Jahr: 2020

Chronik: November 2020

Die Chronik ist in den ersten zwei Wochen exklusiv für unsere Abonnent*innen und wird dann freigeschaltet. Alle anderen Texte sind frei verfügbar. Hier kann man ab 2,50 ein Abo abschließen.

 

Der Monat beginnt mit einer Klage. Leere Ränge, leerer Stream bei der Verleihung des Büchnerpreises an Elke Erb, vermeldete die FAZ. Mit einer gewissen Strenge wurden dort die geringen Zuschauerzahlen des Livestreams durchgegeben. War wohl doch nichts mit der Digitalisierung von Events? Ähnliche Klagen hörte man dann zum Open Mike, wo wohl auch nicht die Massen strömten. Allerdings kann man sich da fragen, ob die Erwartungshaltung gerechtfertigt ist, eine Veranstaltung, die man einfach nur digitalisiert, müsste dann sofort ein großes Publikum ziehen. Für jede analoge Veranstaltung muss man ja auch erst einmal Aufmerksamkeit erzeugen. Und eine altehrwürdige Veranstaltung wie der Büchnerpreis kann sich bei der Gelegenheit vielleicht einmal eingestehen, dass die vollen Ränge mehr mit der habitusfördernden Anwesenheit zu tun hat, als mit tatsächlichem inhaltlichen Interesse. Jedenfalls droht hier eine self fullfilling prohecy: Erst behandelt man digitale Formate stiefmütterlich, was die Öffentlichkeitsarbeit und das Veranstaltungsdesign angeht und dann nimmt man den Mangel an Zuschauer*innen als Beweis dafür, dass sie nicht funktionieren.

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Die kreative Kraft, die hinter der Idee steckt, Personen des öffentlichen Lebens in teils absurde fiktionale Geschichten zu verstricken, hat schon zu zahlreichen beeindruckenden Fan Fictions geführt. Kein Wunder also, dass auch Noch-US-Präsident Donald Trump und Bald-US-Präsident Joe Biden in der fiktiven Welt durch eine lange Bekanntschaft verbunden sind, die sich von einer Rivalität in Kindheitstagen an entwickelte, durch gemeinsame Liebesnächte geprägt war und schließlich im Kampf um die Präsidentschaft endet. “The ‘enemies to friends to lovers’ trope is a trope that I enjoy, ” sagt der 17-jährige Autor, in dessen Story sich auch ein amouröser Subplot zwischen Mike Pence und Barack Obama findet. Interessant ist vor allem, dass sich diese Art der fiktionalen Gegenwartsverarbeitung dafür eignen kann, mit den eigenen Ängsten angesichts der politischen Zukunft umzugehen: “It’s just a fun way to make it so that I can stay involved in what’s happening, without worrying myself too much.”

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Ein neues Genre plagt den Diskurs: Die Klage darüber, dass auch kulturelle Institutionen von den Coronamaßnahmen betroffen sind. Ist Kunst denn nicht auch Lebensmittel? Ist sie nicht auch systemrelevant? Warum dürfen ____ (Hier etwas einsetzen, was dem Bildungsbürger egal ist) aufbleiben, aber nicht die Theater? Diese eigentümliche Selbstheroisierung erreichte ihren hyperbolischen Höhepunkt in der letzten Woche, als eine Aufruf für mehr staatliche Hilfe für Künstler*innen in Bayern allen ernstes mit “AutorInnen sterben einen leisen Tod” überschrieben wurde. Da kann man sich nur wünschen, dass es noch ein wenig leiser geht. Was hinter dieser Klage, die angesichts täglich erschreckender Infektions- und Todeszahlen ziemlich tone deaf und eitel wirkt, steht, plaudert Carsten Brosda, Hamburger Senator für Kultur und Medien, in diesem ellenlangen Artikel in der Zeit mehr oder weniger aus Versehen aus. Er kann nämlich nicht verstehen, warum das hochkulturelle Leben eingeschränkt werden soll, während Gottesdienste weiter erlaubt seien. Kunst ist dem Bürgertum Religion. So kann man auch den Präsenzfetisch erklären, der aus Theater und Kinos ein säkulares Gotteshaus machen möchte, in dem man auch erscheinen muss, um an der Heiligkeit des Ritus zu partizipieren.

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Was wir gerade lesen? Zum Beispiel das neue Buch von Adrian Daub: What Tech calls Thinking (Seit Mitte November auch auf Deutsch). Warum? Unter anderem wegen Sätze wie diesem: “Disruption is newness for people who are scared of genuine newness.” So elegant und kurzweilig wurde schon lange nicht mehr die heiße Luft aus einer aufgeblasenen Ideologie wie dem Techmessianismus gelassen.

