und ganz sicher und ganz ohne Absicht in Blechlawinen konzentriert durch die Straßen bewegen, ungeachtet der zweifellos, in jedem einzelnen Fall triftigsten Gründe, doch etwas ärgerlich. Die relative Ruhe, in der man sich ein paar Wochen lang und häufig unbehelligt von der motorisierten Überzahl durch die Stadt bewegen konnte, hatte schon etwas für sich, auch wenn man sich dann besser nicht vorstellen mag oder sollte, dass für viele der Vorüberlärmenden jeder in den letzten Monaten notgedrungen nicht zurückgelegte Kilometer mit realen Verlusten in direktem Zusammenhang steht, und jetzt will’s einem, wie zum Trotz, oder aus Trotz, vorkommen, als müsste die Bewegung durch die Stadt innerhalb einiger Tage stellvertretend für die Verluste der vergangenen Wochen einstehen – aber vermutlich liegt’s bloß am Lärm; oder demgegenüber an der kurzfristig gesteigerten Sensibilität.

 

11.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Eigentlich wollte ich von dem Stromausfall heute morgen erzählen, der anscheinend von einem Schwan verursacht wurde, der mit seiner Frau um die Ecke in einem Teich lebt und gerade, wenn alles gut geht, Nachwuchs erwartet (die Nachbar:innen haben bereits Wetten abgeschlossen, wann es denn soweit sein soll), heute morgen aber (wohl nicht zum ersten Mal), eine unangenehme Begegnung mit einer Stromleitung hatte, wobei zum Glück ein älterer Nachbar den Funkenflug beobachtete, hineilte, dabei selbst (glücklicherweise ohne sich zu verletzen) stürzte, das Tier betäubt vorfand, über seine Tochter per Telefon eine örtliche Tierschutzorganisation mobilisierte, die jemanden schickte, der den Schwan inspizierte und wieder zum Teich zurück trug, wobei er bemerkte (der Mensch, nicht der Schwan), dass er (der Schwan, nicht der Mensch) etwas zu schwer sei und die Nachbarschaft doch fortan lieber kein Brot sondern eher Haferflocken, Salatblätter etc. füttern solle, ansonsten ginge es dem Tier aber bis auf einige verlorene Federn gut, woraufhin jetzt am Teich zwei kleine Schilder hängen (verfertigt von der Tochter des älteren Herrn und Vogel-Erste-Hilfe-Leisters), auf dem die neue Schwanendiät erklärt wird – ob die ebenfalls ansässigen Enten und Möwen, etc., sich über die Diätmaßnahmen freuen, bleibt abzuwarten. 

Okay.

Worüber ich aber im Grunde auch gerade schreiben wollte (bevor mir der Schwan mental dazwischen kam), sind die diversen Corona-Archive, Corona-Museen und andere Formen der Aufzeichnung und Sammlung von Alltagsbeobachtungen, fotografischen Zeugnissen, Objekten, Texten (wie diesem kollektiven Tagebuch), extra begründete Webseiten für Gedichte und andere literarische Formen (wie etwa ‘Briefe aus dem Lockdown’) zum Thema Pandemie/Lockdown, die erwarteten (oder befürchteten) Corona-Romane, Radiobeitragsserien zum Thema ‘Alltag in der Pandemie’, und sicher ließe sich hier noch manches ergänzen (von den notwendigen Links zu den diversen Projekten ganz zu schweigen, aber sie haben sich, grenzübergreifend, derart multipliziert, dass einem langsam der Kopf schwirrt, fängt frau erst einmal an, auf diese Dinge zu achten). Abgesehen davon ist es grundsätzlich spannend, dass das Festhalten des Augenblicklichen, Vergänglichen, sozusagen das Mitschreiben von Geschichte, während sie sich ereignet, oder zumindest in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Geschehnissen (trotz aller erwartbaren, oft praktischen oder medialen Bedingungen geschuldeten zeitlichen Verschiebungen), in allen erdenklichen Kunst- sowie anderen Formen und Zeugnissen gerade eine solche Blüte erlebt, und ich frage mich, in welcher Relation das steht zur Geschwindigkeit unserer medialen Welt wie erfahrenen Lebenswirklichkeit, zu unserem Bewusstsein von chronistischem Schreiben und dessen langfristiger Bedeutung, und natürlich zu dem Bedürfnis, den Überblick und vielleicht zumindest die Illusion von Kontrolle zu behalten, wenn (vorübergehende?) Veränderung so schnell vonstatten zu gehen scheint. Dass dieses Tagebuch hier nicht nur seinerseits in anderen Medien  reflektiert, sondern zudem bereits Forscher:innen wie Student:innen als Anschauungs- und Diskussionsobjekt diente, ist Teil dieses Phänomens, dieses zeitnahen, fast gleichzeitigen Verfertigens und Analysierens von Zeitdokumenten. Hier (note to self und alle anderen) bitte weiterdenken.

Im Wartesaal der Weltgeschichte – (Digitales) Zeitbewusstsein in der Pandemie.

von Carla Kaspari

 

Seit Termine und Uhrzeiten vielfach dem metaphorischen Stillstand der Welt zum Opfer gefallen sind, nimmt man sich auch der Zeit wieder ausführlicher an. Sonst maßgeblich in ihrer Funktion zur Taktung des überfrachteten Alltags wahrgenommen, rückte sie in Lockdown-Zeiten anders in den Mittelpunkt: Sie stand still, teilweise wurde das Gefühl für sie völlig verloren, hin und wieder nutzte man sie ausgiebig, sie wurde totgeschlagen oder ihr aktuelles Dasein mit einem Loch verglichen.

Auch abseits prä-pandemischer Achtsamkeits-Trends leben viele Menschen ohne kulturelles Angebot, Kneipen oder Reisen zunehmend im Hier und Jetzt, haben endlich mal wieder Langeweile oder geben sich ganz einfach dem hin, was sie als Zeit empfinden. Fest steht: Unsere derzeitige Gegenwart, die uns nicht wie sonst bildstark in den Fingern zerrinnt oder ein breites Angebot an Zerstreuung liefert, bietet Gelegenheit, auch in Bezug auf sie selbst innezuhalten und ihre akute Beschaffenheit genauer in den Blick zu nehmen. Nur wie?

Für Hans Ulrich Gumbrecht, Romanist mit Hang zur Gegenwart, ist sie vor allem eins: breit. In ihr, so konstatiert er in mehreren seiner Werke zum Thema[1], laufen die Vergangenheit, die uns dank ihrer minutiösen elektronischen Speicherung überschwemme, und die bedrohliche, da unangenehm ungewisse Zukunft, zusammen. Dieses Zusammenlaufen könne nicht mehr als eindimensionale Zeitinstanz; auch nicht mehr als Übergang zwischen vergangenem und zukünftigem Moment gedacht werden.

Stattdessen definiert sich sein, schon vor Corona entwickeltes, Jetzt, als chronotopisches Wirrwarr, als breites Spielfeld der Gleichzeitigkeiten, auf dem sich Ansätze in die Zukunft und in die Vergangenheit tummelten und nebeneinander eine Art hoch bewegter Stagnation erzeugten. Nicht – wie andere populäre Gegenwartsdiagnosen –  als punktuell, flüchtig oder einzigartig beschreibt Gumbrecht sie, sondern als gut gefüllten Wartesesaal der Weltgeschichte. Unser Jetzt komme nicht aus der Abgrenzung zum Vorher oder Nachher und erst recht nicht aus sich selbst, sondern speise sich immer aus der Latenz, der ereignisleeren Verzögerung.

Wie die Zeit an sich, ist auch das, was als Gegenwart empfunden wird, zunächst nicht fassbar. Als flüchtiger Zustand kann unser Jetzt, wenn überhaupt an oder mithilfe ästhetischer Darstellung artikuliert werden. Schon immer bieten sich vor allem Erzähltexte durch ihre inhaltliche Ausrichtung  – man denke bespielsweise an den Zeitroman – und ihre formalen Eigenheiten an, ein bestimmtes Zeitempfinden auszudrücken: Wie wird Zeit erzählt? Wird sie gerafft oder gedehnt? Wie wirkt sich der Text auf mein Zeitempfinden aus? Das digitale Zeitalter hat den Vorteil, keine expliziten Erzählgenres mehr zu brauchen. Da das Internet an sich textbasiert ist und in Chats, auf Blogs oder diversen Social Media Plattformen beinah in Echtzeit kommuniziert, geschrieben und so eben erzählt wird, bietet es direkten Einblick in die ästhetische Darstellung unseres Jetzt.  

 Gumbrechts Diagnose traf so bereits vor der pandemischen Gegenwart überraschend eindrücklich auf digitale Textproduktion und ihre Erzählweisen zu. Man denke beispielsweise an den Kurznachrichtendienst Twitter in seiner Lesart als simultane Erzählwelt: Diese, zu großem Teil aus präsentischen Miniaturerzählungen bestehend, kann auf dem Spielfeld der Plattform ziemlich genau als das latente Nebeneinander diverser Jetzt-Zeiten gelesen werden, das er als breite Gegenwart definiert.

Nun, da das westliche Leben noch mehr als sonst in den digitalen Raum rückt und die ereignisleere Verzögerung so präsent wie nie ist, scheint sich dieser Eindruck zu verstärken. In Zeiten, in denen jede und jeder gleichzeitig bei Instagram live geht, online Corona-Tagebücher schreibt, 25 Tweets pro Stunde absetzt oder seinen Alltag in diversen Gaming-Welten verbringt, sind Erzählformate des Internets als Kommunikations- und Ausdruckswerkzeug mehr denn je gegenwärtig. Im diffusen Zeitnebel werden sie zu einem wichtigen Strukturmerkmal unsere Gegenwart, und mehr: Fast könnte man so weit gehen, das öffentliche Leben und seine Jetzt-Zeit aktuell beinahe vollständig in den digitalen Raum und seine Erzählungen verlagert zu sehen, die sich in Echtzeit ablesen lassen und Gegenwart so minutiös dokumentieren, dass sie greifbar wird wie selten.

Der bildliche Wartesaal der Weltgeschichte, in dem sich unsere Gegenwarten tummeln, wird so für viele zumindest virtuell Realität. Ästhetische Artefakte in Form von Chatverläufen, Twitter-Timelines, Instagram-Stories oder Fortnite-Sessions lassen sich als eindrucksvolle Inaugenscheinnahme unseres Jetzt lesen. Auch das stand für Gumbrecht übrigens schon vor der Krise fest: Artefakte, das seien keine historischen Ideen mehr, sondern nur noch Resultate menschlicher Kommunikation.

 

[1] Vgl. beispielsweise Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Frankfurt a. M. 2010 oder Gumbrecht: Präsenz. Berlin 2012. 

 

Photo by Lukas Blazek on Unsplash

Ohne Helm und ohne Gurt – Ulf Poschardts ‘Mündig’

Ulf Poschardt ist für die deutsche Social-Media-Landschaft das Paradigma des unangreifbaren Trolls. Es gibt viele, die im Netz eine eitle und lächerliche Figur abgeben, es gibt viele mit einer Biografie voller krachender Misserfolge, die im Medienbetrieb dennoch unaufhaltsam aufsteigen, es gibt viele Mächtige und Reiche, die kompromisslos öffentlich Partei für die Reichen und Mächtigen ergreifen, aber niemand vereint dies alles wie »Drulf«.

Ulf Poschardt: Mündig

Selbstverständlich macht es das nicht zu einem unmoralischen Akt, seine Bücher zu lesen. Im Gegenteil ist es eine horizonterweiternde Erfahrung, sich tief in sein Denken hineinzubegeben, gerade wenn man ihn vor allem als Verfasser grammatikalisch mangelhafter Einzeiler kennt, in denen das Wort »Moral« ausschließlich pejorativ gebraucht wird.

Man muss davon ausgehen, dass Poschardt, der einer der paar mächtigsten Medienmenschen in Deutschland ist und seine Macht doch stets konsequent herunterspielt, sein Gehabe durch sein intellektuelles Gewicht legitimiert sieht. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich habe Mündig (Klett-Cotta, 271 S.) gelesen, um die Rück- bzw. Innenseite des Twitterclowns Poschardt kennenzulernen, und ich habe es nicht bereut. (Am Rande bemerkenswert: Der Rücken des – sehr schönen – Buchs ist so gestaltet, dass man nach gängiger Konvention davon ausgehen müsste, hier habe jemand namens Mündig eine Biographie über Ulf Poschardt geschrieben. Honi soit qui mal y pense.)

Der Band ist eine lose Sammlung teils bereits veröffentlichter Texte, die Poschardt an die kantische Tradition des »Sapere aude« angeschlossen sehen will. In den schlaglichtartigen Betrachtungen auf locker bedruckten Seiten geht es der Reihe nach um Intellektuelle, Pädagogik, Demokratie, Konsum, Mediennutzung, Digitalisierung, Unternehmertum, Autorennen, Liberalismus, Partykultur, Linke, Männer, Frauen, Künstler*innen und Leben insgesamt. An diesen Themen möchte Poschardt aufzeigen, was Mündigkeit bedeutet, immer im Gegensatz zu einem angeblichen Zeitgeist, in dem (seit irgendwann zwischen 1980 und 1990) freiwillige Unmündigkeit gesellschaftlicher Trend sein soll.

Das Kapitel über Motorsport (130–141), das weitgehend vom Tod Ayrton Sennas 1994 handelt, darf dabei als Schlüssel gelten:

Natürlich ist es gut, dass […] niemand mehr tödlich verunglückt, aber der Formel 1 wurde damit ihre existenzielle Beglaubigung genommen, es mit der Fortschrittserzählung radikal ernst zu meinen. (138)

Poschardt, der sich gerne auf Heidegger bezieht und Senna fast zur Christusfigur hochstilisiert, sieht Mündigkeit in ihrer höchsten Ausprägung dort, wo man »in der Gefahr nicht umkommt, sondern in ihr das Rettende erkennt« (140). Sie ist für ihn letztlich eine gelebte Gesinnung: eine praktische Disposition zur Veränderungsbereitschaft, zur Offenheit, zum existenziellen Risiko, zur Erkenntnis- und Erlebnisfreude. Verschiedene Genusspraxen wie etwa exzessives Feiern und spontaner Sex (158–168), Skaten (143 ff.) oder das Wohnen in Lofts (93–97) gelten hierfür als paradigmatisch, vor allem aber das schnelle und riskante, aber souveräne Autofahren. Beständiges Raunen, das unverantwortliche Fahren als Inbegriff der Freiheit könnte im Zuge der angeblichen allgemeinen Bewegung hin zur Unmündigkeit verboten werden, ist ein Leitmotiv des Buchs und ergänzt sich gut mit den Autometaphern (v.a. »Drift«), die ebenso durchgehend die Sprache prägen.

Die Trennwand zum voluntaristischen Wahnsinn ist da natürlich dünn. Der Mündige, wie Poschardt ihn (und sich in ihm) imaginiert, ist jemand, der nicht nur kein idealer Verkehrsteilnehmer sein will (12), sondern der »aus Lust mehr riskieren« will als andere, »Panikmacher und Angsthasen« (18) verachtet und sich in der Verweigerung um der Verweigerung willen gefällt: »Ich glaube nicht, dass es eine Angst davor geben sollte, etwas nicht zu machen, von dem man glaubt, man müsse es machen« (17f.; nebenbei bemerkt kein Ruhmesblatt für das Lektorat bei Klett-Cotta, dass ein so ungeschlachter Satz durchgekommen ist). Die para-epikureischen Vorüberlegungen dazu, dass man sich aus Gründen der Genussoptimierung und »Abweichungsverstärkung« halt auch mal zurückhalten müsse, statt immer nur aufs Gas zu drücken (18), wirken wie eine nachträgliche verlegene Ergänzung, die zudem von Poschardts enthusiastischer Übernahme der Parole »Never lift«, die gerade dazu auffordert, niemals den Fuß vom Gas zu nehmen, am Schluss wieder konterkariert wird (254).

Im Deutschen gibt es kein Wort für »contrarianism«, was schade ist, weil dies einen wichtigen Zug von Poschardts Denken beschreibt. Er ist im Zweifel für und gegen alles. Er bringt Adorno mit der Inneren Führung der Bundeswehr zusammen (66ff.), lobt und kritisiert das klassische Preußentum, weil es irgendwie sowohl zur Mündig- als auch zur Unmündigmachung des Bürgers tendiert (45ff./253), oder teilt flammend gegen Bildungsungerechtigkeit aus, um genau an dem Punkt, wo er tatsächlich etwas über die traurige Realität des archaischen gliedrigen Schulsystems sagen müsste, zu einem Angriff auf die hessische Bildungspolitik nach 1970 überzugehen (57). Rassistische Antidemokrat*innen wie Ayn Rand und Peter Thiel sind für Poschardt ebenso positive intellektuelle Bezugspunkte wie der Antisemit Jean-Luc Godard, sogar noch nationalsozialistischer Black Metal hat seine kulturelle Berechtigung (231f.): »Schönheit ist wichtiger als die Moral, wenn es der freie Weg sein soll. Und alles kann schön sein« (255).

Das Stakkato von Popkulturphänomenen, auf die reflektiert wird, wirkt allerdings über weite Strecken merkwürdig angejahrt. Poschardt fällt schon online damit auf, deutsche Mentalitäten der Gegenwart hartnäckig an Kulturprodukten zu messen, von denen schon Mittdreißiger heute wenig bis nichts mehr wissen (z.B. die ZDF-Serie Diese Drombuschs). Auch in Mündig orientiert er sich gern an Phänomenen der 80er- und 90er-Jahre: Kirchentagsrhetorik, Holger Börner (178), Guido Westerwelle, Rennfahrer der Zeit vor Michael Schumacher, Marxistische Gruppe (174), Unser Lehrer Doktor Specht (58), Sex and the City, immer wieder Popmusik der frühen 80er. Bei aller zwangscoolen Aufgedrehtheit haben Poschardts Überlegungen daher etwas merkwürdig Antiquiertes (er selbst würde vielleicht das Wort »überholt« bevorzugen). Die Passagen, die sich dann geballt an Fernsehserien von 2011 oder Hip-Hop und Autowerbung von 2018 abarbeiten, wirken bemüht und haben etwas von Sichbeweisenwollen eines Gealterten.

Das Ziel der ganzen Übung der »Mündigwerdung« ist letztlich eine Form der Lebensführung, zu deren Beschreibung Poschardt im Schlusskapitel auf vier Seiten nicht bloß Kant, sondern gleich auch noch Xenophanes, Sokrates, Descartes, Wittgenstein, Camus, Popper, Jeffrey Young und Ignatius von Loyola mobilisiert (245–248). Hier wird keine Abhandlung geschrieben, hier wird »gedriftet«, zwischen Feuilletonismus und Unternehmensberater-Lingo (»VUCA-Welt«, 250). Es ist aber relativ einfach, auf den Punkt zu bringen, was den hier gefeierten und geforderten Lebensstil ausmacht: Er bietet Individuen die Möglichkeit, an eigenständig dosierten Unvernunfterfahrungen in radikal subjektiver Weise zu wachsen. Dabei gibt es prima facie keine moralischen oder ästhetischen Grenzen, alles ist erst einmal erlaubt oder kann zumindest ausnahmsweise einmal ausprobiert werden, sofern das in einem Rahmen von bedeutsamer Selbsterfahrung geschieht. Dies verteidigt Poschardt gegen einen imaginierten, protestantisch-grünen Megatrend hin zum Sichbeugen ins moralische Diktat, in dem die Subjekte die Möglichkeit, sich frei für die Vernunft zu entscheiden, mit der Kenntnis anderer Optionen aufgeben, also in eine selbstverschuldete spießige Unmündigkeit marschieren (und dafür das Auto, »das dynamische Etui des Einzelnen und seiner Freunde und Familie« stehen lassen, 13).

Dieser Blick auf die Conditio humana ist natürlich nur möglich, solange es nicht irgendwelche echten existenziellen Bedrohungen gibt, die von der Menschheit gemeinschaftlich bewältigt werden müssen. Das Bewusstsein bestimmt hier das Sein. Die Notwendigkeit etwa, die Zivilisation als solche je wieder in einem kollektiven Existenzkampf verteidigen zu müssen, wie es im Zweiten Weltkrieg geschehen ist, kommt nicht vor. Das verwundert, da Poschardt doch die geistigen Wurzeln der Nachkriegs-BRD so wichtig scheinen und er sich immer wieder kompromisslos gegen die AfD stellt. Es erklärt aber, warum er keine Probleme damit hat, immer wieder mit hart rechten Intellektuellen zu kokettieren. Dabei ist er selbst alles andere als »rechts«, sondern tut über lange Strecken seine Bewunderung für ausgewählte Ausschnitte des linken theoretischen Erbes sowie insbesondere den Linksliberalismus der Bundesrepublik vor 1982 kund und plädiert für zahlreiche klassisch sozialdemokratische Politikziele.

Vor allem aber ist es für Poschardt denknotwendig, dass es keine tatsächliche existenzielle ökologische Bedrohung gibt, weil dies seine Wertehierarchie umstieße. Windkraftanlagen (die immerhin mehr als ein Fünftel des deutschen Stromverbrauchs decken) sind für ihn nur »großgewordene[] Kindergartenpropeller[]« (13) und die vermutlich unabwendbare Unbewohnbarwerdung der Erde durch die Klimakatastrophe taucht bei Poschardt nur im Konditional und als Zweitmotivation ohnehin wünschenswerter Veränderungen im Konsumverhalten auf. Als lebensbedrohliche Realität ist sie für ihn lediglich ein Popanz der Grünen, eine »Angstreligion« (251).

– Wenig ist so alt wie das politische Buch von vorletztem Monat. Poschardts Buch wurde sichtlich vor der Pandemie geschrieben, und etwa die Behauptung, in jeder Krise würde »als Erstes die Freiheit des Einzelnen problematisiert, um dann im nächsten Schritt die Entmündigung als wohlwollende Einschränkung der Freiheit vorzubereiten« (16) wirkt heute, da an jeder Ecke, ob nun von Spitzenpolitikern, reichen Zeitungsherausgebern oder kleinen Facebooknazis, gefordert wird, Einschränkungen der individuellen Freiheit aufzuheben, und wenn es noch so viele Todesopfer fordert, noch antiquierter und formelhafter als ohnehin schon.

Die zentrale Prämisse ist der schon mehrfach genannte angebliche regressive gesellschaftliche Zug hin zur freiwilligen Unmündigkeit, zur Staatsgläubigkeit und zum Paternalismus. Woher Poschardt diesen Befund genau nimmt, ist unklar; er wird nie hergeleitet, sondern von der ersten bis zur letzten Zeile vorausgesetzt. Möglicherweise hat er vor allem mit seinen persönlichen Geschmacksurteilen zu tun; böse gesagt: Wer als Werkzeug nur ein Gaspedal hat, sieht in jedem Problem ein Tempolimit. Ich halte Poschardts optimistische Prämissen ansonsten für genauso falsch wie seine gesellschaftspolitische Voraussetzung. Die westliche Zivilisation und die Menschheit als ganze sind beide akut bedroht und große Kraftanstrengungen zu ihrem Erhalt sind notwendig. Knappe Ressourcen, zuvörderst Zeit und das winzige verbliebene Klimagasbudget, müssen notwendigerweise prioritär für diese Anstrengungen eingesetzt werden.

Selbstverständlich stimmt es, dass eine Welt ohne Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung auch nicht mehr lebenswert wäre, aber Poschardts Implikation, dass bereits eine Welt, in der es nicht mehr möglich ist, aus freier Entscheidung mit einem benzingetriebenen Auto lebensgefährlich schnell zu fahren, so wenig lebenswert wäre, dass sie auch genauso gut gleich untergehen kann, ist nicht nur spleenig, sondern mindestens ebenso nihilistisch wie die transgressiven Kulturprodukte, die dieses Buch feiert. Die wenigen Augenblicke, die der Menschheit welthistorisch gesehen noch bleiben, sind sicherlich besser darauf verwendet, ihr Ende abzuwenden oder es (was wahrscheinlicher ist) zumindest etwas hinauszuschieben und palliativ auszugestalten, als zur persönlichen Sinnstiftung von 911er-Fahrern beizutragen.

Mündig ist ein Buch, das Fahrlässigkeit predigt. Das ändert jedoch nichts daran, dass es immerhin diskutabel ist, also: einen Beitrag darstellt und nicht etwa desinformiert. Die Ungenauigkeiten, die man darin findet (so impliziert Poschardt, die Idee der Presse als »vierter Gewalt«, die zu Balzac, Carlyle und Burke zurückreicht, sei irgendwie spezifisch für die Nachkriegsbundesrepublik, 102; seine Falschschreibung von Dirk Roßmanns Namen lässt erkennen, dass Poschardt weitgehend ohne Recherche aus dem Kopf schreibt, 123), sind im Vergleich zu anderen politischen Büchern, die ich in den letzten Jahren in Händen gehalten habe, harmlos; ich habe Poschardt insgesamt mit erheblich mehr Gewinn gelesen als etwa Richard David Precht oder Thea Dorn. Dass er einer essayistischen Tradition angehört, in der sich an Phänomenen abgearbeitet wird, denen man Allgemeinheit und Wirkmacht einfach unterstellt, ohne sie je mehr als anekdotisch zu belegen, wirkt heute, da man selbst zu komplexen Trendfragen mit drei, vier einfachen Google-Eingaben wenigstens empirische Anhaltspunkte gewinnen kann, veralteter denn je. Aber ihm als Einzelperson kann man nicht vorwerfen, dass er das alte Spiel weiterspielt.

Zum Schluss verdient die sprachliche Manieriertheit des Buchs noch ein paar Sätze. Der vielfach karikierte Poschardt-Stil enttäuscht auch im Buchformat nicht. Der unbedingte Wunsch, auf Teufel komm raus allem größtes Gewicht zu geben, wenn beispielsweise aus dem deutschen Finanzminister mal eben ein »Schatzkanzler« wird (151), paart sich mit dem unwiderstehlichen Willen zur überraschenden Phrase und bringt Blüten hervor, die sich selbst eine Poschardt-Parodie der TITANIC nicht trauen würde (vgl. Anhang). Poschardts »Drift«, im ganzen Buch die Leitmetapher für »mündiges« Denken und Leben, geschieht ganz buchstäblich stets kurz vor dem Abriss seiner eigenen intellektuellen Bodenhaftung.

Was aber vielleicht das Allerwichtigste ist: Das alles ist komisch, aber es ist nicht unfreiwillig komisch. Auch wenn Poschardt als Person im realen Leben ungeheuer steif und linkisch sein kann, weiß er doch zumindest als Schriftsteller um das Groteske seiner Pose, ja forciert es sogar, weil für ihn »die Existenz eben auch ein Karneval ist, das Denken eine Clownerie, das Schreiben ein Gezappel« (33). Da kann dann auch das Lehrer- und Predigerkind Poschardt über andere »Lehrer- und Pfarrerskinder[]« herziehen (106) – denn:

Darum geht es: lachend zur Witzfigur zu werden. (196)

qed 🤡

Anhang: Die zehn größten Quatschsätze in Mündig

  1. »Der Türsteher vergibt die Mündigkeitshouseaufgaben.« (161)
  2. »In rhizomatisch geführten Betrieben sind die unterschiedlichen Tentakel eben auch Wahrnehmungsassistenten.« (125)
  3. »Heideggers Dystopie von der Herrschaft des Gestells ist als eine Art infames Entlastungs-Spa mächtig geworden.« (12)
  4. »[Jürgen] Klopp weiß, dass er nur mehr eine Anti-Aging-Cremetube entfernt ist von seinem kulturellen Schatten.« (196)
  5. »Godard hat den Linksradikalismus als Bi-Turbo für seine Überlegungen stets missbraucht.« (37)
  6. »Je feiner es [das Fahrwerk des mündigen Intellektuellen] justiert ist, umso besser die Straßenlage in den Debatten und die Traktion aus den Argumentationskurven hinaus.« (32)
  7. »Im Nachtleben wären mehr Kontrollen tödlich, zumindest für den freien Geist des Nachtlebens, jene Mischung aus Balz, Bordeaux und Petting.« (160)
  8. »Das belegen Jay-Z und Dirk Rossmann, Dr. Dre und Nicola Leibinger.« (123)
  9. »Teile des Buches bestehen aus einer Consommé von Texten, die in der ›WELT-Gruppe‹ erschienen sind.« (4)
  10. »Pop ist jetzt staatstragend, geht ein und aus im Weißen Haus (reimt sich)« (223).

Beitragsbild (unverändert): Lothar Spurzem (CC BY-SA 2.0 de)

Der Gefangene der Freiheit

Ein Essay von Christian Johannes Idskov, aus dem Dänischen übersetzt von Matthias Friedrich

 

Am 30. April kam die Nachricht von Yahya Hassans Tod. Der Dichter wurde nur 24 Jahre alt. Dieser Essay wurde am 03. März fertiggestellt und war als Beitrag für die erste diesjährige Vagant-Ausgabe mit einem Thementeil über Ungleichheit und soziale Absicherung geplant. Wir veröffentlichen ihn an dieser Stelle ungekürzt und unverändert.

 

Wie konnte das geschehen? Weshalb musste es ihm so ergehen? Vielen in Dänemark erschien Yahya Hassan lange als schwer zu verstehender Fremder. Doch jetzt, da man die Umrisse seines Lebenswegs erkennt – vom unangepassten jugendlichen Kriminellen zum landesweit bekannten Dichter und später zum Gewaltverbrecher in Isolationshaft und Drogensüchtigen im Entzug –, ist man dennoch schwerlich überrascht. Hatten wir, die wir ihm in den letzten sieben Jahren mit Hilfe der Medien folgten, wirklich etwas Positiveres erwartet? Eine glückliche Entfaltung? Ein geborgenes und sicheres Leben? Stattdessen hat Yahya Hassans gesellschaftlicher Aufstieg die Vorurteile der Öffentlichkeit scheinbar bestätigt: dass man den Jungen vielleicht aus dem Brennpunkt, nicht aber den Brennpunkt aus dem Jungen entfernen kann. Bereits im Debütband schien er zu wissen, dass sein Schicksal besiegelt war: „MEINE PORNOSEELE MEINE GELDSEELE MEINE GEFÄNGNISSEELE / NEHMT MICH RUHIG GEFANGEN“.

*

Natürlich war es Yahya Hassan, der sagte: „Ich verstehe ihn.“ Es ist das Jahr 2015, zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Debüts, und Yahya Hassan ist auf dem Höhepunkt seines Starstatus. Der Mann, von dem der junge Dichter spricht, heißt Omar Abdel Hamid El-Hussein. Der Terrorist, der am 14. und 15. Februar 2015 in einem der größten Terroranschläge in Dänemarks Geschichte den Journalisten Finn Nørgaard und den jüdischen Türsteher Dan Uzan erschoss sowie fünf Polizeibeamte verletzte – bevor er in einem Schusswechsel mit dem Sondereinsatzkommando der Polizei selbst auf offener Straße getötet wurde.

Yahya Hassan brachte El-Husseins Verbrechen keine Sympathie entgegen – „natürlich sollte man so einen Idioten bekämpfen“, sagte er der Zeitung Politiken in der Zeit nach dem Anschlag (20.05.2015) –, doch wenn man heute die Äußerungen des Dichters liest, ist ein Zweifel unmöglich: Yahya Hassan sah in dem drei Jahre älteren Omar eine Schicksalsgemeinschaft.

In ihrer Kindheit lebten beide in Flüchtlingslagern im Mittleren Osten, sie wuchsen in sozial benachteiligten dänischen Wohngebieten auf und waren in gewalt- und bandenkriminellen Milieus aktiv. Yahya Hassan lief Omar El-Hussein niemals über den Weg, aber sie beide waren junge, wurzellose Kleinkriminelle, die das Gefühl hatten, ihr Dasein befände sich außerhalb der eigenen Kontrolle: „Wie ich steckte auch er ganz unten in der Gesellschaft fest. Die palästinensische Situation erzürnte, der Rechtsruck in Europa verwirrte ihn.“ Und Yahya Hassan sagte auch: „Er beging Verbrechen, während er boxte und seine Leidenschaft und sein Talent zu finden versuchte. Ich machte Verbrechen wieder gut, während ich einen Gedichtband schrieb. Er verlor seinen Boxkampf und machte mit der automatischen Schusswaffe weiter. Ich hatte das Glück, veröffentlicht zu werden.“ Zum Schluss fügte er an: „Ich sagte nicht, dass ich als Terrorist geendet wäre, aber ich hätte in einem ähnlichen Umfeld festgesessen.“

*

Liest man heute YAHYA HASSAN (2013), seinen ersten Gedichtband, ist der Eindruck auf vielerlei Arten ein anderer als beim Erscheinen im Oktober 2013. Die Gedichte haben nichts eingebüßt, im Gegenteil, sie wirken hemmungsloser und komplexer. Kann man sagen, dass sie unabhängiger von der Welt geworden sind? Vielleicht dürfen sie sich erst jetzt als Lyrik offenbaren.

Damals, 2013, ließ sich das Debüt unmöglich von der politischen Debatte getrennt lesen. Viele betrachteten den Gedichtband als Augenzeugenbericht aus einem Brennpunkt, den zu betreten nur wenigen gestattet war. Der Grund dafür war einleuchtend. Zwei Wochen vor der Veröffentlichung hatte Yahya Hassan einen gewaltigen Aufruhr verursacht, als er im meistgelesenen Interview in der Geschichte der Zeitung Politiken (05.10.2013) von einer Unterschichtenkindheit erzählte, die geprägt war von Gewalt und Vernachlässigung: „Ich habe einen verfickten Hass auf die Generation meiner Eltern.“ Wie so viele andere Einwandererfamilien kam seine eigene in den Achtzigerjahren nach Dänemark. „Wir, die Ausbildungen abgebrochen haben, wir, die kriminell geworden und wir, die zu Pennern geworden sind, wir wurden nicht vom System vernachlässigt, sondern von unseren Eltern. Wir sind die elternlose Generation“, sagte er.

Zu dieser Zeit hatte der junge Dichter im Fernsehen und in Zeitungen eine ganze Menge zu erzählen. Er erzählte vom Leben in einem Brennpunkt mit einer „durchgängigen sozialen Verderbtheit“ und einer „moralischen Heuchelei ohnegleichen“. Seine Geschichten handelten von einer neudänischen Unterschicht, kontrolliert von gewalttätigen Vätern, die willig waren, den Koran zu rezitieren, in die Moschee zu gehen und „Heilige zu spielen“, wohingegen sie gleichzeitig kein Problem damit hatten, „das Sozialsystem auszutricksen und zu betrügen“, wie Hassan es im Politiken-Interview ausdrückte.

Heute lässt sich schwer übersehen, wie der erst 17-, 18-jährige Dichter nahezu eigenhändig andere Maßstäbe für eine vollkommen festgefahrene Debatte über Brennpunkte, Geflüchtete und den Islam in Dänemark setzte. Die Kritiker der Rechten hatten in den vergangenen Jahren durchgehend moniert, es käme zu einem Kampf zwischen den Kulturen, weil radikale Muslime die Freiheitsrechte einschränken würden, wohingegen die Linke die Kritik an der kulturellen Begegnung ablehnte und die Fahnen der Toleranz hisste, wenn sie Einwanderungsprobleme nicht gerade äußerst wohlwollend als ein Klassenproblem beschrieb. Der Wertekonflikt der dänischen Nullerjahre hatte eine neue Hauptperson bekommen. Nach der Veröffentlichung von YAHYA HASSAN waren die meisten sich einig, dass es in betroffenen Einwanderermilieus Probleme gab, die jetzt auf einmal – blitzartig – unmöglich zu ignorieren waren.

Aber was ist mit den Gedichten? Hatten die etwas mehr zu erzählen? Zuvorderst waren sie von einer an subjektzentrierte Lyrik erinnernden Verbrecherattitüde angetrieben, die mit einem singenden, zornerfüllten Koranvokal und überraschenden, provokanten Bildfindungen das Einwanderermilieu mit sozialer Unterdrückung und patriarchaler Gewalt verkoppelte: „FÜNF KINDER IN AUFSTELLUNG UND EIN VATER MIT KNÜPPEL / VIELFLENNEREI UND EINE PFÜTZE MIT PISSE“, lauteten die ersten Verse. Geschichten von Barbarei in intimsten Zusammenhängen waren es, die an mehreren Stellen den Gedichtband dominierten, und die Rechte guckte auf den jungen Dichter und sagte: Seht, wir haben es ja gewusst! Die Kultur der Muslime sei eine Kultur der Gewalt, die die unantastbare Freiheit des Individuums nicht verstehe. Und die Linke sagte: Vergesst es! Die Konzentration von Geflüchteten und Armut in Wohnblöcken schaffe soziale Probleme, die wiederum Gewalt und Vernachlässigung erzeugten. Nur von der muslimischen Minderheit wurde er nicht gelobt. Als er kurz nach der Veröffentlichung seine Gedichte im Odense-Vorort Vollsmose vortragen sollte, geschah dies mit Polizeiaufgebot, Helikoptern in der Luft und Live-Übertragung im Fernsehen. Ganz Dänemark war dabei, aber als der junge Dichter in den Wohnblock zurückkehrte, saß in den Zuschauerrängen des Saals fast niemand mit muslimischem Hintergrund. In Schweden schrieb die Dichterin Athena Farrokhzad in einer Besprechung des Buches (Aftonbladet, 17.03.2014), es gebe Themen, über die man ganz einfach nicht schreiben könne, wenn man aus einer muslimischen Minderheit komme. „Es fühlt sich unmöglich an, sie einer überwiegend weißen Öffentlichkeit zu schildern.“

Farrokhzads Kritik führte zu einer großen Debatte über die verschiedenen Erfahrungen von Minoritätsgruppen und wie diese literarisch umgesetzt und, nicht zuletzt, mit den weißen Mitmenschen diskutiert würden. Yahya Hassans Gedichtband war allerdings viel mehr als eine Kritik an der patriarchalen Gewalt- und Schnorrerkultur der neudänischen Unterschicht oder ein „Geschenk an die Dänische Volkspartei“, wie Farrokhzad meinte. Es war ein Buch, das bereits im ersten Gedicht den Blick vom sozialen Elend in den Wohnblöcken in Aarhus Vest auf einen Mittleren Osten mit Drohnen, Krieg, Flüchtlingslagern und Zerstörung lenkte. Es zeichnete die gesamte Reaktionskette nach, die der sozialen Katastrophe in Dänemark zugrunde lag. Kurz, die Gedichte waren die Antwort einer zornigen neuen Stimme: Hier stellte er die kriegsführenden Dänen vor die Konsequenzen ihrer politischen Handlungen. Geschichte und Globalisierung suchten nun diese naive Nation mit dem zornigen, jungen Dichter als Opfer und Boten heim. Bitteschön, Dänemark, hier habt ihr mich, eines der vielen kriegsgeschädigten Kinder des Mittleren Ostens!