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Ein weiteres feuilletonistisches Format, von dem wir in Zukunft noch viel weniger sehen wollen, ist das arbiträre Befragen von Autor*innen zu irgendeinem Thema. Ein gutes Beispiel dafür ist diese Sammlung von tiefsinnigen Einschätzungen zu den neuen Coronamaßnahmen (“Shutdown”). Dazu dürfen sich berühmte Epidemiolog*innen und Politikwissenschaftler*innen wie Thea Dorn, Juli Zeh und Eugen Ruge äußern, die dazu vor allem das sehr deutsche Selbstvertrauen von Autor*innen legitimiert, Experten für alles zu sein. Ruge etwa kommt mit gar nicht mal so unterschwelligem DDR-Vergleich daher, und vielleicht ist das gemeint, wenn er schreibt, “ dass der gesellschaftliche Konsens immer neu und unter Schmerzen ausgehandelt werden muss”. Die Schmerzen, das können wir bestätigen, sind da – es fehlt allerdings noch der Konsens. Und warum müssen wir dann auch noch die grämliche Kulturkritik von Daniel Barenboim lesen, der uns mit solchen Aperçus beglückt: “Der Geist leidet natürlich schon längere Zeit, es gibt ein großes Diminuendo in der Bildung.” Immerhin hat uns der Folgende krachende Selbstwiderspruch aus derselben Wortmeldung ziemlich amüsiert: “Weil so viele Politiker so wenig davon verstehen, keine Bildung haben, sagen sie, Musik sei elitär, aber das stimmt nicht.” Und vielleicht ist das die eigentliche Funktion dieses feuilletonistischen Formats, dass möglichst viele Künstler*innen mit möglichst seltsamen Wortmeldung für allgemeine Erheiterung sorgen.

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Essays, die man diesen Monat (auf Englisch) lesen kann:

1. Was treibt eigentlich die “Free Britney” Kampagne?

2. Was haben Jeopardy! und Wikipedia miteinander zu tun?

3. Welche Rolle spielt Venture Capital für den Geniemythos der Tech Bubble?

4. Warum sind Archive wichtig und was passiert, wenn man sie nicht respektiert?

5. Wie passiert, wenn die Sex Toy Industry und Tech-Ideologie aufeinandertreffen? 

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Der Cornelsen-Verlag besetzt einen Platz in der Liste der fünfzig umsatzstärksten Verlage der Welt und hatte im Jahr 2018 einen Umsatz von 254 Millionen Euro. Das scheint aber kein Hindernis dafür zu sein, bei Honorarverhandlungen einen, sagen wir, interessanten Verhandlungsstil zu pflegen. Das Greifswalder Magazin Katapult hat sich dagegen öffentlich gewehrt und der Cornelsen-Verlag hat sich mittlerweile entschuldigt. Was spricht eigentlich dagegen auch bei Schulbüchern die Vergabe von öffentlichen Mitteln an faire Honorare für die Urheber*innen zu binden, wird auf Twitter gefragt. Der dortige Verweis, dass die Universitätsbibliotheken bereits gezeigt haben, wie sich staatliche Institutionen erfolgreich gegen Verlage wehren können, gibt zumindest Anregung auch im Schulbuchbereich darüber nachzudenken, welche Unternehmenspraktiken mit öffentlichen Geldern finanziert werden sollten. 

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Die Debatte über die Verteilung von Geldern im Literatur- und Kulturbetrieb ist auch an anderer Stelle im vergangenen Monat immer wieder hochgekocht. Besonders über die Vergabe von Mitteln aus dem Pandemie-Sofortprogramm “Neustart Kultur” wird diskutiert. Die Stiftung Kulturfonds hat beispielsweise von ihren Mitteln für Künstler*innen mit Sorgeverpflichtung überproportional viele Männer begünstigt (“Sie waren zufrieden, bis sie die dezidiert misogyne Jury-Entscheidung zur Kenntnis nehmen mussten – hatten die Bewerbungen von Frauen für das Stipendium doch 60 Prozent betragen, die dann disproportional mit nur 45 Prozent positiven Bescheiden beantwortet wurden.” schreibt die taz). Die Vergabe von Mitteln im Bereich der Literatur wurde bereits im Juli kritisiert, damals wurde das Programm im Bereich der bildenden Kunst noch als beispielhaft genannt – die problematische Vergabepraxis der Jury dürfte diese initiale Freude ad absurdum geführt haben. Im Bereich der Literatur hat der Literaturfonds beschlossen Gelder an ehemalige Stipendiat*innen verteilt. Das Netzwerk freie Literaturszene Berlin kritisierte schon im Sommer: “Statt der Auszahlung kleiner Honorare, die in Summe gerade ein Prozent der gesamten Fördersumme ausmachen, an eine Vorauswahl ehemaliger Stipendiat*innen des Deutschen Literaturfonds für die Erstellung von Lesungsvideos (was den Eindruck erweckt, nur die eigene  Klientel zu bedienen), fordern wir eine deutliche Mittelaufstockung für flexible, unbürokratische Überbrückungsstipendien an Autor*innen, aber auch an andere literarische Akteur*innen.Mittlerweile sind diese mit Mitteln des Literaturfonds finanzierten Videos (pro Video gab es 500€ für 100 Autor*innen) auf Youtube mit dem Titel “Hundert Autoren präsentieren ihre Arbeit im Internet” veröffentlicht worden. Man kann sich über die Qualität der hundert Aufnahmen also selbst einen Eindruck verschaffen (und so vielleicht auch zur Resonanz beitragen, die bei vielen der Videos noch nicht mal im höheren zweistelligen Bereich liegt).