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Die Vorstellung, dass Yahya Hassan sich bereits im Alter von siebzehn Jahren dazu berufen fühlte, sich selbst als Prophet zu porträtieren, ist unglaublich. Überall in seinem ersten Buch findet man diesen singenden Verkündungsdrang, ganz so, als wäre er endlich hier, Gottes ungezogene Sohn, der nächste falsche Messias, er, der sich vom Glauben entfernt hat: „DOCH SIEHE WAS SATAN HINTERLASSEN HAT / EINE EWIGE FLAMME AUS SEINER HÖLLE“. Yahya Hassan stellt sich selbst als Nachkommen vom Urmenschen der Zivilisation dar. Wieder und wieder beschreibt er sich als „Höhlenbewohner“, einen halben Mohammed, den gewöhnlichen Menschen des islamischen Glaubens, der jeden Tag versucht, aber dennoch niemals wünscht, die Offenbarung zu erlangen und sich als Allahs besonders Auserwählten zu zeigen. Wie Jesus trägt er die Leiden seines Volkes. Er ist ein exilierter, staatenloser Palästinenser mit einer gefährlichen Vaterbeziehung, ein zorniger, junger Mann, gefangen zwischen verschiedenen Identitäten. Kurz: ein Prophet mit vielen Identitäten.

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Mit am Interessantesten an Yahya Hassan sind seine Versuche, sich immerzu von den Fesseln, die ihn gefangen nehmen wollten, loszureißen. Auf paradoxe Art ist er immer gewesen, was sich die liberale Gesellschaft für das moderne Individuum erträumt hat: Er hat gegen seinen sozialen Hintergrund und sein Erbe aufbegehrt, den kulturellen Verbindungen, die ihm bei Geburt mitgegeben wurden, ist er ausgewichen, ebenso hat er sich einer rücksichtslosen und unbedingten Neuerfindung hingegeben: ja, größtenteils allen Arten der Befreiung, die wir aus der spätkapitalistischen Gesellschaft kennen.

Rückblickend ist es überhaupt nicht schwer, Yahya Hassan als das zu sehen, was Friedrich Nietzsche als „Legionär des Augenblicks“ bezeichnete. Der junge Dichter trat in einen Leerraum hinein, den vor ihm nur die wenigsten gesehen hatten. Obwohl sich auch hier die dänische Einwanderungsdebatte nicht überhören ließ, war sie auch im Pausenmodus. Der junge Dichter wollte sich weder mit der einen noch mit der anderen Seite versöhnen. Er hatte die Gemeinschaften der Gesellschaft nicht aufgegeben, sondern meinte, sie selbst gestalten zu können. Anders ausgedrückt, Yahya Hassan sah die Möglichkeit, sich selbst in einem postrevolutionären Vakuum zu manifestieren, das zu  diesen nietzscheanischen Augenblickslegionäre gewesen ist: Emigrant*innen, Initiator*innen, Redakteur*innen, Dichter*innen, Scharlatan*innen und politischen Aufrührer*innen gehört hat. Personen, die sich selbst als Vorhut der Geschichte begreifen. Die, die das Chaos nicht fürchten, sondern davon zehren.

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Bei einer derartigen Manifestationskraft lässt sich nichts dagegen einwenden, dass sich Yahya Hassan eine Zeitlang als Politiker versuchte. 2014 wurde er Sprecher der Nationalpartei, gegründet von den Brüdern Kashif Ahmad, Aamer Ahmad und Asif Ahmad. Für die erste Pressekonferenz bemächtigte sich der junge Dichter der Bühne, als handele es sich um einen Gedichtvortrag. Vierzig Minuten lang las er aus einem politischen Manifest mit Ausrufezeichen und wütenden Schlachtrufen:

Wir sind keine bürgerliche Partei. Wir sind eine Partei der Bürger*innen und haben die Mitte eingenommen, um uns in Richtung der Vernunft vorzuarbeiten. Wir sind eine Plattform für unabhängige Stimmen, die nicht in die Mikrofone der Banken schreien. Die nicht in die Mikrofone der Waffenhändler*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamist*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamophoben schreien. Wir sind Dänemark.

Die Idee der Partei war, die politische Landschaft zu zersplittern und denjenigen Parteien, die in ihrer Ideologie verstaubt wirkten, den Rang abzulaufen. Es ging darum, den Einwanderern des Landes ein neues politisches Gesicht zu geben, doch zugleich hatte die Partei keine Angst, dort anzusetzen, wo eine Zerstörung des langweiligen gesellschaftlichen Erbes am meisten wehtat. Unter anderem wollte die Nationalpartei Geflüchteten verbieten, in die Brennpunktviertel der Großstädte zu ziehen, stattdessen sollten sie im Rest des Landes verteilt werden – ein Vorschlag, den die bürgerlichen Parteien 2018 mit der Linken an der Spitze beinahe eins zu eins mit Ja durchsetzten und der von Rune Lykkeberg, dem Chefredakteur der Zeitung Information, als endgültige Kapitulation vor den Sozialdemokraten bezeichnet wurde (02.03.2018). Das sogenannte Brennpunktpaket ist von der UN scharf kritisiert worden.

Yahya Hassans Karriere als Politiker sollte jedoch jäh enden. Weniger als elf Monate später wurde der Dichter aus der Partei geworfen, nachdem er unter Drogeneinfluss Auto gefahren war. Bis dahin war es zu mehreren Zwischenfällen gekommen, einige davon aufgezeichnet in seinem persönlichen Facebook-Livestream, in dem der junge Dichter Nachrichten an alle Personen aus dem Bandenmilieu schickte, die ihm anscheinend nach dem Leben trachteten. Während er eine kugelsichere Weste trug, sagte er zu Allan Silberbrandt, dem Nachrichtenmoderator des Senders TV2: „Die Sache ist die, dass ich der Partei und meinem Vorsitzenden zu einem frühen Zeitpunkt des politischen Prozesses klargemacht habe, dass ich eine Person bin, die bedroht wird und sich auf der Straße mit Leuten prügeln muss.“ Auf halbem Weg aus dem Studio setzte er seinen Monolog fort, ohne sich vom Moderator unterbrechen zu lassen: „Mit euch hab ich nichts mehr zu bereden. Wie es ums Land steht, hab ich schon gesagt. Fickt euch mit eurem bürgerlichen Wischiwaschi und euren ganzen Lügengeschichten. Intrigen anzetteln könnt ihr gegen mich und meinen Schwanz, so viel ihr wollt. Mein Schwanz ist beschnitten und schön. Dir noch ‘nen guten Abend, ich mag dich wirklich gern, und grüß Pia [Kjærsgaard, frühere Vorsitzende der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, A. d. Ü.].“ Via Facebook schickte er einen letzten Gruß: „Ab heute Abend schreibe ich nur noch Gedichte und Todesanzeigen.“

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Wenn man über Yahya Hassan spricht, ist eine Trennung von Maske und echtem Leben sinnlos. Größenwahn, knallharter Zynismus und Übertreibungskunst waren von Beginn an tragende Elemente seiner Selbstdarstellung – ganz gleich, ob es um seine lauthals vorgetragenen Gedichte, zügellosen Fernsehauftritte oder temperamentvollen Videos in sozialen Medien geht. Yahya Hassan ist auch ein Kind der modernen Technologie- und Informationsverbreitung. Er wurde sowohl verfolgt als auch verehrt, aber die öffentliche Ordnung hat er selbst zuerst gestört: Er hat gegen seine Herkunft aufbegehrt, sich aber niemals irgendeiner Art von dänischer Identität untergeordnet. Er hat die Autoritäten um sich herum niemals akzeptiert, aber er wollte sich auch nie etwas für sich selbst aufbauen. Er war, wie der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk es formulieren würde, zur Freiheit gezwungen. Man könnte ihn als einen Gefangenen der Freiheit bezeichnen. Einen vaterlosen, staatenlosen Palästinenser ohne Furcht vor oder Vertrauen auf die großen Gemeinschaften. Er hat versucht, die Verbindungen zu seiner Vergangenheit zu kappen, allerdings ist es ihm nie so recht gelungen, sich in seinem neuentdeckten Freiheitsparadies einzufinden. Als er noch auf dem Vormarsch war, ließ er sich beinahe als revolutionären Gesellschaftswandler betrachten, der versuchte, das Leben eines ganzen Milieus zu verbessern. Jetzt, da er den Kampf gegen seine eigene Vergangenheit verloren zu haben scheint und Gefängnisstrafen wegen Gewalttaten verbüßt hat sowie in der forensischen Psychiatrie behandelt worden ist, fragt man sich, ob überhaupt irgendwer imstande war, ihm zu helfen oder sein Leben zu verbessern. Yahya Hassan ist selbst zum Bild des sozialen Elends Dänemarks geworden. Der dänische Traum ist eine Lüge. Selbst für die Talentiertesten gibt es keinen leichten Weg aus dem Brennpunkt hinaus.

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Als die dänische Premierministerin am 01. Januar ihre Neujahrsansprache hielt, erzählte sie, sie glaube an eine Gesellschaft, in der jeder Mensch eine grundlegende Verantwortung für sein eigenes Leben trage. Aber sie sagte auch, dass wir dem Einzelnen nicht die komplette Verantwortung überlassen könnten. „Wenn die Kindheit bestimmt, was im späteren Leben passieren wird, dann ist das Muster immer noch zu stark und die Gemeinschaft zu schwach.“

Mette Frederiksen erinnerte insbesondere an die Kinder, die es am allerschwersten haben. Kinder, die zu Hause Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung erlebt haben. Der Ministerpräsidentin zufolge sei es jetzt an der Zeit, die Berührungsangst aufzugeben: „Wir müssen als Gesellschaft sichtbar werden. In Zukunft müssen mehr Kinder als heute ein neues Zuhause finden können. Und die Bedingungen für Kinder in Familien und Hilfseinrichtungen sollen noch viel stabiler sein.“

Es waren Kinder wie Yahya Hassan, von denen sie sprach.

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Im Laufe der Jahre haben sich viele auf Yahya Hassans Kritik am Brennpunktmilieu versteift, aber weitaus weniger haben sich seiner Schilderungen der unmenschlichsten Seiten des Wohlfahrtsstaates angenommen. Leicht lässt sich sein Gedichtdebüt als Reise durch die dänische Sozialhilfe beschreiben. Nach etwa einem Drittel des Buches lernt man dieses engmaschige Netz aus Aufenthaltsorten, Jugendeinrichtungen, Erziehungsbeiständen, Gefängnissen, Urinproben und Pädagogen kennen, die als Türsteher für einen mit seinem Leben unzufriedenen Teenager agieren.

Natürlich ist Yahya Hassan die Hauptfigur dieser Anti-Bildungsreise, auf der sich alles drum herum als anonyme und einengende Ausübung von Macht beschreiben lässt. In diesem System macht er keine hilfreichen Erfahrungen, erlebt nichts Positives, bis zu dem Punkt, an dem er einer neuen und ungewöhnlichen Kontaktperson begegnet, die ihn auffordert, zu schreiben und ihn auf die Spur der Literatur bringt. Kurze Zeit darauf stiehlt Yahya Hassan eine Kiste Bücher, und darin findet er den ersten Band von Karl Ove Knausgårds autofiktionalem Romanzyklus. Die Literatur, nicht die Sozialbehörden, werden zu seiner Rettung. Glaubt man dem Gedichtband, dann findet er seinen Weg ins Leben hier.

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Die Arbeiterliteratur ist reich an Geschichten, die zeigen, dass der Versuch, etwas an den Bedingungen der Schwächsten zu ändern und sie bloßzustellen, ein ungeheuer feiner Balanceakt ist. Noch 2016 musste sich der französische Autor Édouard Louis nach der Veröffentlichung seines Debütromans Das Ende von Eddy (Seuil, 2014) schwere Anschuldigungen gefallen lassen. In der Essaysammlung Etter i saumane. Kultur og politikk i arbeidarklassens hundreår (Unter die Lupe genommen. Kultur und Politik im Jahrhundert der Arbeiterklasse; Gyldendal Norsk Forlag, 2016) bezeichnete Kjartan Fløgstad Louis‘ Kindheitsschilderungen des postindustriellen Nordfrankreichs als „klassistisch“. Fløgstad zufolge machte sich Louis der Klassenverachtung schuldig, wobei das Bürgertum die „Erlösung“ sei, die Reise aus der Arbeiterklasse hingegen der reinste „Aufstieg in den Himmel“. Fløgstads Kritik, auf die Édouard Louis später in Morgenbladet antwortete, war geradezu das Echo einer Debatte, die zwei Jahre zuvor in französischen Medien stattgefunden hatte. Hier wurde Louis genauso angeklagt, klassistisch zu sein und die Arbeiterklasse in eine Kategorie mit „Natur“ und „Barbarei“ gesteckt zu haben. Fløgstads Einwände gegen Louis unterschieden sich also nicht allzu sehr von Hassans Kritik an der neudänischen Unterschicht.

Von intellektueller Seite wurde Yahya Hassan vor allem von Athena Farrokhzad kritisiert. Beging Hassan ein Sakrileg, dann lag das der schwedischen Dichterin zufolge nicht daran, dass seine Beschreibungen der Gewalt in den muslimischen Milieus unzutreffend waren. Sie meinte bloß, er hätte mehr Umsicht beweisen sollen. Kurz, die solidarische Perspektive hätte vor dem Befreiungskampf einer einzelnen, männlichen Person of Color Vorrang haben müssen. Die Frage, wie eine neudänische Unterschicht sich am besten vor der herrschenden (weißen) Klasse schützen sollte, ging Farrokhzad eher von der kollektivistischen als von der individualistischen Seite an.

Dass Yahya Hassan niemals des Klassismus beschuldigt wurde, liegt hauptsächlich daran, dass er zu keiner Zeit vorgab, das Kulturbürgertum biete irgendeine Erlösung. Als wir ihn sechs Jahre nach Veröffentlichung des ersten Gedichtbandes in YAHYA HASSAN 2 (Gyldendal, 2019) wiedersehen, hat er die Türen zum dänischen Kulturparnass eingetreten. Diesmal läuft die Reise durch die Institutionen der Gesellschaft in die entgegengesetzte Richtung. Das Buch beginnt mit Gedichten, in denen er auf dem Weg zu seinem Lektor im Verlag Gyldendal im Zentrum Kopenhagens ist. Er übernachtet im Bett des Journalisten Martin Krasnik, weil er sich nicht frei bewegen kann, und er steht unter ständigem Polizeischutz. „Prämien-Perker“ [Anm. d. Ü.: Das unübersetzbare Wort „Perker“, zusammengesetzt aus „perser“ und „tyrker“, ist eine rassistische Bezeichnung für Menschen mittelöstlicher oder arabischer Herkunft], so heißt das erste Kapitel des Buches, in dem er sich in einen Samtanzug kleidet, die Königin besucht und als Politiker und öffentlicher Debattenteilnehmer durch die Lande reist. Er spricht nicht mehr mit seinen Verwandten, sondern auf Versammlungen und fühlt sich von oben und unten, von allen Seiten beständig unter Druck gesetzt. Genau hier bricht die Vergangenheit wieder durch: „ICH WERDE GERADE ZWISCHEN ZWEI MACHTSTRUKTUREN ZERQUETSCHT (…) ICH STRÄUBE MICH MIT ARMEN UND BEINEN“. Er erzählt, die Anzüge hingen wie „SCHLAPPE LEICHEN“ über dem Ständer. Er „SCHLÄNGELT SICH UM DIE GESELLSCHAFT HERUM“ und schrumpft zu „IMPULS UND INSTINKT“. Er ist auf „UNTERGANGSFORTSCHRITT MIT DER MENSCHHEIT“.

Zeichnet das erste Buch einen Aufstieg von ganz unten in die Gesellschaft hinauf, dann stürzt Yahya Hassan im zweiten vom Gipfel hinab. Yahya Hassan beschreibt den totalen Niedergang, menschlich und sozial, durch ein System bürgerlicher Codes, staatlicher Institutionen und Kontrolle. Doch was er im ersten Buch erlebt, ist weder besser noch schlimmer. Aus den ehrwürdigen Geschäftsräumen des Gyldendal-Verlags geht er in einer rasenden Geschwindigkeit, die ihm selbst nicht einleuchtet, an den Kartoffelreihenhäusern der Østerbro-Sternchen bis in den Brennpunkt, das Gefängnis und die Psychiatrie. „ICH NAHM DAS WORT IN MEINE OHNMACHT“, schreibt Yahya Hassan an einer Stelle. Und an einer anderen: „ICH SÜNDIGTE WIDER DIE VERBESSERUNG MEINES WESENS“. Wie in seinem Debüt besteht ein deutlicher Kontrast zwischen ihm und der Gesellschaft, die immer durch fremde Instanzen repräsentiert wird, welche ihn in Schach zu halten versuchen: Polizei, Banden, Richter*innen, Gefängniswächter*innen, Psychiater*innen, Ärzt*innen, Medien und Verlage. Yahya Hassan ist ständig auf der Flucht vor der Gesellschaft – vor ganz oben wie auch vor ganz unten. Er ist an den Wurzeln ausgerissen, findet aber außerhalb des Brennpunkts anscheinend zu nichts irgendeine Verbindung. Er ist zu einem zornerfüllten und enttäuschten Touristen geworden, der sich apathisch und verantwortungslos zu allen um sich herum verhält: „ICH GLAUBE NICHT AN MEIN LACHEN / ICH GLAUBE NICHT AN MEIN SCHLUCHZEN / DANN LAUFE ICH UMHER UND RÄUSPERE MICH LEICHT / MAL SCHREIBE ICH GEDICHTE MIT GEBROCHENER HAND / IN EINER SPRACHE DIE NACH UND NACH ÜBERLADENER IST ALS MEINE MUTTERSPRACHE / MAL SCHIESSE ICH LEUTE AB / DIE NICHTS VERSTEHEN AUSSER SCHÜSSEN / MAL GEHE ICH FRÜH INS BETT / UM AUFZUSTEHEN FÜR NICHTS / MAL TRAINIERE ICH / UM WIEDER UMGENIETET ZU WERDEN / MAL HABE ICH NOCH EINEN WINTER ÜBERLEBT / UM NOCH EINEN SOMMER HINTER GITTERN ZU VERBRINGEN / MAL VERFLUCHE ICH WER FÜR MICH BETET / UND FINDE FRIEDEN IM NAMEN MEINES FEINDES“.

*

In Yahya Hassans Gedichten gibt es keinen Ort, wo er sicher und geborgen ist. Ruhe findet er einzig und allein im Schicksal, wobei er weder vor den Repressalien der Götter noch des Vaters oder der Sozialbehörden Furcht empfindet. Zusammen liefern Yahya Hassans zwei Gedichtbände den Eindruck eines Menschen, der alles geopfert hat, aber dennoch zum Untergang in einer Gesellschaft verdammt war, die ihm niemals helfen konnte. Er ist das Symptom eines Problems, welches der Wohlfahrtsstaat nicht greifen und daher nicht beheben kann. Er demonstriert die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Wohlfahrtsstaates. Die letzten Verse in YAHYA HASSAN 2 klingen wie ein Punkt, der erst noch gesetzt werden muss: „GELDSTRAFEN HAFT UND GEFÄNGNIS PRALLEN AN MIR AB / NICHT WEIL ICH UNGEEIGNET BIN ZUR STRAFE / SONDERN WEIL ICH ZU SEHR GEEIGNET BIN DAFÜR“.

 

Die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN (2013) stammen aus Annette Hellmuts und Michel Schlehs deutscher Fassung (Ullstein 2014), die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN 2 (2019) von Matthias Friedrich.

Christian Johannes Idskov, 1989 geboren, studierte Literaturwissenschaften in Odense und Kopenhagen. Er ist Kritiker für die Zeitung Politiken und Online-Redakteur der skandinavischen Kulturzeitschrift Vagant.

Matthias Friedrich, 1992 geboren, studierte Kreatives Schreiben in Hildesheim und Skandinavistik in Greifswald. Er übersetzt norwegische Literatur, u. a. von Svein Jarvoll und Thure Erik Lund, und arbeitet gerade an Leif Høghaugs Roman Kælven (Arbeitstitel: Der Kälberich), der voraussichtlich 2021 erscheint.

Der Essay wurde ursprünglich auf der Internetseite der Zeitschrift Vagant veröffentlicht.

Geschichten der Seuche – Vier Sachbücher zur Pandemie

von Susanne Wedlich

Das öffentliche Interesse an Erregern und Epidemien war vermutlich nie größer und Mikrobenliteratur jeglicher Art hat neuerdings Massenappeal. Die Auswahl an Sachbüchern ist groß: in dieser Sammelrezension wird es um vier Werke zu den Grundlagen der Epidemiologie, den Gefahren neuer Erreger, den Schrecken der „Spanischen Grippe“ und zur Vision einer pandemiefreien Zukunft gehen.

Für die meisten von uns ist es eine neue Erfahrung, als Gesellschaft einem Erreger fast hilflos ausgeliefert zu sein. Dabei besteht das eigentliche Novum doch eher darin, dass uns dieses Trauma bislang erspart geblieben war. Die Geschichte der Menschheit war immer auch eine Geschichte der Seuchen, auch wenn unser kollektives Gedächtnis dieses Motiv fast schon aus den Augen verloren hatte.

Das ändert sich jetzt und literarische Wiedergänger wie Boccaccios Decamerone werden als brandaktuelle Lektüretipps gehandelt, während das Interesse an Sachbüchern zu Erregern und Epidemien wahrscheinlich nie größer war – auch bei mir. Als Biologin und Wissenschaftsjournalistin ist mir die Materie grundsätzlich vertraut. Neu ist aber die akute Dringlichkeit der Lektüre mit der Hoffnung auf ein viel tieferes epidemiologisches Verständnis als bisher.

Sehr viel mehr wäre nicht zu erwarten, richtig? Wie sollte das Wissen um historische Ausbrüche helfen, wenn ein ganz neuer Erreger unser Leben umkrempelt? Was würden die Kenntnisse um frühere Quarantänen bringen, wenn sich derzeit die Lage in Deutschland nicht einmal mit der Situation in Italien vergleichen lässt? Wie faktenfixiert und falsch das gedacht war, zeigte allerdings die Lektüre jedes einzelnen der vier Bücher, um die es hier gehen soll.

Denn jetzt fehlte der gewohnte geistige Sicherheitsabstand. Sachbücher zu Seuchen hatte ich bislang anscheinend wie Krimis gelesen, also als höchstens theoretisch relevant, letztlich aber unendlich weit weg. Nun geht alles unter die Haut, historische Auswüchse lesen sich zum Verwechseln aktuell und für das Werk eines sonst hochgeschätzten Autors hätte meine Geduld fast nicht ausgereicht.

Den Anfang macht der schmale Band Seuchen von Kai Kupferschmidt. Der Wissenschaftsjournalist berichtet oft über Ebola und andere Epidemien, hält auch jetzt ein internationales Publikum in Sachen COVID-19 auf dem Laufenden. Sein Buch ist die Notfallapotheke für epidemiologisch interessierte Leser: Corona-bedingt sind viele der Fachbegriffe und Konzepte jetzt zu hören und zu lesen. Hier werden sie noch einmal klar und angenehm schnörkellos auf den Punkt gebracht.

Das Terrain ist abgesteckt, wird von dem amerikanischen Wissenschaftsautor David Quammen in Spillover auf über 500 Seiten aber ungleich tiefer umgepflügt. Wie springen Erreger auf den Menschen über? Warum treten diese Zoonosen immer häufiger auf? Und was macht sie so gefährlich? Quammen beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit diesem Thema und hat selbst schon Forscher bei der Suche nach neuartigen Erregern und ihren natürlichen Reservoirs begleitet.

Dazu gehören Expeditionen in den kongolesischen Regenwald, auf chinesische Wildtiermärkte oder ins Hinterland von Bangladesch – um möglicherweise infizierte Fledermäuse zu jagen. Quammen hat unglaublich viel zu erzählen und zieht seine Geschichten frei nach Agatha Christie als Whodunits auf: Welcher Erreger hat´s ausgelöst und welches Tier ist sein Handlanger, äh, natürlicher Wirt? Die Rolle der Schnüffler übernehmen natürlich die wagemutigen Forscher.

Quammen macht dabei viel richtig, erzählt vor allem Wissenschaft nicht linear. Stattdessen räumt er neben den Erfolgsgeschichten auch den Irrungen und Wirrungen auf dem Weg dahin viel Platz ein. Es ist also sicher der aktuell angespannten Lage geschuldet, dass ich den sonst so verehrten Autor hier streckenweise eher gnadenlos weitschweifig denn als begnadeten Erzähler empfand und auf die eine oder andere launige Anekdote gern verzichtet hätte.

Widerstand ist aber zwecklos und weil in der Fülle der Details grandiose Geschichten stecken, habe ich mich ab der Hälfte des Buches lieber Quammens mäanderndem Erzählfluss anvertraut. Der führt in die Seitenarme der Seuchengeschichte mit unbekannteren Erregern wie dem Hendravirus, macht aber auch lange bei den großen Stationen wie Cholera, HIV und SARS Halt.

Die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney wiederum fokussiert in 1918. Die Welt im Fieber auf die Spanische Grippe, eine Pandemie, die den Planeten in mehreren Wellen überrollte und bis zu 100 Millionen Menschenleben gefordert haben könnte. Spinneys wunderbares Werk beschränkt sich nicht auf den Westen, sondern dokumentiert unter anderem auch Ausbrüche in Australien, Brasilien und China.

Warum hat diese „beinahe vergessene Katastrophe“ kaum Spuren in unserem historischen Bewusstsein hinterlassen? Es habe keine Sieger gegeben, die Geschichte hätten schreiben können“, schreibt Spinney: „Nach einer Pandemie gibt es nur Besiegte.“ Und Nutznießer, ließe sich ergänzen. Denn Seuchen leisten damals wie heute Verschwörungstheorien und xenophoben Ressentiments Vorschub.

So hält US-Präsident Donald Trump hartnäckig an seiner Formulierung vom Chinese virus fest. Im Internet wird der Erreger zuweilen auch zur menschengemachten Biowaffe ernannt, eine Behauptung, die in den vom Krieg zerrütteten Ländern auch über die Grippe von 1918 kursierte, wenn sie nicht Ländern wie Spanien, Deutschland und Brasilien zugeschrieben wurde – trotz oder gerade wegen ihres bis heute nicht eindeutig geklärten geografischen Ursprungs.

Furchtbar modern liest sich auch ein Magazinartikel von 1918, wonach Behörden die Gefährlichkeit der Krankheit übertreiben würden, die „nur alte Menschen“ dahinraffe. Und ein Historiker befand in Bezug auf die Influenza, dass demokratische Strukturen für die Kontrolle einer Pandemie nicht besonders hilfreich seien, weil unterschiedliche Belange konkurrieren würden. Denn wer sich für „eine blühende Wirtschaft einsetzt, höhlt zwangsläufig die Gesundheitsfürsorge aus.“

Eine Szene aus Spinneys Buch schließlich überlagert sich besonders schmerzlich mit dem Bild, das in meinen Augen wie kein anderes für COVID-19 steht: So wie kürzlich Militärfahrzeuge in dunkler Nacht die Toten aus Bergamo holen mussten, stauten sich 1918 zweihundert Särge auf einem New Yorker Friedhof, weil die Gräber nicht schnell genug ausgehoben werden konnten. Die Grippe hatte eine spezifische Gruppe von Einwanderern außerordentlich hart getroffen: die Italiener.

Alles Vergangene ist jetzt und alles Ferne ist nah. Kein noch so großer räumlicher oder zeitlicher Abstand in den Erzählungen kann mehr Distanz schaffen. Das gilt, wenn Kupferschmidt am Anfang von einem kleinen Jungen in Westafrika berichtet, der im Dezember 2013 mit als Erster einer Ebola-Epidemie zum Opfer fiel. Das gilt auch, wenn Nathan Wolfes The Viral Storm (auf deutsch Virus: Die Wiederkehr der Seuchen) in Thailand beginnt, wo im Dezember 2003 ein anderer kleiner Junge an der neu aufgetretenen Vogelgrippe starb.

Der amerikanische Virologe Wolfe skizziert in seinem Buch ebenfalls historische Ausbrüche, hat den Blick aber fest auf die Zukunft gerichtet. Denn er arbeitet an einer Utopie, die angesichts unserer aktuellen Lage fast unvorstellbar scheint: Wolfe möchte ein Virenfrühwarnsystem einrichten. Als globales Immunsystem soll es das Auftreten neuer und bereits gefürchteter Erreger antizipieren oder wenigstens so schnell registrieren, dass eine großflächige Ausbreitung verhindert werden kann.

Für eine pandemiefreie Zukunft müssten biologische und digitale Daten aus verschiedenen Quellen integriert werden: Wo sind die Menschen? Was sorgt sie? Womit sind sie infiziert? Wohin bewegen sie sich? Mit wem stehen sie in Kontakt? Große Populationen können und sollen nicht überwacht werden. Stattdessen setzen die Forscher auf Menschen, die aufgrund ihres Standorts oder ihres Verhaltens ein hohes Infektionsrisiko tragen.

Zu diesen viralen Wachposten gehören etwa all jene, die im zentralafrikanischen Regenwald Primaten und andere Wildtiere jagen, zerlegen und essen. Über deren Blut und andere Körperflüssigkeiten kommen sie mit neuartigen Mikroben in Kontakt, die möglicherweise im Menschen ausharren und irgendwann ausbrechen können. Über Routinekontrollen in lokalen Labors sollen diese biologischen Zeitbomben künftig aber aufgespürt und entschärft werden.

Neben der biologischen Überwachung könnten digitale Daten viral chatter vermelden, also potenziell krankheitsbezogene Auffälligkeiten. Alarmierend wäre beispielsweise die lokal gehäufte Recherche von schweren Symptomen im Netz. Die Nutzungsmuster mobiler Geräte lassen außerdem Kontakte zwischen Menschen nachvollziehen. Das sind Daten, die auch jetzt schon in Bezug auf COVID-19 und die freiwillige soziale Isolierung der Bevölkerung ausgewertet wurden.

Das ist umstritten, aber gibt es eine Wahl? Wolfe zufolge können wir bei Ausbrüchen vorerst nur hektisch reagieren, schnell Impfstoffe und Medikamente entwickeln sowie unser Verhalten ändern. Und wer würde hier widersprechen? Doch die Frequenz der Ausbrüche könnte noch zunehmen, weil uns unsere globalisierte Lebensweise verwundbar macht. So exquisitely susceptible to pandemics sei unsere moderne Gesellschaft, schreibt Wolfe, also ganz außerordentlich anfällig für Pandemien.

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (12)

Dies ist der zwölfte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11)

Das mittlerweile über 150 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

Woche 8: 27. April bis 3. Mai

 

27.04.2020

 

Shida

Es gibt Lockerungen und es gibt Maskenpflicht, beides ändert für uns hier in der Pampa einfach mal gar nichts (die Maske trug ich beim wöchentlichen Einkauf auch so, andere Orte gibt es hier nicht). Alles bleibt unverändert und ich stelle pessimistische Prognosen auf („Keine Pläne mehr für dieses Jahr. Urlaub findet nicht statt, Buchmesse findet nicht statt, Weihnachten findet nicht statt.“) einfach nur, um mich selbst als Herrin der Lage zu fühlen (was ist Herrin eigentlich für ein Wort?). Ich gehe nicht davon aus, bald wieder in meiner eigenen Wohnung zu wohnen und seit der Fire TV-Stick uns hinterhergezogen ist, fehlt mir mein richtiges Zuhause auch nicht mehr. Um noch eins drauf zu setzen, habe ich auch noch angefangen, zu joggen, obwohl ich Joggen noch viel mehr hasse als Spazierengehen. Aber der Effekt auf Körper, Gemüt und Müdigkeitsstatus ist so gigantisch, dass ich mich weiterhin überwinde.

Letzte Woche hatte ich zum ersten Mal eine Online-Lesung. Ich war von Anfang an skeptisch, vielleicht, weil das Internet für mich nie ein Kommunikationsraum war und das, was ich an Literaturveranstaltungen liebe, eben die Kommunikation davor, danach, währenddessen, vor allen Dingen währenddessen ist. Ich dachte, dass ich zwar skeptisch bin, weil ich so eine Internetskeptikerin bin, dass das aber am Ende eine der Erfahrungen wird, nach der man denkt: „Ahhh! Es ist ja doch ganz toll! Zum Glück bin ich um diese Erfahrung reicher geworden! Danke Schicksal, danke Welt!“. Pustekuchen. Am Ende ist mir nur noch mal bewusst geworden, dass ich den Autorinnen-Job auch deswegen über alle Maßen abfeiere, weil es die schönsten literarisch- zwischenmenschlichen Begegnungen sind, die ich auf Lesungen und Veranstaltungen erfahre. Online-Lesungen sind zum Zuschauen und Zuhören vielleicht ganz ok (das weiß ich nicht, weil ich aus der Härte der Corona-Tage abends nicht dazu in der Lage bin, Zuhörerin zu werden und mich gebührend zu konzentrieren), als Lesende gibt man irgendwas in den luftleeren Raum und verschwindet danach wieder in der stillen Isolation. Keine Gespräche, keine Diskussionen, kein Wein, kein Lächeln, keine verhalten wütende Kritik, kein Erfahrungsaustausch, kein lautes Lachen, kein zweiter Wein, und, zur Hölle, was soll der Geiz: Auch kein Applaus. Vielleicht bin ich wie die Schulen, die jetzt merken, dass sie sich schon längst der Digitalisierung hätten öffnen müssen, um mithalten zu müssen, vielleicht geht Corona so lange, dass ich wohl oder übel meine Meinung überdenken muss. Aber erst mal bin ich trotzig weiterhin skeptisch und wünsche mir zu Weihnachten die Leipziger Buchmesse.

Schimpftirade Ende.

Hier scheint immerhin die Sonne und meine Manuskriptabgabe ist in zwei Wochen. Ich sollte also wieder meine Zeit mit dem anderen Teil des Autorinnen-Daseins verbringen, das Schreiben nämlich funktioniert weiterhin selbstbewusst Corona-Frei.

 

28.4.2020

 

Slata, München

Weiße gibt es, grellweiße und leicht gelbliche, in breiter Auswahl, wie Hochzeitskleider, hellblaue auch, gemusterte handmade und stylische schwarze, kochfeste Baumwolle oder durchsichtige, um das Gesicht geschlungene Schals, hochgezogene Rollkragen, das bringt mich aus der Fassung, wenn Leute das Beste aus jeder Lage machen, es zustande kriegen, ihre Individualität zu unterstreichen, und sich gleichzeitig Maulkörbe besorgen, alles machen, was sie machen sollen, eigentlich gibt es ja kein Argument dagegen, aber das bringt mich aus der Fassung.

 

Fabian, München

Die Leute werden kreativ und liefern tolle Bilder. Offenbar, darauf lässt zumindest der Radfahrer am Heimweg heute schließen, der offenbar begeistert das, angenommen, Pärchen drüben auf der anderen Straßenseite beim erstaunlich selbstverständlichen oder erfolgreichen Versuch filmte, an der Befestigungsmauer der Kirche entlangzubouldern. Dabei stand’s grade gestern zur Disposition, dass die Aktualitäten der Ereignisse die Geschwindigkeit der letzten Wochen langsam einbüßen – und dann springt so’was in die Bresche.

 

Svenja, Köln

Ich träume seit einigen Tagen von Arbeitsblättern. Kurz vor dem Aufwachen höre ich meine Stimme, sie diktiert genaue Anweisungen, bemüht sich um klare Formulierungen, und dann mache ich die Augen auf.

30.4.2020

 

Sandra, Berlin

Wo war ich? Der letzte Eintrag ist ewig her. Ich tauche aus meinem Zeitloch.
Hallo.
Mir gehts-
Äh-
Nein-
Und ihr so?
We are all together in this. Are we?

Ich muss meinen Kalender nehmen und rekapitulieren. Was habe ich eigentlich gemacht? Da war die Sache mit dem Finger, dem Splitter, dem Unfallchirurgen.