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Geld, nämlich bis zu 220 Millionen Euro, möchte die Bundesregierung für den Erhalt der Medienvielfalt und -verbreitung in Deutschland ausgeben und damit den Journalismus und darin tätige Medienschaffende stärken. Das funktioniert in Zeiten wie diesen laut Internet am besten, wenn man Geld ins Internet steckt. Da unsere Leser*innen diesen Text bereits im WWW lesen können, benötigen wir offensichtlich keine Unterstützung. Das Geld soll daher voraussichtlich erstmal an diejenigen fließen, die das Internet verschlafen haben; anders ausgedrückt in die „Förderung der digitalen Transformation des Verlagswesens“. Dass es die Digitalisierung schon lange gibt bzw. schon lange davon geredet wird, weiß auch der medienpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Martin Rabanus. “Wir haben das irgendwie alle gemerkt, dass unsere Gesellschaft zwar seit 25 Jahren von Digitalisierung redet, aber erst seit drei Monaten auch einen Schub bekommt.“ Wie das aber so ist mit den Schüben, sie kommen und gehen, daher war irgendwie nicht so richtig klar, wann der Schub mit dem Geld kommt und an wen er geht. Das aktuelle Konzept des Wirtschaftsministerium sieht erstmal vor, dass das entscheidende Kriterium die Auflage der gedruckten Zeitungen oder Zeitschriften ist. Margit Stumpp, die medienpolitische Sprecherin der Grünen, kritisiert das deutlich, denn damit “wird nichts für den Journalismus und die Medienschaffenden getan. Sie spielen darin keine Rolle. Hauptsächliches Kriterium der Förderhöhe ist die Auflagenhöhe. Die größten Verlage erhalten das meiste Geld. Das stärkt die Medienvielfalt nicht, das schwächt sie und damit relevantes Element unserer Demokratie.”

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Gegen die Umsetzung des Konzepts wendet sich auch ein Appell des “Arbeitskreises Digitale Publisher”, den wir ebenfalls unterzeichnet haben. Und an dieser Stelle natürlich auch: wenn ihr 220 Mio Euro über habt, könnt ihr diese gerne per Paypal an uns schicken oder ihr schließt eine sehr lange Steady Mitgliedschaft ab.

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Anfang November rief Herbert Grönemeyer die wohlhabendsten Deutschen dazu auf, die in der Corona-Krise darbende Kulturszene finanziell zu unterstützen. Eine “zweimalige Sonderzahlung von zum Beispiel 50.000 bis 150.000€” von den ungefähr 1,8 Mio. deutschen Millionär*innen visierte Grönemeyer an und rechnete sich damit ca. 200 Milliarden Euro für Künstler*innen und andere kulturell arbeitende Menschen aus. Manch einer könnte da nicht zu unrecht auf den Gedanken kommen, dass das im Prinzip die lang geforderte Vermögenssteuer ist und dass es dafür eigentlich keine wohltätige Geste von reichen Menschen brauchen sollte. Prinzipiell gut ist die Idee im Ansatz aber dennoch. Problematisch erscheint jedoch die These, “ein Land ohne die so unmittelbare Livekultur” würde “den Raum für Verblödung, krude und verrohende Theorien” öffnen. Nichts gegen ein paar Zehntausend, die 2002 “Telefon, Gas, Elektrik, unbezahlt und das geht auch” gegröhlt haben, aber wir wollen nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass einige von denen heute nicht auch für Verschwörungsideologien demonstrieren. 

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Diese Woche tobte der erste Teil der Veranstaltung “Vom Unbehagen in der Fiktion”, das von einer einer Gruppe von Literaturhäusern veranstaltet wurde. Die drei Veranstaltungen mit Gästen wie Hanna Engelmeier, Deniz Utlu, Christian Baron, Isabelle Lehn, Lena Gorelik und vielen mehr (auch die 54books-Redaktion war beteiligt) kann man sich hier anschauen.