Dabei habe ich nur ein Buch vom Boden aufgehoben und mir dabei einen langen Holzsplitter tief unter meinem Fingernagel versenkt. Ich konnte das Stückchen Holz durch den Nagel sehen, und später, wie die Entzündung sich ausbreitet, der ganze Finger anschwillt. Natürlich dachte ich, das geht schon, ich hol das selbst raus, ok, hat dann nicht geklappt, aber es wächst ja eh irgendwann raus. Dabei fiel mir der Spiegel-Artikel ein, in dem ein Prepper erzählt, dass er „für den Ernstfall“ geübt und sich selbst als Test einen Zahn gezogen hat. Trotzdem. Kam mir lächerlich vor, mit meiner Verletzung zur Hausärztin zu gehen, bis C. mich überredet hat, aber die Ärztin wollte das nicht mal anfassen, Oh-oh, nein, das kann ich nicht machen, hat gleich eine Überweisung zum Chirurgen geschrieben. Dann der schlechtgelaunte Chirurg, der an meinem betäubten Finger herumwerkelt, der prüfende Blick der Arzthelferin der hin- und her geht zwischen meiner Hand und meinem Gesicht, während der Arzt komische Geräusche macht. Wirklich komische Geräusche. Soll ich hinsehen? Lieber nicht. Das war kurz vor der Maskenpflicht. In den Praxen war die aber schon angekommen und somit war es der erste Vormittag, an dem ich die Maske lange am Stück trug. Das Atmen fällt wirklich schwerer damit, dabei ist es nur eine Stoffmaske. Das beste war eigentlich das Verbandwechseln am übernächsten Tag, das hab ich dann als Mikro-Story vertweetet.

 

We are all together in this. Are we?

Ich nehme selten Medikamente, nach der Betäubung muss ich mich zuhause hinlegen, verschlafe einen ganzen Nachmittag. Später: Die letzten Korrekturen im Manuskript tippe ich mit neun Fingern, der verbundene zehnte weit abgespreizt, die arbeite immer noch im Bett liegend, im Pyjama. Dann: Das Email abschicken. Dem swooosh lauschen, der die Arbeit von fünf Jahren ein Stück weiter hinaus in die Welt trägt.

Und apropos WE ARE ALL TO-whatever … Die letzte Woche haben sich in die anfangs so schönen freundlichen Chats mit Freund*innen andere Themen gemischt. Ängste, Spekulationen und Nachrichtenmeldungenhamstern aus strangen Quellen – all das mischt sich in den Köpfen und in den Gesprächen geht es plötzlich um Überwachung, Bedrohung, Verschwörungstheorien. Ich kann das meiste davon Null nachvollziehen. Wir diskutieren, streiten, dann Funkstille. Bin ich intolerant? Ah, was bin ich müde.

Da fällt mir ein – morgen ist der erste Mai. Ich muss an den Wiener Prater denken, und daran, wie ich mit meinen Freund*innen dort einen großartig sonnigen besoffenen ersten Mai hatte.

We are all together in this. Are we?

Und ihr so?

 

Nabard, Bonn

Ich wollte hier so vieles schreiben, was ich schönes die letzten Tage erlebt und gefühlt habe. Aber ich bin müde, erschöpft. Mir fehlt Tag für Tag die Kraft. Nicht weil wir im Krankenhaus jeden Tag einen neuen Fall bekommen, die Patienten jünger werden, Neugeborene, Jugendliche, vormals gesunde Kinder.

Nein, weil die Ignoranz von so vielen mich erschlägt. Ihre Verschwörungen. Ihre Behauptungen es sei doch alles nicht so schlimm. Ich wünschte ich könnten ihnen die Patienten zeigen. Wie sie leiden. Und wie ihre Angehörigen leiden.

Ich bin müde. Ob es mir irgendwann egal sein wird wie viele eigentlich erkranken und sterben werden?

Meine Schwester deckt den Tisch für das Iftar gerade, wie schauen über Satelliten-Tv BBC Farsi. Im Süden Tajikistan’s sind jetzt Corona Fälle bekannt geworden.  Es ist also wohl eine Frage der Zeit bis in Kunduz und Chah-Ab, unserem Heimatdorf, das Virus gelangt. Mama spricht ein Stoßgebet.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich treffe mich mit 17 Fremden zum gemeinsamen Schreiben. Nach und nach poppen die Zoom-Fenster auf. Frauengesichter, Männergesichter, mit und ohne Bart. Einblicke in kleinere und größere Räume, eine Küchenzeile, Wandschmuck, eine runde Korbschaukel. Zwei von uns verbergen ihre Umgebung hinter einem Strandbild mit Sand und Palmen, in dem die Sonne sommerhell scheint. Sehnsuchtsidentität eines kleinen Studentenwohnheimzimmers: S. ist besonders gefährdet und hat es seit Wochen nicht verlassen. Beim gegenseitigen Vorstellen erzählen wir, wo und wie wir wohnen, wie es uns im Lockdown ergeht.

Unsere Zimmerkästchen sind über mehrere Kontinente verteilt: Schottland, England, Chile, die USA, Norwegen, Dänemark. Zählt man die Herkunftsländer einiger dazu, lassen sich Italien, Deutschland, Mexiko, Südafrika mindestens anfügen. Wir haben viel gemeinsam: das Gefühl des Beengtseins; die Freude, Spaziergänge in freier Natur machen zu können oder in der Nähe eines Flusses, Meers, Hafens; die Dankbarkeit für ein Haus am Stadtrand; das Leiden unter kleinen Wohnungen im Stadtzentrum. Eine von uns strickt. Es wirkt beruhigend. Ab und zu trinkt jemand etwas. Espresso, Tee, Wasser. Zwei Wissenschaftler der Universität von Edinburgh moderieren.

Eine Viertelstunde lang schreiben wir. Alle stummgestellt vor der Kamera. Darüber, wie es uns jetzt geht, was uns bewegt, in einer Form unserer Wahl. – Ich lasse mich von der Sprache treiben. Sehe aus dem Fenster auf die weichen Linien draußen, alles erwartet Regen. Der Wetterbericht hatte ihn für gegen drei oder vier Uhr nachmittags angekündigt. Wie wäre es, klappert die Metaphernkiste, wenn wir eine Lockdown-Vorhersage hätten? Wie spielt sich das Corona-Wetter ab? Ist der Sturm schon vorbei? Auf wen bricht er herein? Auf wen nicht? Ist er überhaupt real, wenn wir ihn nur als Vorhersage kennen, nur andere ihn erleben? … –

Nach fünfzehn Minuten kommen wir wieder zusammen und lesen. Nacheinander. Kommentiert wird nicht. Nicht gewertet. Nur zugehört. Wirklich zugehört. Es wird geweint. Gelächelt. Gelacht. Genickt. Gefühlt. Mitgefühlt. Nachgefühlt. Wir schreiben über Ängste; den Schmerz darüber, einen trauernden Menschen nicht in den Arm nehmen zu dürfen; die Suche nach Stärke in der Erinnerung an überstandenes Leid; das Bedürfnis, andere zu umsorgen, zu beschützen; wie man als Einwanderer während der Pandemie noch mehr zum Außenseiter wird; wie Covid-19 hilft, eine Revolution in den Kinderschuhen zu ersticken; inwiefern das ritualisierte Klatschen für die NHS-Helden jeden Donnerstagabend um 8 Uhr Fassade ist, um Missstände zu verdecken; über einen veränderten Fokus auf die eigenen Bedürfnisse, deren Befriedigung; Alpträume, in denen die soziale Distanz nicht eingehalten wird; Wut; die Suche nach einem Ort der Ganzheit des Selbst; ob das Draußen noch existiert, wenn das Leben sich nur drinnen abspielt; über den Rückzug von allen Nachrichten; dass frau jetzt anders hört, wahrnimmt; in der Falle sitzt; scheinbare Normalität in idyllischer Umgebung; über das Schreiben, um nicht den Verstand zu verlieren und das Schreiben um des Schreibens willen, das keinen Sinn schafft.

–––– Es ist eine enorm intensive Erfahrung. Alle lesen. Vor Menschen, die sie bis vor einer Stunde nie gesehen hatten, in einem geteilten virtuellen Raum, in dem alle den gleichen Platz haben, das gleiche Recht auf Zeit und Aufmerksamkeit, Unterstützung, Zeugenschaft, Begegnung. Es ist überwältigend, berührend. Wir danken einander. Für den Mut, uns einander zu öffnen. Jemand bemerkt, dass es sich jetzt so anfühle, als kenne man sich. Ich sage, dass ich mir wünschen würde, alle wiederzusehen. In zwei Wochen, vielleicht drei. Wer weiß, wie es uns dann geht?

 

1.5.2020

 

Slata, München

Coronababys wird man sie nennen, die zwischen Dezember dieses und, schätze ich mal, Sommer nächsten Jahres Geborenen, es werden ruhige, entspannte Kinder, die im Liegen, im Sitzen zuhause aufwuchsen, ausgeglichen ernährt, mit Mozart frühentwickelt, mit Büchern unterhalten, von der Sonne auf dem Balkon gebräunt. Kindergärtner werden ihre Gruppen Alpha, Beta, Gamma nennen, Lehrer werden sich darum streiten, eine Klasse mit Coronakindern zu bekommen, mit besonders gutem Ruf, vielleicht wächst dreißig Jahre später abrupt die Anzahl der Mediziner, Biologen, Virologen, ernst und charmant alle, wie Drosten. Das Einzige, wozu die Zeit vom Nutzen wäre, Babys auszutragen.

 

Sandra, Berlin

Wir verschlafen den ersten Mai. Es ist der stillste erste Mai, seit ich in Berlin lebe. Keine Openair-Party, keine Demo, kein Picknick, nicht mal eine Deadline. Ruhiger noch als letztes Jahr, als das Kind knapp sieben Monate alt war. Als ich endlich aufwache, sind C. und das Kind weg. Es ist selten, und fast schon unheimlich, dass ich allein und in einer stillen Wohnung aufwache. Auch auf der Straße ist niemand unterwegs. Kein Mensch hinter den Fenstern gegenüber. Ich denke spontan an den Anfang von „The walking dead“, wenn der Protagonist im verlassenen Krankenhaus aufwacht. Gestern Abend, kurz vor Dämmerung, als die Straße in surreal pastellfarbenes Licht getaucht war und gleichzeitig ein Regenguss runterkam, standen wir am Fenster, um das Schauspiel zu betrachten, und in den Nachbarhäusern ringsum unzählige Gesichter an den Fenstern, Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Dann lief eine Frau die Straße runter, mitten auf der Straße, durch den Regen, barfuß, laut lachend, eine Szene wie in einer Romcom.

C.s Whatsapp.-Nachricht sagt mir, dass alles in Ordnung ist, die Apokalypse noch etwas wartet, er und das Kind spielen draußen. Mein Kind ist jetzt schon sehr viel länger zuhause, als ich mir das jemals vorgestellt habe, ich wollte nach 12 Monaten Betreuung in Anspruch nehmen – davon schrieb ich ja schon im Rahmen dieses Tagebuchs. Erst schien es unmöglich einen Platz zu bekommen. Und jetzt scheint es keine Ende nehmen zu wollen, dass wir Arbeit und Kind ohne Betreuung jonglieren. Kurz vor der Kita-Eingewöhnung kam der lockdown. Nach den neuesten Regelungen erfüllen wir zwar die Anspruchsbedingungen für die Notbetreuung, auch eine Eingewöhnung, aber unsere Kita ist ganz klar überfordert und verunsichert und stellt sich quer. Die Verunsicherung finde ich einerseits total nachvollziehbar, aber leider gibt es keinen nennenswerten Dialog darüber, stattdessen werden diese Überforderung undoder diese unausgesprochenen Ängste einfach auf unserem Rücken ausgetragen. Wir sind beide erschöpft. Wir müssen raus aus der Alltagssituation, wenigstens für eine Woche. C. nimmt sich Urlaub.

Der Ausnahmezustand der Belastung ist auf Dauer für niemanden zumutbar: Es müssen Lösungen gefunden werden, für alle Eltern und Alleinerziehenden.

Am späten Abend fassoniere ich C.s undercut nach, wie ich es seit Beginn des lockdown schon öfter gemacht habe. Ich bin ehrgeizig. Diesmal will ich den Übergang besonders gut hinbekommen, und rasiere dabei ein kahles Loch mitten in seine Schädelflanke. Unser Lachen hallt im Badezimmer. This too shall pass.

 

Rike, Köln

was habe ich gesehen. ich habe gesehen: verschiedene menschen in 3,5m entfernung halten plakate hoch, sie stehen in abgeklebten gaffa-dreiecken einzeln. ich vermute, dass die sprechchöre nicht aufkommen (können), weil der menschliche abstand zu groß ist. es wirkt so: den leuten ist die demo oder das demonstrieren eher peinlich. aber das ist es nicht, nur mir ist es peinlich, oder unangenehm, wer wie klingt, könnte man genau raushören. Ich will in einer masse untergehen. eine lose bekannte legt sich ohne atemschutzmaske mit einer polizistin an, die eine modische brille trägt, die sich drüber aufregt, dass sie von der losen bekannten geduzt wird. die frau sagt: aber du wirst immerhin gut bezahlt, nachdem die polizistin etwas sagt, das auf eine 12stundenschicht hindeutet. die polizistin möchte verstanden werden und nicht immer die böse sein (meine interpretation). Ich wackle zwischen empathie für beide hin und her. ich mag das goldene gestell ihrer brille. Ich lasse jeden oberflächlichen gedanken zu. ich bin immer noch eine demonstrationstouristin. das hier, das macht nicht mut, es ist nur absurd. der mann, der das einzige megaphon bedient, das da ist, hat immer wieder hustenanfälle, während er von systemrelevanz, geschlossenen krankenhäusern, und etwas anderem erzählt. ich mache ein albernes selfie von mir in meiner blauenwolkenmaske, die mich aussehen lässt wie ein riesenbaby und den blauen beamten im hintergrund, die mit schnabelmasken eng aneinander gedrängt verloren neben einer garage stehen. sie sind nicht verloren. Der mann macht witze, dass sie die 3,5m nicht einhalten, ins megaphon. Ich mache witze über die ironie der neuen vermummungspflicht auf demos. Nachmittags: Es gewittert an vielen stellen in einem der länder mit den zufälligen grenzen (zufällig meins). Ich will nicht die Nachrichten lesen. (Es hilft gerade nicht weiter). (Heute aufgeben, vielleicht kommt morgen eine neue idee.)

 

2.5.2020

 

Jan, Hannover

Diese Müdigkeit ist eine einzige, unhaltbare Zumutung. Betont beiläufig kam sie vor ungefähr zwei Wochen angeschlendert, vergrub sich eines Nachts tief in meinem Körper und verschanzt sich seither dort. Jetzt schleppe ich mich durch die Tage, Last und Lastenträger zugleich, ein Packesel meiner selbst. Wenn ich an die frische Luft gehe, überkommen mich ausdauernde Gähn-Attacken, von denen mir am Ende des kleinen Ausmarschs die Kiefergelenke schmerzen. Drinnen geht es. Das wäre überhaupt ein guter Titel für meine Autobiographie: «Drinnen geht es».

Für gewöhnlich bereitet mir ein Gähnen schamloses Wohlgefühl, aber das Gift liegt in der Dosis, wie ein früherer Chef (in anderem Zusammenhang) so häufig zu mir sagte, dass ich ihm schließlich recht geben musste. «Ich bin so müde, vergähne mein Leben im Zeitlupentempo», sang Christiane Rösinger, die große Songwriterinnen-Liebe meines Lebens, und überhaupt fühlt sich der Lockdown mittlerweile an, als wäre er nur nach ihrem alten Lassie-Singers-Stück «Ist das wieder so ’ne Phase» geformt. Ich schlurfe durch die Tage, durch die Wohnung, diesen Parcours meiner ziellosen Selbstbeschäftigung, mit hängenden Schultern, mit gesenktem Kopf, die Augen jucken, die Fußsohlen schleifen träge übers Industrieparkett. Drinnen geht es, oder, wie Christiane Rösinger mit ihrer zweiten Band Britta sang: «Alles, was draußen liegt, tut weh.»

Früher wurden in dem Gebäude, in dem ich in diesen Wochen den Lockdown aussitze, Fabrikwerkzeuge hergestellt, mit denen wiederum Lokomotiven, Traktoren, Kanonen, U-Boot-Teile und Baumaschinen produziert wurden. Heute ist mein Werkzeug ein Notebook, das ich auf meinen übereinandergeschlagenen Oberschenkeln balanciere und in das ich Worte eingebe und noch mehr Worte, ohne dass sie eine Richtung einschlagen oder einen Rhythmus aufnehmen wollen.

Seit ich mich in Distanzierung vom äußeren Ansteckungsgeschehen in den umbauten Raum zurückgezogen habe, auf die mir zugeschriebenen Quadratmeter des Dämmerns und  Vor-sich-hin-Wohnens, habe ich nicht mehr richtig Musik gemacht, vielleicht ist das ein Grund dafür, dass ich keinen Groove mehr finde. Das Leben schlurft, und die Müdigkeit frisst sich durch alles hindurch. Mein Lesesessel, der auch zum Schreib- und Surfsessel geworden ist, passt sich dem Druck und der Form meines Körpers an, verschmilzt mit ihm, wächst um ihn herum, er nimmt meine Müdigkeit auf und gibt sie an mich zurück. Gemeinsam sind wir eine mächtige Maschine des Stillstands. Es ist eine Zumutung.

 

Berit, Greifswald

Ich leide unter Monotonie. Jeden Tag laufe ich 5000 Schritte die Straßen hinauf und hinab, jeden Tag bearbeiten die Kinder Arbeitsbögen, jeden Tag versuche ich einige der anfallenden Aufgaben zu erledigen, jeden Tag räumen wir Abends die Spielsachen zusammen. Nach wenigen Tagen liegt wieder auf allem Staub und es geht wieder von vorne los. Ich habe irgendwann zwischendrin vergessen, welcher Wochentag ist, einen wichtigen Termin verschlafen, einen Brief nicht rechtzeitig abgeschickt. Manchmal frage ich mich, ob die Zeit dadurch langsamer oder schneller verläuft?

 

Svenja, Köln

Die Autos sind wieder da. Sie fahren vor meinem Fenster, fast so laut wie vor der Krise. An der Eckkneipe stand heute eine Gruppe von Menschen um einen Tisch auf der Straße. Im Supermarkt ist es voll, niemand benutzt mehr Einkaufswagen und eine Frau kommt mir mit heruntergezogener Maske entgegen. Ich zucke zusammen und versuche mir vorzustellen, dass es einen guten Grund für ihr Verhalten gibt. Ich möchte allen Menschen sagen, dass sie ihre Masken nicht unters Kinn klemmen sollen, dass die Beule für die Nase ist, dass sie immer noch Abstand halten sollen. Die Stimmung auf der Straße ist ausgelassener und rücksichtsloser. Vielleicht können Menschen nicht lange in der Krise sein.

Am Abend verlinkt jemand einen Artikel aus dem New Yorker. Ich lese von dem anderen Krankheitsverlauf, von Lungen-, Nieren-, Gehirn- und Herzschäden, von Blutgerinnseln, unauffälligen Symptomen und ärztlicher Ratlosigkeit.

 

3.5.2020

 

Fabian, München 

Wie wäre es eigentlich, den Fußballbedürfnissen diverser gesellschaftlicher Größen dahingehend nachzugeben, die einschlägigen Austragungsorte zu Hochsicherheitseinrichtungen mit eigenen Laborkapazitäten und Testproduktionsanlagen aufzurüsten, zur möglichst autarken Kasernierung der Spieler et al.. Gut, geisterspielen müsste man dennoch, und auch gerade der internationale Austausch als vielleicht wesentliche Grundlage fantastischer (oder feuchter) Transfairzahlungsträume fiele aller Wahrscheinlichkeit nach aus, aber zumindest dem Fernsehpublikum wäre etwas geboten, und wer weiß, der eine oder andere Privatsender hätte sicher Interesse, das Leben der Spieler zwischen Feld und Tribünen nach dem Vorbild bekannter Scripted Reality-Formate zum sozialen Experiment aufzuwerten.

 

Sandra, Berlin

Es ist Sonntag Abend. Wir haben beschlossen, Montag fällt aus. Die ganze nächste Woche fällt aus. Wir nehmen uns eine Woche raus aus allem. Geht sich das aus? Wir werden sehen. Ich werde berichten.

4.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Meiner älteren Nachbarin ist langweilig. Sie sieht traurig aus, als sie mir meinen Teller (ich hatte ihr frischgebackene Ingwerkekse vor die Tür gestellt) über den Gartenzaun reicht. Wie mir stehen ihr die Haare zunehmend zu Berge. Sie vermisst ihre Unabhängigkeit. Allein einkaufen zu gehen. Alte Freundinnen zu besuchen, die weiter weg wohnen, so, wie sie es jedes Jahr macht. Eine von ihnen hatte am Telefon gesagt, dass sie Glück hätten, weil sie an das Alleinsein gewöhnt seien. “Wie aber geht es jetzt denen, die gerade jemanden verloren haben? Ich erinnere mich noch gut daran, wie das bei mir damals war.” –– Andere Frauen, mit denen ich mich austausche, erleben den Lockdown auch als positiv. Mehr Zeit für den Garten, das Kind. Das Leben entschleunigt. Trotz neuer Herausforderungen, wie der digitalen Lehre, oder, im Gegenteil, der Abwesenheit von Berufstätigkeit, weil frau in den bezahlten Urlaub geschickt wurde. –– Im Deutschlandfunk kommentiert ein Soziologe, dass es zwei Gruppen von Menschen gebe: jene, die den Lockdown fast unerträglich finden und jene, die sich darin nicht nur eingerichtet haben, sondern sogar wohl fühlen. Ich befinde mich irgendwo dazwischen, denke ich erst, erkenne aber dann, dass ich einem Selbstbetrug aufsitze, denn was mir wirklich zunehmend fehlt, ist Bewegungs-, Reise-, Interaktionsfreiheit. Nicht Freiheit in einem abstrakten, wie auch immer idealen oder idealisierten Sinne, sondern ganz praktisch. Spezifisch die Freiheit, meine Familie zu besuchen. –– Dazu passt die verstärkte Polizeipräsenz, die mein Mann und ich auf unserem wochenendlichen Spaziergang bemerken. Fünf Polizeiwagen auf Streife in einem Zeitraum von zwei Stunden (wohlgemerkt am Stadtrand). Das ist nicht normal. Das ist einfach nur neu. Und es bereitet mir enormes Unbehagen. Da kann ich verstehen, warum andere, gerade frisch eingezogene Nachbarn, zumindest in ihren Garten immer mal einen Gast einladen, oder zwei. Oder dass es mittlerweile Untergrund-Friseur-Netzwerke gibt. Oder Menschen, die dagegen aufbegehren, nachts nicht mehr unterwegs sein zu dürfen, dabei wollen sie doch nur Sternschnuppen beobachten. Unter Einhaltung aller Abstandsregeln, versteht sich. Langweilig ist mir übrigens nicht. Oder vielleicht doch.

Erstmal losbauen, bitte! – Arbeitsbedingungen im Literaturbetrieb

Eine Kolumne von Jasper Nicolaisen

Bücher schreiben ist manchmal wie Fertighäuser bauen. Die Arbeitsbedingungen sind aber bedeutend schlechter.

Ich freue mich! Eine Mail von der Agentur, dass es zwar jetzt in Corona-Zeiten schwierig sei, überhaupt noch Manuskripte zu verkaufen, dass aber einer der beiden infrage kommenden Verlage nach Lektüre von Exposé und Textprobe gern das ganze Manuskript hätte – na, sagt die Agentur, bisschen viel des Guten, so hundertzwanzig Seiten werden es doch fürs Erste auch tun.

Ich freue mich, ehrlich. Es ist gut, dass die Agentur am Ball geblieben ist, es ist schön, dass ein Verlag sich interessiert, es wäre eine sehr große Freude, wenn das lang überlegte Buch Wirklichkeit werden würde. Und doch spüre ich einen Hauch von Müdigkeit. Es fällt schwer, die Hände auf die Tastatur zu legen. Ich hab´s halt schon so oft erlebt und stand so oft bei anderen daneben. Gefällt uns super, sagen die Verlage. Schreiben  Sie doch bitte erstmal das ganze Buch. Ohne dass wir irgendwas zusichern oder unterschreiben. Dann sehen wir weiter. Vielleicht – sehr oft – haben wir dann doch keine Lust mehr auf das Buch. Nicht, weil es schlecht geschrieben wäre und nicht unseren Erwartungen entspricht. Ganz im Gegenteil, es ist super. Aber. Es gibt unvorstellbar viele  „Abers“. Es passt nicht ins Programm. Es ist nicht wie die anderen Bücher. Es ist zu sehr wie die anderen Bücher. Ich hatte vergessen zu sagen, dass wir dieses Jahr gar kein Geld mehr haben.

Und nicht nur das. Oft ging es danach noch weiter mit der Unsicherheit. Gekauft haben wir es zwar, aber es wird doch nicht veröffentlicht. Veröffentlicht wird es zwar, aber ein Werbebudget haben wir dieses Jahr leider nicht mehr. Wir haben es zwar veröffentlicht und auch beworben, aber es hat sich nicht verkauft. Oder 15% zu wenig.

Aber schicken Sie gerne mal wieder was. Top-Autor, gerne wieder. Wenn Sie wieder mal was haben, immer her damit! Sie schreiben ja so toll. Ich bewundere Ihre Arbeit. Nicht böse sein, gell?

Ich muss dazu sagen, dass es sich bei meinem geplanten Projekt – und allen anderen, die ich auf diese Weise habe scheitern sehen –, um marktgängige Unterhaltungsliteratur handelt. Um konfektionierte Ware, die streng definierten Genre- und Stilvorgaben folgt. Wenn ein Verlag von so einem Projekt ein (bereits mit einer Agentur rundgeschliffenes) Exposé und eine längere Textprobe bekommt, weiß er zu 99%, wie das fertige Buch aussehen wird.

Wir reden hier nicht von hoch individuellen, experimentellen Romanen, die ohnehin nur ein Nischenpublikum interessieren – Nischenpublikum, das bedeutet in diesem Fall, ein paar tausend Leute. Solche Bücher, die in der Regel bei Kleinverlagen erscheinen, bedürfen tatsächlich einer sorgfältigen Prüfung und es ergibt Sinn, hier das ganze Manuskript anschauen zu wollen. Zum einen, um beurteilen zu können, was einen da erwartet, zum anderen, weil kleine Verlage solche Projekte oft mit purer Begeisterung in die Welt hieven. Von der nächsten dreibändigen Elfensaga oder dem x-ten Regionalkrimi muss ich als Verlagsmitarbeiter nicht unbedingt restlos begeistert sein. Er muss funktionieren, er muss stimmen, er muss seine Funktion erfüllen. Wenn ich hingegen weiß, dass ein Roman selbst im besten Fall nur die Büromiete für das nächste Buch einbringt, muss ich ihn schon wirklich lieben.

Fein. Dafür bekomme ich als Autor*in auch die Betreuung mit Begeisterung, die Freiheit, einer kreativen Vision zu folgen, die erst mal vielleicht nur ich und die Lektorin verstehen, den Drive, dass die tausend Leute, die dieses Buch lieben werden und es bloß noch nicht wissen, in mühevoller Kleinarbeit davon überzeugt werden.

Aber ich spreche hier von dem Buchäquivalent zu einem Einfamilienhaus in Fertigbauweise. Ich habe übrigens nichts gegen solche Bücher, im Gegenteil. Ich bin sehr für Bibliodiversität. Es soll möglichst alles geben: das wirre Experiment ebenso wie den Badewannenschmöker, die kalte Entzauberung ebenso wie die Wiederverzauberung der Welt nach einem beschissenen Arbeitstag. Hätte ich Dünkel gegenüber Unterhaltungsliteratur, würde ich wohl kaum welche schreiben wollen. Nein, mein Punkt ist folgender:

Um bei dem Beispiel mit dem Fertighaus zu bleiben: Wenn ich den Grundriss kenne und mich überzeugt habe, dass die Baufirma ähnliche Häuser hier und da schon mal auf eine Wiese gestellt hat, dann sollte ich mich entscheiden können, ob ich das Haus auch will oder nicht oder ob wir vielleicht am Grundriss noch ein bisschen herumradieren müssen, bis es für mich passt. Dann muss ich mindestens eine Anzahlung leisten, damit die Bagger anrücken.

Was allzu oft geschieht, ist aber, dass gerade große Publikumsverlage mit breitem Programm bis zur Drucklegung und darüber hinaus wirklich jedes Risiko auf die Schreibenden abwälzen wollen. Es heißt dann gewissermaßen: Bauen Sie doch bitte schon mal los. Wir zahlen noch nicht, wir gucken erst mal. Haben Sie vielleicht auch blaue Fenster? Geht es doch unterkellert? Meine Tante wünscht sich ein Schloss. Zelte sind ja jetzt sehr gefragt, gerade wegen der Heizkosten … Leider, leider richten wir an der Stelle jetzt doch ein Naturschutzgebiet ein. Oh, meine Vorgängerin hat leider nicht bedacht, dass wir ja gar kein Geld zum Bauen haben. Pech aber auch. Nichts für ungut. Gerne wieder. Wenn Sie mal wieder was anzubieten haben … Ihre Häuser sind die schönsten! Bauen Sie doch gleich mal wieder los, gleich da drüben. Vielleicht diesmal so im Mid-Century-Stil, das soll jetzt sehr gefragt sein …

Gründe dafür gibt es viele. Zum einen sind große Verlage auch nur Firmen mit vielen Abteilungen, die sich alle rechtfertigen müssen. Vom Layout bis zum Vertrieb will jeder noch irgendwie mitreden, um zu zeigen, dass es gerade auf ihn besonders ankommt und dass die anderen ohne ihn verloren wären. Hinzu kommt die tiefe Unsicherheit, die die Branche seit geraumer Zeit erfasst hat. Niemand weiß so richtig, wie es mit Büchern weitergeht. Die gesamte Mittelklasse, sowohl an Verlagen als auch im Programm, was die Auflagen angeht, wurde weggespart. Es gibt zunehmend  ganz groß und ganz klein. Jedes Buch muss Bestseller sein, es gibt kaum noch Spielräume für Titel, die so mäßig gehen.

Und hier unterscheidet sich eben die Buchbranche nicht von allen anderen Produktionszweigen. Der Nimbus der großen Kunst verschleiert oft den Blick dafür, dass die Kulturindustrie auch nur eine Industrie ist, und Autor*innen ihre Arbeitskraft verkaufen wie Kassierer*innen und freiberufliche Therapeut*innen. Und wie in allen Feldern wird das Produktionsrisiko so weit wie möglich nach unten durchgereicht. Die Produktion wird ausgelagert, und wenn alles schief geht, gehen zuerst die Zulieferer pleite, nicht die große Player.

Das alles soll nicht larmoyant klingen. Mich zwingt niemand, Bücher zu schreiben und sie verkaufen zu wollen. Und immerhin habe ich Angebote, kann ich mich verwirklichen, wie es andere nicht dürfen. Aber es sollte doch festgehalten werden: Das Verwirklichen ist allzu oft nur der Zuckerguss auf dem recht bitteren Gebäck der Produktionsverhältnisse, die beim Schreiben nicht anders sind als anderswo.

Als Franz K. aus unruhigem Fieberschlaf erwachte…

… fand er sich in einem neuen Staat wieder

von Florian Keisinger

Der folgende Text ist das Resultat der Lektüre von Rainer Stachs lesenswerterKafka-Biographie in drei Bänden, an der Stach insgesamt 18 Jahre gearbeitet hat und die zwischen 2002 und 2014 im S. Fischer Verlag erschienen ist. Zudem gibt es die Bücher auch in einer limitierten Gesamtausgabe im Schuber, inklusive eines Zusatzbandes „Kafka von Tag zu Tag. Dokumentation aller Briefe, Tagebücher und Ereignisse“ und eines historischen Stadtplans von Prag, auf dem sich die Stationen im Leben Kafkas anschaulich nachvollziehen lassen. Einschließlich der Ereignisse während des endgültigen Zusammenbruchs des Habsburgerreiches im Oktober 1918 und der Ausrufung des tschecho-slovakischen Staates, wovon Kafka jedoch, trotz unmittelbarer Nähe, kaum etwas mitbekommen haben dürfte.

Am 30. April 1918 kehrte Franz Kafka aus Zürau nach Prag zurück. In Zürau, einem kleinen Ort in Westböhmen, hatte er, vom Kriegsdienst freigestellt, acht Monate zusammen mit seiner Schwester Ottla auf deren Gut verbracht. Neben Sonnenbaden und dem Verfassen von Aphorismen („Zürauer Aphorismen“) hatte er sich dabei vor allem der Gartenarbeit gewidmet – und sich endgültig von seiner Langzeitverlobten Felice Bauer getrennt.

Dem vorangegangen war ein Blutsturz am Morgen des 17. April 1917, der nicht nur den Beginn einer tödlichen Lungentuberkulose markierte, sondern Kafka auch zu einem lange hinausgezögerten Doppelentschluss veranlasste: Zum einen, das Projekt Ehe ein für alle Mal zu begraben; zum anderen, seine Tätigkeit als Beamter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt zu beenden (Den ersten Entschluss hielt er nicht lange durch, kurze Zeit verlobte er sich erneut; der zweite scheiterte am Widerwillen seiner Vorgesetzten und wurde in einen mehrmonatigen Erholungsurlaub umgewandelt).

Bei seiner Rückkehr fand er Prag in einem Zustand vor, der das Resultat seiner eigenen Phantasie hätte sein können: Militärischer Zusammenbruch und politische Auflösung kennzeichneten das Stadtbild; es drohten Hungersnot und Bürgerkrieg. In großer Eile (und mit Weitsicht) hatte Kafkas Vater Hermann den familieneigenen Galanteriewarenladen gegen ein unscheinbares Mietshaus eingetauscht; als deutschstämmige Juden galt es vorsichtig zu sein im überbordenden Taumel tschechischer Nationalisten.

Hinweise darauf, dass Kafka selbst die Entwicklungen mit Sorge verfolgte, finden sich indes nicht. Während der umtriebige Max Brod in die Rolle des Politikers schlüpfte und als Mitglied des neu geschaffenen „Jüdischen Nationalrates“ die Interessen der jüdischen Bevölkerung vertrat, schien Kafka die Ereignisse mit gleichmütiger Distanz zu verfolgen. Die Nachmittage, so erfährt man von seinem Biographen Reiner Stach, verbrachte er im Prager „Institut für Pomologie, Wein- und Gartenbau“, wo er lernte, einen Schrebergarten fachmännisch zu betreiben; außerdem nahm er Hebräisch-Unterricht und war wieder in die elterliche Wohnung eingezogen.

Dort ereilte ihn am 14. Oktober ein hohes Fieber; er hatte sich, wie viele andere auch, mit der Spanischen Grippe angesteckt. Zu den Merkmalen der Krankheit zählte, dass sie gerade die scheinbar Gesündesten und Vitalsten in der Alterskohorte der 20- bis 40-Jährigen am härtesten traf; Kafka war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Allein in Prag erlagen in den Oktoberwochen 1918 etwa 200 Menschen am Tag der Pandemie, rund 15 Prozent der Bevölkerung galten als infiziert; wer rasch und richtig versorgt wurde, dessen Überlebenschancen lagen bei 97 Prozent. Schulen, Kinos und Theater waren geschlossen, Krankenhäuser und Leichenhallen überfüllt, der Beginn des Wintersemesters verschoben; Menschenansammlungen galt es zu meiden, was in Zeiten von Staatszusammenbruch und Revolution leichter gesagt als getan ist.

Während Kafkas Fieber auf über 41 Grad anstieg und er in einen Zustand des Deliriums verfiel, in dem ein Organversagen nicht ausgeschlossen war – zumal sich auch noch eine Lungenentzündung eingestellt hatte –, spielten sich direkt vor seinem Fenster historische Szenen ab. Die letzten verbliebenen einsatzfähigen (und einsatzwilligen) Kontingente der einst mächtigen k.u.k.-Armee brachten ihre Truppen in den Einfallstraßen rund um den Altstädter Ring in Stellung; es zirkulierten Gerüchte, laut denen die Ausrufung eines unabhängigen tschechischen Staates unmittelbar bevor stehe. Doch handelte es sich dabei um Fehlinformationen, weswegen sich die Menge gegen Abend auflöste und auch die Soldaten – zum letzten Mal in der jahrhundertelange Geschichte Habsburgerreiches – wieder abzogen. Von der endgültigen „Liquidation des alten Staates“ sprach tags darauf das „Prager Tagblatt“.

Wieviel Kafka von alledem mitbekommen hat, ist nicht bekannt; ob und inwiefern es ihn überhaupt berührt hätte, schwer zu sagen. Vermutlich hätte er sich, wie schon im August 1914, diskret unters Volk gemischt und den Tumult schweigend beobachtet.

14 Tage später, am 28. Oktober 1918, wurde im Prager Gemeindehaus der tschecho-slowakische Staat ausgerufen. Mit Gegenwehr war aufgrund der mittlerweile nahezu vollständig eingetretenen Implosion des österreichisch-ungarischen Staates nicht mehr zu rechnen.