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Unsere Erwähnung der “Causa Maron” im letzten Monat war eigentlich schon zu viel. Zu laut und zum Teil quatschig erhitzt wurde diese Debatte geführt. Nicht unerwähnt soll trotzdem das Bonmot von Hoffmann und Campe-Verleger Tim Jung bleiben, der ebenfalls, ob der “sehr umfangreichen Berichterstattung in den Feuilletons zum Verlagswechsel und über die Personalie Monika Maron in den letzten Tagen bzw. Wochen” spürte, dass “der Ruf nach einem Gespräch über Literatur immer stärker wird.” Auf ein Interview (engl. Gespräch) wollte er deshalb, aber verzichten. Weniger kryptisch, sondern schlicht falsch sprach dann noch die zu HoCa gecancelte Autorin selbst davon, dass Hoffmann und Campe einer der wenigen Verlage in Deutschland sei, “die konzernunabhängig geführt werden.” Das ist natürlich nicht nur, angesichts einer riesigen Indieverlagsszene, Blödsinn, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass HoCa zur Ganske Gruppe mit 1.500 Mitarbeitern (2007) und einem Umsatz von 270 Mio Euro (2007) gehört. Ebenfalls unabhängig nach dieser Logik u. a. Random House und Holtzbrinck.

 

[Atelier NRW] Lissabon liegt in Trümmern – Fakten in der Fiktion: Erzählen als Werkzeug des Begreifens

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch
Nabelschau von Yannic Han Biao Federer
Ans Ende schreiben von Gunther Geltinger
Leben, um zu schreiben – schreiben, um (davon) zu leben? von Juliana Kálnay
Ein Mantel aus Papier von Albert Weiden

von Husch Josten

Tom’s Café an der Ecke. Frau Pfeiffers Keller. Josephs Liebschaften. Wittgensteins Ledertasche. Attribute und Accessoires meiner Romanhelden. Doch nichts davon gehört wirklich mir. Gedanken, Geschichten: Dem Kopf entfleucht, der Hand entzogen; geistiges Eigentum heißt es, aber es ist weitergereicht und geteilt, schnell dahin, fort. Gelesen, rezipiert, weitererzählt, interpretiert, belobhudelt, bekrittelt. Meins, und doch nicht mehr ganz meins. Jedes Wort, das geschrieben, jede Begebenheit, die erzählt wurde — fort und dahin. Neuerdings behalte ich, wenn ich vor Publikum lese, trotzig Worte ein. Stickum. Entziehe den Zuhörern einen Satz oder zwei. Rettungsversuche.

Natürlich ist das abwegig! Da ist nichts zu retten, Wörter einbehalten bringt dem Geist das Eigentum, die Fiktion, nicht zurück, zumal der Originaltext nachzulesen ist, schwarz auf weiß und digital. Er ist gedruckt und hochgeladen. Ein Faktum. Er wird ver- und gekauft, für beides ist Freude und Dankbarkeit zu zollen, die Menschen könnten schließlich anderes verkaufen und kaufen. Zuckerwatte beispielsweise. Wertpapiere. Oder zertifiziertes Biogemüse. Und damit hätten sie nichts falsch gemacht und könnten sehr zufrieden sein. Aber sie verkaufen und kaufen Worte, wozu Verleger, Lektoren, Buchhändler, Schreiberinnen und Schreiber im Allgemeinen beglückwünscht werden, man ihnen auf die Schultern klopft: der Kultur wegen. Da kaufen also Menschen Worte, kaufen die Welt aus dem Kopf eines anderen Menschen und ahnen nur, dass sie damit auch einen Anteil dieses Menschen erstanden haben, seinen persönlichsten sogar: die Phantasie, und dass sie diesen Teil des anderen damit zu einem Teil ihrer selbst machen. Für sie sind es ein oder zwei Geschichten unter abertausend anderen Geschichten, die man kaufen kann am Kiosk, auf Büchertischen oder bei Netflix, was insgesamt großartig ist, wer wollte das bestreiten? Und schließlich vervollständigen Leser, Zuhörer und Zuschauer überhaupt erst Buch, Hörbuch, Film… Keine Geschichte ohne Leser. Keine Geschichte ohne Zuhörer. Keine Geschichte ohne Zuschauer.

Aber: Existiert die Geschichte tatsächlich nicht, wenn sie niemand liest, wenn sie — sagen wir — einfach nur so daliegt zwischen ihren Buchdeckeln? Und falls das so ist: Wann, wo und wie lange genau war die Geschichte eigentlich nicht-existent, also rein fiktiv? Etwa nur solange, wie sie nirgendwo sonst existierte als — unentdeckt — im Kopf ihres Gestalters? Oder anders ausgedrückt: Wann hört eine Geschichte auf, fiktiv zu sein, und fängt an zu sein?