Kafka hatte zu diesem Zeitpunkt das Schlimmste überstanden und befand sich auf dem Weg der Genesung. Allerdings sollte es zwei weitere Wochen dauern, bis er wieder soweit bei Kräften war, das Haus zu verlassen.

Was ihm in diesen Wochen des Oktober 1918 widerfahren war, hätte er sich selbst kaum besser ausdenken können: Als Bürger der Habsburgermonarchie war er in einen unruhigen Fieberschlaf verfallen, um als Bewohner der neuen tschechischen Demokratie wieder zu erwachen. Den für den Herbst des Jahres 1918 so zeittypischen Widerstreit zwischen Körper und Geschichte, Pandemie und Politik, der die Erfahrungen von Millionen Menschen in Europa prägte – wobei die Pandemie in der öffentlichen Aufmerksamkeit deutlich hinter den politischen Ereignissen rangierte, zumindest im mittleren und östlichen Europa –, Kafka erfuhr ihn am eigenen Leib.

Wobei die Pandemie, das gilt es der Einordnung halber zu betonen, in der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen (und im diametralen Gegensatz zur Corona-Situation des Jahres 2020) deutlich hinter den politischen Ereignissen rangierte, insbesondere in den Gesellschaften des mittleren und östlichen Europas, die am gravierendsten vom Ende des Krieges betroffen waren. Dies verdeutlicht ein Blick in die Zeitungen, deren Berichterstattung sich vor allem mit den Folgen des Krieges und den daraus resultierenden revolutionären Zuständen auf den Straßen befasste. Beiträge zur parallel grassierenden Spanischen Grippe rückten da in den Hintergrund; sie finden sich überwiegend auf den hinteren Seiten der täglich mehrfach erscheinenden Tagespresse. Hinzu kommt, dass die Sensibilität der Menschen nach den Erfahrungen von vier Jahren Krieg und Zerstörung gegenüber Krankheit und selbst Tod eine andere war als heute; zumal gegenüber einer Krankheit, die zwar weltweit mehr Menschenleben forderte als der Ersten Weltkrieg (was jedoch erst im Rückblick so richtig deutlich wurde), von der sich jedoch auch die überragende Zahl der Infizierten binnen weniger Wochen wieder erholte.

Kafka war hier keine Ausnahme. In seinen Aufzeichnungen finden sich keine Hinweise darauf, dass er seiner Ansteckung mit der Spanischen Grippe eine übermäßige Bedeutung beigemessen hätte. Seine Pflege erfolgte zu Hause und durch die Familienangehörigen, von denen sich glücklicherweise keiner ansteckte. Und auch in der Rückschau schien sich das Ereignis rasch verflüchtigt zu haben. Als er sich wenige Jahre später, im April 1924, zur Behandlung seiner Tuberkulose, die mittlerweile auch auf den Kehlkopf übergegriffen hatte, in ein Wiener Krankenhaus begab, hat er bei der Anamnese die Erwähnung der Vorerkrankung aus dem Oktober 1918 schlicht vergessen.

Dennoch erwiesen sich die Langzeitfolgen der Spanischen Grippe für Kafka letztlich als fatal. Und nicht nur historisch, sondern auch persönlich markierte der Oktober 1918 für ihn eine tiefgreifende Zäsur. Finanziell hatte er fast sein gesamtes Vermögen mit Kriegsanleihen verloren, weswegen ihm die für nach dem Krieg erträumte Existenz als freier Schriftsteller verwehrt blieb (sofern er den Mut zu diesem schon mehrfach verschobenen Schritt überhaupt aufgebracht hätte). Gesundheitlich vermochte er sich nie vollständig zu erholen. Die Schwächung des Körpers in Folge der Spanischen Grippe hatte die nur scheinbar geheilte Tuberkulose zurückgebracht; sie sollte ihn nicht wieder loslassen. Sechs Jahre später, ein spätes Opfer der schwersten Pandemie des 20. Jahrhunderts, wird er ihr 40-jährig erliegen.

Beitragsbild von Anthony DELANOIX

Tag für Tag festhalten, reflektieren, revidieren – Notizen zur Zeitwahrnehmung in Corona-Tagebüchern

Tagebücher als Krisenphänomen: Während der Corona-Pandemie tauchten vielerorts und in verschiedenen medialen Formaten Journale auf und werden zum Teil bis heute weiter fortgesetzt. Die Konjunktur des Tagebuchs wurde auch vom Feuilleton schnell als Thema aufgegriffen, wenn auch nicht unbedingt mit positiver Wertung. Julia Encke schrieb in der FAS vom 5. April von „Gedankenkitsch“ und urteilte, dass „mit diesem ganzen hohlen Pathos und der Trostprosa […] gar nichts gewonnen“ sei. Marie Schmidt verschob in der Süddeutschen Zeitung vom 16. April den Akzent ein wenig. Auch sie beschreibt zwar das „Protokoll der Krise“ als so „vielstimmig und wirr wie die Krise selbst“, stellt aber die Frage, wie denn überhaupt literarisch über sie zu schreiben sei. Beide greifen in ihren Beiträgen Fragen auf, die Kathrin Röggla schon in einem Text in der FAZ vom 21. März mit dem Titel „Prognosefieber“ thematisiert hatte: dass jene Versuche des Auf- und Mitschreibens vor allem in Hinblick auf Verschiebungen in der Zeitwahrnehmung zu perspektivieren seien. Literatur müsse sich einmal mehr als Zeitkunst beweisen. Diese Forderung steht im Kontext unzähliger Äußerungen zur Zeitwahrnehmung in der Corona-Pandemie, die im Philosophie-Magazin genauso zu finden sind wie im Tagesspiegel, in den Twitter-Timelines genauso wie in den angesprochenen Tagebüchern. Um diese geht es im Folgenden im Besonderen. Als Gegenstand der Diskussion im DFG-Forschungsprojekt „Schreibweisen der Gegenwart. Zeitreflexion und literarische Verfahren nach der Digitalisierung“ an der Universität Greifswald  dienten insbesondere das kollektive Tagebuch auf 54books, das Journal von Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung sowie das mehrstimmige Tagebuch auf der Internetseite des Literaturhauses Graz unter Beteiligung von Kathrin Röggla.

 

Welchen Wert haben Tagebücher, die wissend für die Öffentlichkeit geschrieben werden? Unter einem Tagebuch versteht man zunächst die Sammlung intimster Gedanken, es ist eine Form der privaten Reflexion, es wird nicht geschrieben, um eine Wirkung auf Lesende zu haben. Besondere Formen stellen die Journale von Literat*innen dar, da diese sich der nachträglichen Veröffentlichung vielleicht schon beim Verfassen bewusst waren. Bei den Corona-Tagebüchern, die momentan überall und in jeder Form (als Video, Podcast oder Text) zu finden sind, gibt es verschiedene Ansätze. Teils schreiben (oder streamen) Privatpersonen, teils Menschen aus unterschiedlichen Bereichen, wie etwa der Wirtschaft. Es sind häufig Texte von Menschen, die von Entschleunigung sprechen und diese auch persönlich im Home-Office in den eigenen vier Wänden, oft mit Balkon oder Garten, wahrnehmen. Verzerrt es nicht die Realität, wenn hauptsächlich die dokumentieren, die vom Kampf gegen die Pandemie am wenigsten spüren? Wenn sie nicht aus dem Krankenhaus, dem Supermarkt oder vom Leben auf der Straße berichten, was für eine Funktion haben die Tagebücher dann? Sie versuchen, den Ausnahmezustand festzuhalten, zu verarbeiten, zu bewerten, jedoch nicht nur für sich, sondern auch für alle anderen. Wie der Hashtag #weareallinthistogether vermitteln die Tagebücher Trost und stiften Gemeinschaft. Aus ihnen ist herauszulesen, dass die Monothematik der Coronapandemie und der gesteigerte Nachrichtenkonsum mehr und mehr Menschen bedrücken. Für wen sind die öffentlichen Tagebücher dann geschrieben? Wenn das gegenwärtige Publikum nicht interessiert ist, bleibt der Blick in die Zukunft. Coronatagebücher sind Dokumente, die für die Zeit nach Corona geschrieben werden und vermutlich auch im Herbstprogramm der Verlage zahlreich vorhanden sein werden.

Auf dem Blog 54books  ensteht ein kollektives Tagebuch von 29 Autor*innen, das mit dem Ziel geführt wird, Veränderungen zu dokumentieren und u.a. Tweets zu archivieren. Das gemeinsame Schreiben an einem Projekt, das die durch die Pandemie geschlossenen Landesgrenzen überwindet, führt schon während des Entstehungsprozesses zur psychischen Erleichterung bei den Autor*innen: „Ich merke, wie gut mir das Schreiben an diesem kollektiven Tagebuch tut. Manchmal, wenn ich eine Notiz hinterlassen will, sehe ich, dass andere gerade auch schreiben, und ich stelle mir vor, wie sie irgendwo auf dem europäischen Festland vor ihren Bildschirmen sitzen und tippen und korrigieren, während ich hier an meinem Schreibtisch auf der Insel genau das Gleiche mache. Eine Gemeinschaft von Schreibenden in Zeiten der sozialen Distanz“ (Marie Isabel Matthews-Schlinzig, 54books). Die unmittelbare Gegenwart im Schreibprozess kombiniert mit der Gleichzeitigkeit des Schreibens als Erfahrung gemeinsamer Gegenwart steht der verzögerten Veröffentlichung gegenüber: Die Texte sind schon veraltet, wenn sie erscheinen.

Es sind Spannungsverhältnisse, die die Zeitwahrnehmung dominieren: Hartmut Rosa spricht von einer erzwungenen Entschleunigung, die für uns körperlich und wirtschaftlich spürbar ist. Diese Lücke, die die scheinbar freie Zeit mit sich bringt, wird nach Rosa von der „mediale[n] Berichterstattung über das Fortschreiten der Epidemie in Echtzeit […| symptomatisch“ ausgefüllt. „Das soziokulturelle Leben spaltet sich gerade in ein physisch entschleunigtes ‚realweltliches‘ und ein hyperventilierendes digitales Leben.“ Auch in den Tagebüchern von 54books spiegelt sich dieser Aspekt wider. Auf der einen Seite wird die Entschleunigung des Alltags bemerkt, die sich bei einem Autor sogar auf das Lesetempo auswirkt: „Ich lese mehr, ich lese langsamer“ (Viktor Funk, 54books). Auf der anderen Seite steht ein zunehmendes Unwohlsein, das sich im Umgang mit den Sozialen Medien entwickelt: „Die Menge an Berichterstattung und digitalem Lärm steht in einem schwer aushaltbaren Missverständnis zur (scheinbaren?) Ungewissheit der Situation“ (Marie Isabel Matthews-Schlinzig, 54books). Oder: „Ich lese regelmäßig twitter und merke, dass es nicht gut tut, ich es aber auch nicht lassen kann. Jede*r postet ständig Artikel wie es jetzt weitergehen könnte. Es entstehen Diskussionen über Fake-News, die heute keine Fake-News mehr sind. Alle regen sich auf, niemand weiß genaues“ (Charlotte Jahnz, 54books). Die Stimmung ist angespannt und dominiert von der Sorge um eine ungewisse Zukunft. Marlene Kayen, die Vorsitzende des Deutschen Tagebucharchivs, begründet in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung die Konjunktur des Tagebuchschreibens wie folgt: „Ich habe den Eindruck, dass sie sich einen kleinen Fluchtraum aufbauen, in den sie sich zurückziehen und ungefiltert Sachen aufschreiben. Vielleicht lassen sich deshalb an Tagebüchern so gut psychische Entwicklungen beobachten.“ In den Journalen werden nur die subjektiven Wahrnehmungen der Pandemie festgehalten, hier wird die enge Verknüpfung von persönlicher Wahrnehmung und Zeit besonders deutlich. Es ist eine gegenwärtige Fokussierung auf den Moment, ein Konservieren des Jetzt und eine Form der Beruhigung, da es für den Moment des Schreibens nur um das Jetzt geht. Die wegfallende, gewohnte Strukturierung eines Tages, verbunden mit dem Warten auf Neuigkeiten und das Ende der Pandemie, führen zu einem Schwebezustand, zu einem Leben neben der Zeit. Maike Ladage schreibt dazu auf 54books: „Immerzu verwundert. Ausnahmezustand ständig präsent, gleichzeitig seltsames Aus-der-Zeit-Fallen und ganz Gegenwärtig-sein.“ Das tägliche Schreiben liefert den Rhythmus, der dem Alltag mittlerweile fehlt, selbst die Bus- und Zugpläne folgen nun einer anderen Zeitrechnung: „Seit Mittwoch ist jetzt immer Samstag. Die Kölner Verkehrsbetriebe haben eine neue Zeitrechnung für uns angefangen.“ (Rike Hoppe, 54books)

Zuletzt sind Tagebücher aber auch eine Form, etwas von sich zu konservieren und zurückzulassen, weil selbst der eigene Ausgang ungewiss ist. Das Schreiben tritt somit dem Vanitas-Gedanken entgegen, der durch den Tod als definitiven Endpunkt der Lebenszeit aktuell präsenter ist: „Die Verheerungen, die das Virus anrichtet, sind unserer Fantasie überlassen. Sterbende bleiben isoliert, nicht einmal Angehörige dürfen zu ihnen. Der Weg, den letztlich jeder allein geht, ist nun ein einsamer. Ihre Gesichter sehen wir dann manchmal doch: Wenn sie uns aus italienischen Todesanzeigen entgegenblicken, noch aus dem Leben, aus ihrer Vergangenheit in unsere Gegenwart“ (Marie Isabel Matthews-Schlinzig, 54books).

(Lena Pflock)

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Bis vor einigen Wochen war es noch die Digitalisierung, die von vielen für eine grundlegend veränderte Zeitwahrnehmung, eine radikale Fokussierung auf die Gegenwart und einen neuen Begriff von Gegenwart verantwortlich gemacht wurde. Dabei war nicht immer klar, ob durch die digitalen Medien nun eine „breite Gegenwart“ (Gumbrecht) entstanden ist, die von nicht vergehenden Vergangenheiten überschwemmt wird, oder ob der „present shock“ (Rushkoff) im Gegenteil eine Kultur des Präsentismus hervorgebracht hat, in der Vergangenes instantan vergessen wird. Und auch die Frage, ob alles immer schneller wird, wenn alles jetzt passiert, oder vielmehr Stagnation und Stillstand zu verzeichnen sind, blieb zwischen den divers zirkulierenden gegenwartsdiagnostischen Statusmeldungen offen. Einig war man sich nur darin, dass sich die Wahrnehmung und das Verständnis von Gegenwart krisenhaft verändert haben und dass diese Veränderungen mit dem Schlagwort der Digitalisierung erfasst und begründet werden können.

Das neue Coronavirus sorgt nun für eine merkwürdige Überlagerung und Verschiebung dieser Thesen, Debatten und Szenarien, für eine verschobene Wiederholung, die die einschlägigen Stichworte aus dem Digitalisierungsdiskurs – weltweite Netzwerke der Übertragung, der Zustand des always-on, permanente Aktualisierung – wie auch die entsprechende Krisenrhetorik auf einer anderen Ebene reproduziert und reanimiert. „In der Krise, die uns alle derzeit so fordert, erleben wir einen Moment enorm verdichteter und beschleunigter Gegenwart“, stellt, wie viele andere, Ende März 2020 der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Armin Laschet fest und folgert: „Das Jetzt fordert unsere ganze Aufmerksamkeit.“ Hier werden nun nicht die digitalen Medien, die alles auf die Gegenwart ausrichten, als Verursacher einer Krise identifiziert, der „Moment enorm verdichteter und beschleunigter Gegenwart“ wird vielmehr auf ein Virus zurückgeführt. Auf ein infektiöses, halblebendiges Etwas, das, wie zwischenzeitig spekuliert wurde, auf „nassen Märkten“, zwischen weggespültem Blut und Dreck, von Tieren auf den Menschen übergesprungen sein soll, mittlerweile aber weltweit zirkuliert und mehr oder weniger zeitgleich die ganze Menschheit betrifft.

Dass viele darüber im Modus ständig aktualisierter, sich schnell ausbreitender Updates informiert werden, ist dann aber doch wieder der Digitalisierung geschuldet, die das etablierte System der Massenmedien durch die Kanäle der Sozialen Medien maßgeblich ergänzt und erweitert, sodass sich ein merkwürdige Parallelität der Topik des Viralen ergibt: Der exponentiellen Ausbreitung des Virus korrespondiert in noch nicht hinreichend berechneten Ausmaßen die rasante, durchaus treffend als ‚viral‘ bezeichnete Ausbreitung von Nachrichten, Gerüchten und individuellen Statusmeldungen zum Virus – und mithin auch die Ausbreitung der Auffassung, dass es unsere Zeitwahrnehmung grundlegend verändert. Verstärkt wird dieser Eindruck auch dadurch, dass dieses Coronavirus neu ist und seine Aktivitäten wie deren Folgen in vielen Hinsichten unabsehbar sind. Selbst diejenigen, die sich professionell mit Viren befassen, wissen immer noch vergleichsweise wenig über es und müssen den zwischenzeitig erreichten Wissenstand permanent revidieren, korrigieren und aktualisieren.

Auch deshalb liegt es nahe, dass der unübersichtlich mehrgleisigen Zirkulation viraler Prozesse zwischen Menschen und Medien geradezu massenhaft mit dem Schreiben von Tagebüchern begegnet wird. Der Rekurs auf ein etabliertes, spätestens seit Samuel Pepys Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert zudem epidemieerprobtes Medium ermöglicht es, den diffus global zirkulierenden Bedrohungsszenarien mit einer individuell begrenzten, selbst fokussierten Perspektive zu begegnen, die durch die Veröffentlichung in den Sozialen Medien aber zugleich den Anschluss an andere oder auch den öffentlichen Diskurs ermöglicht, über die vermeintlich eigene Filterblase oder die weiter ausgreifenden Netzwerke digital vermittelter Kommunikation.

Als Medium der Fokussierung auf die Gegenwart, mit dem man das, was aktuell passiert, Tag für Tag festhalten kann, in dem Veränderungen (wie auch deren Ausbleiben) schrittweise notiert, reflektiert und, gegebenenfalls gleich am nächsten Tag, revidiert werden können, wirkt das Tagebuch der derzeitigen Situation auf besondere Weise angemessen. Da es zugleich einen Rahmen bildet, in dem ohnehin häufig über Zeitverhältnisse reflektiert wird, insbesondere über die Aporien und Paradoxien der schriftlich vermittelten Gegenwartsfixierung, ergeben sich schnell weitere Interferenzen mit eben der Situation, die durch das Virus entstanden ist.

Viele der aktuell entstehenden Corona-Tagebücher thematisieren nicht nur, sondern reproduzieren auch selbst jenes Neben- und Miteinander von Verlangsamung und Beschleunigung, das auch im politischen Diskurs den Eindruck eines „Moments enorm verdichteter und beschleunigter Gegenwart“ prägt. Einerseits liegt die „Halbwertszeit vom Neuigkeitswert“, wie Kathrin Röggla in ihrem Corona-Tagebuch auf der Website des Literaturhauses Graz feststellt, „bei ca. sechs Stunden“, andererseits ist, wie sie nahezu zeitgleich in einer Tageszeitung, der FAZ, ergänzt, „das öffentliche Leben stillgestellt, das Sozialleben eingefroren“. „Ich kann nicht Schritt halten, der Diskurs bewegt sich in rasender Geschwindigkeit vorwärts, die Situation kann sich jederzeit ändern. Was heute dementiert wird, ist morgen Realität“, reflektiert Röggla eine auch in vielen anderen Corona-Tagebüchern geteilte Wahrnehmung der aktuellen Situation. Wenn sie feststellt, dass sich alles „zu schnell“ bewegt und alles „morgen“ schon „durch neue Nachrichten“ abgelöst wird, beschreibt sie zugleich aber auch den üblichen Aktualisierungsmodus von Tagebuch und Tageszeitung. Der zeigt allerdings, trotz digitaler Vernetzung, in der gegenwärtigen Situation geradezu überdeutlich seine Grenzen: „Ich komme also nicht durch zu der Gegenwart der Lesenden“, schreibt Röggla angesichts einer fünftägigen Verzögerung bei der Veröffentlichung des Online-Tagebuchs, „bin irgendwie in der Vorzeit zuhause, aus der ich wie hinter dicken Glasscheiben winken kann, während es, kaum dass ich es niedergeschrieben habe, schon heißen kann: ‚Ha, damals, als wir noch diese Probleme hatten!‘“ Dieses eher redaktionell denn medial verursachte Problem verschiebt sich nochmals im Blick auf den Zeitindex der Maßnahmen und Prognosen, mit denen der Ausbreitung des Virus begegnet wird. Da man immer erst ein, zwei Wochen später wissen kann, was die aktuell durchgeführten Maßnahmen gebracht haben, ist im Prinzip auch die unmittelbare Gegenwart schon von dicken Glasscheiben umstellt, die verspätete Einsichten, verfrühte Aktivitäten und angemessene Aktualisierungen nicht immer als solche sichtbar machen (was aber vielen auch schon vor Corona als Kennzeichen der Gegenwart galt).

Röggla hebt noch eine weitere Form dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hervor, die gegenwärtig besonders deutlich hervortritt, aber genau genommen auch schon früher zu beobachten war: „Während immer neue Nachrichten hereinbrechen in immer engmaschigerem Takt, deren Hyperaktualität seltsamerweise noch nicht einmal enervierend wirkt, verhält es sich doch oft so, als würde ich das immer Gleiche lesen.“ Die monothematische Fokussierung nahezu aller Kommunikationsmedien zeitigt ihre hypnotischen, zugleich aufregenden wie beruhigenden Effekte nicht zuletzt dadurch, dass permanent auf allen Kanälen gesendet wird, auch wenn es, wie häufig, nichts, zumindest nichts Neues zu melden gibt. Die vielen Tagebücher und die ungezählten Statusmeldungen in Sachen Corona, die viele Timelines der Sozialen Medien wie einen monothematisch fokussierten Gruppenchat erscheinen lassen, reflektieren diese Konstellation gewissermaßen in Echtzeit – und setzen sie eben dadurch im Modus der Logik des Viralen auch fort.

„Kann es sein“, fragt sich Thomas Stangl im Grazer Corona-Tagebuch, „dass all das, was uns eben noch als gegenwärtig, aktuell, dringlich erschienen ist, von nun an völlig fremd wird, weil sich einfach das Koordinatensystem geändert hat?“ Und Kathrin Röggla schreibt: „Werde ich jetzt eine Springerin zwischen den Zeiten (Gegenwart, Zukunft 1 und Zukunft 2, rasende Vergangenheit)? Zukunft ist durch die drohende Destabilisierung auf heikle Weise wieder vielfältig geworden, die breite Gegenwart beendet. Diese Schwierigkeiten werden uns noch lange begleiten. Es ist nicht abzusehen, was das heißt, dass jetzt eine neue Ära beginnt.“ Der Vorschlag, den Röggla im Nachdenken über die Rolle von Prognosen aus ihren eigenen Prognosen ableitet, ist so einfach wie komplex und bildet nicht zuletzt einen brauchbaren Gegenentwurf zu der von Paolo Giordano in seinem Corona-Tagebuch schon jetzt in Buchform vorliegenden Forderung, „der Epidemie einen Sinn zu geben“.

Röggla setzt auf das Programm einer Literatur, das möglicherweise auch deshalb angemessen und zeitgemäß wirkt, weil es für viele – auch für Röggla – nur bedingt ein grundlegend neues Koordinatensystem oder den Beginn einer neuen Ära in Aussicht stellt: „Eigentlich wären Texte ja hilfreich, die versuchen, die Lage zu erkennen, und insofern sich doch der konkreten Beschreibung des Alltags zuwenden, aber eben einer, die nicht auf etwas hinaus will, der Matrix eines Alarmismus genauso wenig wie dem Programm einer Weltrettung folgend, einer der gemischten Realitäten, die dem Nebeneinanderher von neuer Logik, alten Problemen, unerwarteten Auswirkungen der Situation gerecht wird. […] Es wird ein Arbeiten mit verschiedenen Zeitmodi sein müssen, die Zeitebenen müssen wieder in Kontakt miteinander kommen, und so wird sich Literatur in dieser Situation mehr denn je als Zeitkunst erweisen müssen.“

(Eckhard Schumacher)

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Durch die Veröffentlichung im Wochentakt verlieren die Corona-Tagebücher bereits ihren unmittelbaren Tagesbezug: Es werden schon beim Lesen nur Rückblicke vermittelt, man denke beispielsweise an die inzwischen selbstverständlichen Kontaktsperren, die in den jeweiligen Beiträgen gerade erst erlebt werden. In dem Sinne ermöglichen Corona-Tagebücher auch schon Tage nach ihrer Veröffentlichung ein kollektives Erinnern an gemeinsam erlebte Maßnahmen, vertraute Gedankengänge werden dort noch einmal aufgerollt; sie haben aber auch eine schwierige Beziehung zu der gegenwärtigen Lektüre, streuen noch mehr Reflexionen in die Monothematik der Coronapandemie und geben Einblick in einen veränderten Alltag, dem die aktuell Lesenden bereits selbst ausgesetzt sind. Dementsprechend tragen sie zur Stiftung einer kollektiven Identität bei und dienen als Orientierungshilfe, funktionieren aber vor allem als (kulturelle) Archive für folgende Generationen, indem die Tagebücher als gewählte Publikationsform Authentizität und Teilhabe vermitteln können.

Gemeinsam ist den Tagebüchern allen: die Zeitphasen sind beleuchteter denn je. Ein rasantes Tempo in der Ausbreitung des Virus und die folgenden politischen Maßnahmen lassen Beiträge und Gedanken schnell als überholt erscheinen, die Berichterstattung in Echtzeit und die Omnipräsenz des Themas in den Nachrichten führen nicht selten zu dem Eindruck einer sich überschlagenden Gegenwart. Kathrin Röggla erkennt in ihren Beiträgen zum Corona-Tagebuch des Literaturhauses Graz darin ihre eigene Position als Schreibende, in der sie „nicht durch zu der Gegenwart der Lesenden“ kommen könne und stattdessen in der „Vorzeit zuhause“ sei.

Eben dort empfindet Nava Ebrahimi bereits den Ausspruch ihres Sohnes, er habe im Traum mit seiner Oma Pizza gegessen, „wie ein Echo aus einer anderen Zeit“. Schon die Monate vor Corona liegen im Zeitempfinden so weit zurück, dass die Vergangenheit weiter wegrückt, nicht mehr erreichbar ist. Die jetzt so erwünschte „Normalität“ wird wie aus einer anderen Welt erlebt, in der sich Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr richtig aneinanderfügen können. Der durch die Pandemie empfundene Orientierungsverlust wird von den einen durch eine Flucht in ihre Erinnerungen an vergangene Zeiten, Kindheitsmomente und frühere Reisen kompensiert, andere versetzen sich in eine imaginierte Nach-Corona-Welt, in der die Möglichkeiten wieder unbegrenzt erscheinen. Carolin Emcke hingegen stört sich in ihrem Tagebuch in der Süddeutschen Zeitung an den vielen Fragen des „Danach“, des Erinnerns an die Pandemie. Sie seien bloß „ein Fluchthelfer der Phantasie“, stattdessen empfindet sie die Gegenwart, ihre Gegenwart, als übrig gebliebenen Handlungsraum, der „sich verwandeln lässt in etwas, das [ihr] gehört“.

So unterschiedlich das Zeitempfinden bereits innerhalb der Tagebücher ist, so wenig bildet es dennoch das Empfinden derjenigen ab, die gar nicht die Zeit haben, um über das Verhältnis der Zeiten zu sinnieren. Tagebuch zu schreiben ist auch ein Privileg. Wenn der Soziologieprofessor Hartmut Rosa in einem Interview mit dem Philosophie Magazin äußert, dass wir nun dem „Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus“ entfliehen könnten und jetzt Zeit hätten, kann dies angesichts der Sorge um das finanzielle, vor allem aber gesundheitliche Überleben vieler und der intensiven Mehrbelastung systemrelevanter Berufe schwer für die Gesellschaft insgesamt greifen. Trotzdem sieht Rosa das Potenzial eines kollektiven Resonanzmomentes und damit von etwas kollektiv Neuem sowie die Chance, dem „Hamsterrad“ unserer auf Steigerung fixierten Gesellschaft zu entkommen und stattdessen zu entschleunigen. Es wird sich zeigen, wie allgemeingültig sich der Eindruck von Entschleunigung und einem anderen Lebenstakt halten kann, oder ob es, angesichts der jetzt schon wieder öffnenden Geschäfte und Lockerungen, für manche nur ein kurzer Ausflug in ein langsameres, verändertes Leben war. Vielleicht wird sich das Zeitverständnis nicht so monumental ändern, wie es aktuell stellenweise vermutet wird, sicher ist bloß: Die Zeit ist spürbarer geworden. Lebenszeit, Gesprächszeit, Kontaktzeit, Arbeits- und Freizeit werden für manche aus einer neuen Perspektive beleuchtet, für andere sind sie schwieriger einzuteilen, aber ob die Pandemie zur kollektiven Erfahrung eines neuen Zeitempfindens führt, wird sich angesichts der heterogenen Lebensrealitäten zeigen müssen.

(Annica Brommann)

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Die Krisentagebücher, die jetzt geschrieben werden, offenbaren auch eine Krise des Tagebuchschreibens – zumindest jenen Tagebuchschreibens, das versucht, die Krise zu erklären. Und sie offenbaren die Krise der Krise: Hartmut Rosa sieht die (Corona-)Krise als Bestätigung dessen, was ihm ohnehin bereits klar war: Dass die Krise der Dauerzustand ist, schon lange die Normalität ersetzt hat. Was will man also noch sagen bzw. schreiben? Und warum soll das jemand lesen? Wer überhaupt? Jemand aus der Zukunft? Schreiben für eine ‚neue Normalität‘, wie sie heute beschworen wird?

Marlene Streeruwitz schreibt auf ihrer persönlichen Homepage darüber‚ wie „die Welt geworden“ ist, ihren selbstbewusst bis augenzwinkernd betitelten „Covid19 Roman“. Es ist nicht irgendeiner, keiner unter vielen – es ist „Der Covid19 Roman“. Darin geht es um Betty, die ihr Haus nicht verlassen kann und die von Versionen ihrer selbst und ihren Gewissensbissen heimgesucht wird. Der Roman gibt sich in der Betitelung der einzelnen Kapitel als Fortsetzungsserie aus, die bis heute (21. April 2020) eine Season mit zehn Folgen hat – wie gemacht zum Durchbingen. Dieses online verfügbare und fortgesetzte Schreiben macht zumindest ein Angebot, was den Lektüremodus in Zeiten der Coronakrise angeht: Lesen und Scrollen und Geschriebenes inhalieren, bis nichts mehr da ist. Wenn dann die Browseraktualisierung per F5-Taste kein Update mehr bringt, steht man da, alleingelassen vor so viel Gegenwart, mit der man etwas anfangen muss – wie nach einem sonntäglichen Netflix-Binge. Vor einem ähnlichen Problem (einer ähnlichen Krise?) steht auch das Schreiben in Streeruwitz’ ‚Covid19 Roman‘. Es versucht, täglich neu anzusetzen, um einer Gegenwart zu begegnen, die gerade jetzt vor einem steht. Als „Fläche. Ohne Richtungen“, wie es dort heißt. Dauert Gegenwart nur drei Sekunden oder wird sie hier flächig und erhält damit ein ganz anderes Format? Wenn die Corona-Tagebücher eines zeigen, dann, dass irgendwann der Vektor, das Koordinatensystem abhandenkommt, wenn man nicht mehr für die Zukunft schreibt oder versucht, die Gegenwart, die vor und unmittelbar hinter einem liegt, auf eine Prognose hin zu befragen. Irgendwann ist alles nur noch da. Wie eine Fläche.

„Wenn alles jetzt passiert“, so der Untertitel der deutschen Übersetzung von Douglas Rushkoffs Digitalisierungskritik Present Shock, dann kann das auch ganz ohne Akzeleration zu viel sein. Nehmen wir einmal an, die Gegenwart dauert wirklich nur drei Sekunden, dann kommt ja trotzdem direkt danach noch eine. Und noch eine und wieder eine. „I can’t stand feeling like this another second, and the seconds keep coming on and on.” So versucht Kate Gompert, eine Figur aus dem 1996 erschienenen Roman Infinite Jest von David Foster Wallace, auszudrücken, wie sich die Depression anfühlt, unter der sie leidet. Die Gegenwart prasselt auf uns ein, gerade jetzt, als Sturzregen von Sekunden (während die Tagebuchlektüre zumindest die Einsicht zu Tage gefördert hat, dass es in der Wirklichkeit schon seit Wochen nicht mehr geregnet hat). Der Vergleich mit der Depression scheint nicht allzu abwegig, so schreibt auch Marie Schmidt in der Süddeutschen Zeitung vom 16. April, Streeruwitz’ Texte handelten davon, „[w]ie sich die Gegenwart depressionsähnlich aufwölbt.“ Während Carolin Emckes Journal-Texte in der gleichen Zeitung flanierend und die Welt observierend Kreuzberg umschreiten, kommt hier die Risikogruppe zu Wort. Diejenigen, die die Wohnung nicht verlassen können und die in diesen Zeiten von… vor lauter Gegenwart nicht wissen, wohin. Das (Tagebuch-)Schreiben als therapeutische Maßnahme? Ein Schreiben, das nicht bereits im Moment des Entstehens auf Rezeption aus ist, das vielleicht sogar gar nicht um sie weiß, nur für sich schreibt, befreit von Aktualitätszwang?

Die Normalität, die Krise, die Gegenwart und wie man sie aufschreibt. Bei aller Aktualitätsforderung: Es scheint, als sei es gerade die Leere dieser Zeit, dem das Tagebuchschreiben begegnen könnte.

(Philipp Ohnesorge)

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Wann bricht ein Tagebuch ab? Kann man sich dafür entscheiden aufzuhören? Die Form der täglichen Eintragung könnte prinzipiell bis zum Tod des oder der Schreibenden fortgesetzt werden. Angenommen, der Anlass der Tagebücher, die die Corona-Pandemie begleiten, ist eine dreifache Verschiebung in der Zeitwahrnehmung: Erstens ein Bruch, der ein Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit eröffnet. Zweitens die konkrete Erfahrung eines Stillstands oder einer permanenten Gegenwart, ohne dass ein Danach denkbar wäre. Diese Erfahrung ist drittens begleitet von einer verstärkten Wahrnehmung insbesondere digitaler Informationsverbreitung als eine Form der Beschleunigung. Wann wäre es unter diesen Voraussetzungen Zeit, die Corona-Tagebücher wieder zu beenden?

Der Bruch in der Zeit macht je nach Perspektive entweder etwas ganz anderes sichtbar oder gerade das, was sowieso schon da war, aber nicht gesehen wurde. Beispiel für ersteres wäre das Corona-Tagebuch in 54books, dessen Anstoß die Vermutung ist, einer grundlegenden Transformation beizuwohnen: „In diesem kollektiven Tagebuch wollen wir sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert.“ Auch bei Carolin Emcke, die für die Süddeutsche Zeitung in einem „Journal“ „politische-persönliche Notizen“ aufzeichnet, findet sich die Rede von „Wörtern, deren Bedeutungen sich verschieben“. Gerade in der ersten Woche akzentuiert Emcke die zeitliche Dimension der Verschiebung: 1. durch ein Zitat aus Büchners Leonce und Lena, in dem vom Aus-der-Zeit-Gehen die Rede ist; 2. durch die Kontrastierung ewig göttlicher Gegenwart, die sich in der Musik Bachs zeige, mit den täglichen Aktualisierungen zur Lage; und 3. durch verschiedene Formulierungen, die um einen Takt und einen Rhythmus der Zeit kreisen, der wieder in Einklang mit dem individuellen Rhythmus gebracht werden müsse. Im Gegensatz dazu steht die zweite Lesart. Der Bruch wird beispielsweise von den Beschleunigungstheoretikern Armen Avanessian und Hartmut Rosa auf je unterschiedliche Weise ins Spiel gebracht, beide sehen in ihm aber eine Bestätigung dessen, was sowieso schon vorhanden war: Gerade durch diesen Bruch werden die grundlegenden Probleme der kapitalistischen Arbeits- und Lebensweise sichtbar und die Notwendigkeit der Veränderung wird umso dringlicher. Genau genommen erkennen sie eine Kontinuität in der Makroperspektive auf das politische und wirtschaftliche System, wenn auch, zumindest bei Rosa, in der Mikroperspektive des eigenen Erlebens ebenfalls der Eindruck der Entschleunigung zu dominieren scheint.

Für die Tagebücher scheint diese Kontinuität jedoch nicht denkbar. Sie gehen vom Bruch aus und stellen ihm die Regelmäßigkeit des täglichen Aufzeichnens gegenüber. Sie setzen täglich neu an und wiederholen dadurch den Bruch, während sie ihn zugleich kompensieren. Die „Normalität“, die dem Bruch vorausgeht und die Voraussetzung des Tagebuchschreibens ist, wird im regelmäßigen Takt des Schreibens wieder aufgegriffen. Die Tagebücher werden dann irrelevant, wenn wir sie vergessen können, weil wir die Regelmäßigkeit des Aufzeichnens nicht mehr als Ausnahme wahrnehmen. Wenn die Wahrnehmung der Differenz, die der Bruch ist, der Indifferenz gewichen ist.

(Elias Kreuzmair)