Hier gehörte nun ein ebenso ordentlicher wie mühseliger Abriss des theoretischen Diskurses über den Unterschied zwischen Fiktionalität und Fiktivität hin, doch bleiben wir einen Augenblick bei der zuerst aufgeworfenen Frage: Machen erst die Gedanken der anderen, fügt erst die Rezeption durch einen anderen Geist die Geschichte zu einer Geschichte, zu einem Fakt? Indem sich also Schreiber und Leser in einem unausgesprochenen Pakt auf eine bestimmte Wirklichkeit einigen? Ist eine Geschichte lediglich eine nichtssagende Vielzahl an Worten, so lange niemand sie kennt, so lange kein anderer Geist sie aufnimmt? Und diese Worte hier, jedes einzelne: nur gültig, da sie geschrieben werden und die Leser mit dem Kopf schütteln machen, jetzt, da man beginnt, an der Vernunft der Verfasserin zu zweifeln und sich zu fragen, wohin dieser Text überhaupt will, dieser Text einer, die es sich doch nicht anders ausgesucht hat?

Es gibt ein Missverständnis über Fiktionatorinnen und Fiktionatoren, die es im Duden so selbstverständlich nicht gibt, in der Welt da draußen aber schon (Fakt): das Missverständnis, dass sie sich aussuchen, was sie erfinden, wobei „Erfundenheit“ laut Definition zu den wesentlichen Eigenarten fiktionaler Darstellungen gehört. Wenig hülfe es, gegen den Lärm der Gegenargumente „So ist es nicht!“ zu rufen. Gleichwohl der Versuch: „Nein. So ist es nicht! Das sucht man sich nicht wirklich aus.“ Es gilt, dieses Andersherum zu erklären: dass die Geschichten Schreiberin und Schreiber umkreisen, sie gleichsam umzingeln und nicht davonkommen lassen; dass sie aufs Papier drängen, was die Erfindungen laut und deutlich und, wenn es sein muss: jahrelang sagen. Nur eines können Geschichtenerfinder sich aussuchen: wann genau sie einknicken und nachgeben und die Fiktion zu einem Fakt machen. Wann sie die Welt loslassen, die nur eine Zeitlang tatsächlich ihre war.

Andererseits: welch Illusion! Töricht geradezu. Die Geschichten kommen nicht von selbst. Sie werden gestohlen und die Diebe sind die Geschichtenmacher selbst. Sie stehlen aus unzähligen Augenblicken, aus Bruchstücken gesprochener Sätze, aus Versatzstücken verschiedener Räume, aus Assoziationen, Träumen, Begegnungen, Zeitungsartikeln, aus der Historie, aus dem Anblick von Spinatsuppe, sie schöpfen aus dem Geruch des Parkhauses, aus dem Faltenwurf des Mantels der Sitznachbarin; sie stehlen aus Fakten, bedienen sich aus den Regalen des Alltags und der Politik, stehlen aus allem, einfach allem, was sie brauchen für Tom’s Café an der Ecke. Für Frau Pfeiffers Keller, Josephs Liebschaften, Wittgensteins lederne Aktentasche. Vielleicht ist Fiktion vor allem die gelungene Sammlung inspirierter Wirklichkeiten — präzise zu unterscheiden vom Fake, der Fakten absichtsvoll fälscht —, denn wo das geistige Eigentum seinen Anfang nimmt, ist allenfalls umständlich zu definieren, während es Künstlern im Augenblick des Schaffens klar zu sein scheint: Das geistige Eigentum umfasst die Schöpfung des menschlichen Intellekts, im Falle von Schriftstellerinnen und Schriftstellern den Moment, in dem die Hand nach dem Stift greift und niederschreibt, was vorher nur Gedanken waren. Gedanken und Wahrheiten. Gedanken und Eindrücke. Gedanken und Bilder, Nachrichten, Historie, Wissenschaft, Erinnerungen, Reisen… Vor allem aber das, was das geistige Eigentum einzigartig und wertvoll und schützenswert macht: Gedanken und Gefühle.

Denn eine Geschichte besteht vor allem daraus, wie die Welt durch Fiktionatorinnen und Fiktionatoren nachgefühlt, vorgefühlt oder erfühlt wird. Allein aus dem Gefühl heraus ersinnen sie eine neue Welt, phantasieren sie herbei und machen sie mit dem richtigen Handwerkszeug zur Wirklichkeit der Erzählung. Eine Geschichte besteht, wie Nadine Gordimer es in ihrem Essay „Adams Rippe. Fiktionen und Realitäten“ formulierte, aus „Halbwahrheiten, Halblügen“. — „Ausgedacht: ja.“, meint auch der Schriftsteller Thomas Palzer, „Dem Leben entnommen: ja.“ — „Große Romanschriftsteller“, sagte Susan Sontag 2004 in ihrer Dankesrede zum „Literary Award“, „erschaffen eine neue, einzigartige, individuelle Welt — durch ihre Vorstellungskraft, durch eine überzeugende Sprache, durch handwerkliches Können — und reagieren auf eine Welt, die sie mit anderen  eilen, die vielen Menschen, eingeschlossen in ihrem jeweiligen Kosmos, unbekannt oder unverständlich ist.“

Die Phantasie ist die höchstpersönliche Vorstellungskraft einer/eines Einzelnen vor dem Hintergrund und auf der Grundlage dessen, was ihre/seine Welt und Wahrheit ist. Was ist und was sein soll, sein könnte, wird geschrieben, und immer geschieht beides gleichzeitig: das Geschehen und die Vorstellung. Immer geschieht diese Vorstellung im Hier und Jetzt, und vielleicht dient sie immer auch — selbst, wenn sie im Gewand des historischen Romans daherkommt — mal mehr und mal weniger gut dem Begreifen der Wirklichkeit.

„Wir brauchen Fiktion“, sagt die Hirnforscherin Susan Greenfield, „um Fakten zu verstehen.“ Das ist unbenommen, denn die Aneinanderreihung von Daten erzählt noch keine Geschichte. Und doch: „Wenn es ein Roman ist“, sagte Henry James, „muss eine Uhr darin sein.“ Was wiederum nicht zwangsläufig bedeutet, dass alles, was Daten innerhalb einer Reihe verbindet, Fiktion ist. Aber die Ereignisse einer Erzählung müssen zeitlich eingebettet werden in vertraute Tages-, Nacht-, Jahres-, Welt- oder Weltraumzeiten, müssen Anfang und Ende haben und alles, was dazwischenliegt. Eingebettet werden in eine Welt, die möglichst nachvollziehbar und vielen denkbar erscheint und ihren Ausgang nimmt in den Vorstellungen des Schöpfers, die gespeist sind von seiner Wirklichkeit, von Geschichten, die er gehört und gelesen, von Orten, die er gesehen hat. Und dann brauchen Geschichten vor allem dies, sagt Margaret Atwood: „Menschen, denen etwas geschieht“, nur dann sind sie brauchbares Personal für eine Geschichte. Denn tatsächlich zielt doch alles Schreiben auf ein Lesen, so, wie das Sprechen auf das Hören zielt. Schreiben ist ein sozialer Vorgang und hat — meist — Soziales zum Gegenstand. Erzählt wird von Menschen, die es — so oder so — miteinander versuchen: als Freunde oder Feinde, als Paare, als Gruppe, als Gesellschaft. Atwoods Charakteren geschieht in ihrem dystopischen Beststeller „Der Report der Magd“ denn auch Ungeheuerliches, doch sämtliche Repressionsmaßnahmen in ihrem fiktiven Terrorstaat Gilead, so hat sie in Interviews betont, hat es irgendwann gegeben: „Es gibt für alles, was ich in dem Buch beschreibe, historische Vorlagen. Etwa in Nazi-Deutschland, in Chile während der Dikatur Pinochets oder während der iranischen Revolution.“

Fiktionen erzeugen eine eigene — die fiktive — Welt. Und anders als in der realen existiert in dieser fiktiven Welt das Außen: die reale Welt, in der die fiktive erzeugt wird. Das eine kann nur werden und existieren, indem es aus dem anderen entsteht und in ihm ist. Fiktional also ist am Ende das fassbare Manuskript oder Buch, das so entsteht. Fiktiv ist alles, was darin erzählt wird. Doch wie weit Faktuales in die fiktive Welt hineinspielt, wie eng die Grenzen der Unterscheidung gezogen werden müssen, ist gelegentlich schwer festzulegen. Leicht fällt es, wenn Thomas Mann seinen „Zauberberg“-Protagonisten Hans Castorp die real existierende Zigarre „Maria Mancini“ rauchen lässt. Schwieriger wird es, wenn unzählige Fakten in einem Text verschwimmen, wenn die Realität die Fiktion nahezu undurchschaubar durchwebt etwa im Tatsachenroman, in dem reale Ereignisse auch prosaisch und fiktiv geschildert und ergänzt werden (können) und von denen nicht alle so klar „nicht-fiktional“ zu nennen sind wie etwa Truman Capotes „Kaltblütig“. Ein Buch, das dem Genre „New Journalism“ den Weg bereitete und die Leser vor allem mit einem versorgte: einem Hintergrund für die völlig unbegreifliche Tat zweier Mörder.

Natürlich gilt, wie oben gesagt, die Erfundenheit als wichtiges Merkmal fiktionaler Darstellungen, doch gibt es nicht wenige fiktionale Erzählungen, die auf tatsächlichen Ereignissen beruhen oder solche zumindest behandeln. Darstellungen, die die tatsächlichen Ereignisse unzweideutig faktual benennen, um sie herum aber Welt erfinden. Dies ist eine Grauzone, die in der Literatur zwar nicht selten zu finden ist, in der Literaturtheorie und -wissenschaft allerdings eher umständlich definiert wird und Verlage oft ratlos stimmt: in welche Schublade gehört das Manuskript? Wie soll man es am besten unters Volk bringen? Ja, wie? Was ist das Schlagwort, ohne das in Werbung und Marketing nichts zu gehen scheint?

„Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten)“, notierte Hannah Arendt in ihr Denktagebuch. Und meint damit vielleicht, dass nur in der Fiktion, im Phantasma — wenn Wirklichkeiten und Möglichkeiten miteinander verknüpft werden — Wahrhaftigkeit entstehen kann. 1595 sagte der englische Höfling, Soldat und Schriftsteller Philip Sidney in „An Apology for Poetry: Or: The Defence of Poesy“, dass gute Literatur wahrer sei als die faktuale Beschreibung. Vielleicht braucht es gerade dafür den Diebstahl aus der Realität, um die Fiktion kreieren zu können, die letztlich wahrer ist als die Wirklichkeit. Erst auf dieser Grundlage kann der Geist produzieren. Alles schreibt sich ab von etwas, das schon da war. Auch erzählerische Not kann durch Fakten gewendet werden, was keinesfalls heißt, dass, wer sich auf die Realität bezieht, artig nacherzählt, welche Probleme die Realität aufwirft.

Die Frage ist, ob eine Autorin oder ein Autor überhaupt jemals an den Geschehnissen ihrer und seiner Zeit vorbeischreiben konnte oder kann. Ob die Sprache — ganz ohne Zutun und bei allem redlichen Bemühen um das Gegenteil — nicht doch stets gefärbt ist vom Wissen um die Wirklichkeit So, wie Voltaire, als er von dem Erdbeben erfuhr, das 1755 Lissabon zerstörte, über die Gleichzeitigkeit der Ereignisse schrieb: „Lissabon liegt in Trümmern, aber hier in Paris tanzen wir.“ Wer einen solchen Satz notiert, davon darf man ausgehen, ist sich nicht nur seiner schriftstellerischen Verantwortung gegenüber der Literatur bewusst, sondern auch seiner Verantwortung gegenüber der Verfasstheit der Welt, die er in Fiktion zu fassen und neu zu erfinden versucht. Er nimmt wahr, was passiert; und was er wahrgenommen — was er gefühlt hat —, ist nicht auszulöschen. Es wird sich niederschlagen in allem, was er fortan schreibt, und es wird im Idealfall zum Begreifen der Geschehnisse beitragen. „Literatur ist Wissen“, sagte Susan Sontag in ihrer Dankesrede, „Wissen — wie beschränkt auch immer, wie alles Wissen. Doch ist sie nach wie vor einer der wichtigsten Wege, die Welt zu verstehen. (…) Der Schriftsteller reduziert die Fülle und Gleichzeitigkeit aller Dinge auf etwas Lineares, auf einen Pfad.“

Kassiber aus den Nischen des Alltags – Über Sorgearbeit vs. künstlerische Arbeit

von Jasper Nicolaisen

 

„A room of one´s own“ – Ein Zimmer ganz für sich, so lautet eine alte, aber leider keineswegs überkommene Forderung feministischer Künstler*innen. Virginia Wolf brachte in ihrem Essay von 1929 die Notwendigkeit auf den Punkt, dass Frauen für ihre Arbeit als Künstlerinnen – hier: Autorinnen – eben auch die grundsätzlichen Bedingungen ungehinderter, ungestörter Betätigung brauchen, wie sie Männer damals wie heute für selbstverständlich nehmen. Dieses „eigene Zimmer“ steht natürlich auch stellvertretend für den „Freiraum“, den ein solcher physischer Rückzugsort erst ermöglicht. Muße, Stille, Sich-Versenken-Können, Eintauchen in den Flow, Gelegenheit zur Detailarbeit, zum Verbessern, Überarbeiten, eben Raum, Zeit und Gelegenheit etwas zu tun, das keinem unmittelbaren Zweck dient.

Ein solcher Platz, eine solche Tätigkeit gerät zwangsläufig in Konflikt mit den Erwartungen, die damals und allzu oft auch noch heute an Frauen gerichtet werden, nämlich die scheinbar zweckfreie Tätigkeit, die künstlerische Arbeit doch bitte abseits der täglichen Pflichten zu verrichten. Wenn alles erledigt ist, dann bitte gerne, schreibt, ihr Frauen, so viel ihr wollt, es kann ja auch was Schönes dabei rauskommen, und ein nettes Hobby hat noch keiner geschadet. Nur die Wohnung muss geputzt sein, der Einkauf gemacht, die Kinder versorgt und möglichst schon im Bett – und wenn eines aufwacht, dann bitte das Geschreibe unterbrechen, der Gatte muss sich ausruhen. Wer schon einmal hauptsächlich für die Sorgearbeit – so unser zeitgenössischer Begriff – verantwortlich war, weiß nur allzu gut: es hört nie auf, der Haushalt ist nie fertig und irgendein Kind wacht garantiert immer genau dann auf, wenn eine den Computer hochgefahren und die ersten Sätze getippt hat, wenn du denn vor lauter Müdigkeit überhaupt dazu kommst.

In meinem Fall zum Beispiel – und ich bin nicht mal eine Frau, sondern ein verpartnerter Mann, der zurzeit keiner Erwerbsarbeit nachgeht, sondern „nur“ einer freiberuflichen Tätigkeit, also noch relativ gut dran, im Vergleich mit den meisten Frauen zu Woolfs Zeit und auch heute noch – in meinem Fall tippe ich jetzt um kurz nach halb neun (abends) am Küchentisch, und mein Mann kommt rein und meckert, ich solle doch nicht immer seine Schlafhose waschen, die fehle ihm dann zur Nacht. Immerhin bringt er das größere Kind ins Bett. So kann ich schreiben, aber gleich, gegen neun, ruft jemand an, wegen meiner freiberuflichen Tätigkeit. Also tippe ich sehr schnell und achte erstmal wenig auf Schreibfehler. Meine Beiträge sind ohnehin immer legendär voll mit Schreibfehlern und Flüchtigkeitskommas. Ich habe oft keine Zeit, alles noch mal durchzulesen oder eine Nacht drüber zu schlafen.

Trotzdem schreibe ich – und nicht nur als Hobby. Für Geld, weil mir was wichtig ist, um mich auszudrücken, um an Diskussionen teilzunehmen, Zeitgenosse zu sein, um eine wichtige Seite meiner selbst zu erleben, aus Eitelkeit, for fun. Gut, dass das klappt.

Natürlich könnte ich viel mehr darum kämpfen, abends wirklich frei zu haben. Vielleicht sogar ganze Nachmittage. Tage! Wochenenden! Warum ich das nicht genug tue, also, das ist Stoff für eine Psychoanalyse oder wenigstens für einen viel längeren – ich traue mich gar nicht zu sagen – Essay, als ich ihn heute zwischen halb neun und neun schaffe. Kindheit, Konfliktverhalten, Selbstbild, man kennt es.

Natürlich könnte ich auch das, was mir im Leben am Wichtigsten ist, Schreiben, tatsächlich an erste Stelle stellen. Ich könnte mich scheiden lassen, die Kinder verlassen oder nur noch im Wechselmodell betreuen.

Tatsächlich liegt mir aber was an der Familie, auch wenn sie mich oft nervt. Das ist ja gerade die Falle, wie sie auch viele Frauen kennen. Die Sorgearbeit nervt, aber die Menschen, denen sie gilt, sind einem wichtig. Nicht immer sind diese Verhältnisse ausbeuterisch, voll Zwang, ein Gefängnis. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass mich die Familie auch als Autor weiterbringt. Sie verschafft mir Stoff, Stimmen, Dialoge, Figuren, die ich oft ziemlich eins zu eins weiterverwurste. Sie ist Hallraum, gibt mir Feedback, kritisiert und ermuntert mich. Sie gibt mir Sicherheit und schafft, bei aller Belastung, ein angstfreies Klima zum Schreiben. Was nützt mir alle Zeit der Welt, wenn ich von Ängsten und Neurosen geplagt am Schreibtisch sitze?

Ich kenne zu viele Kolleg:innen, die außer Schreiben nichts haben. Und die meisten Autor:innen rücken ja niemals in die finanziell und statusmäßig gut versorgten Ränge vor. Sie hangeln sich von Buch zu Buch, von Kleinverlag zu Kleinverlag, müssen immer wieder um Aufträge, Chancen und Wahrnehmung kämpfen. Das zehrt, wenn man irgendwann begreift, dass der Durchbruch nicht mehr kommt, dass man ewig ein:e Autor:in des Mittelfeldes bleiben wird. Wenn dann an das eigene Zimmer kein anderes anschließt, wird es schnell einsam, krank, von Süchten und Ängsten geplagt.

Manchmal habe ich sogar den Eindruck, die Familie, das Hickhack um die Sorgearbeit macht mich als Autor besser. Erstens habe ich weniger Ausreden. Ich kann es mir nicht leisten, auf Inspiration zu warten. Wenn Zeit ist, wird geschrieben. Ich schreibe prinzipiell anders als jemand, der alle Zeit der Welt zu haben glaubt. Ich blicke nicht zurück. Ich verliere mich nicht in Revisionen. Ich weiß: Texte entstehen in einer gegebenen Zeit. Sie müssen nicht perfekt sein, weil ich es mir nicht leisten kann, perfekte Texte abzuliefern. Sie dienen ihrem Zweck und fassen eine Kette von Gedanken, Gefühlen, Bildern so gut, wie ich es hier und heute abend (mir bleiben noch zehn Minuten bis neun) vermag. Wenn es nicht hinhaut, muss es der nächste Text richten. Ich erkenne auch immer wieder: weder die Leute, die mich drucken, noch die Leser:innen erwarten perfekte Texte. Gute Texte, engagierte Texte, Texte, die überhaupt da sind und fertig geworden sind, das ist mehr als genug.

So lange, bis die Zeit um ist, schreibe ich also. Zweitens muss ich mich immer wieder aufs Neue entscheiden, wie wichtig ich mich nehme, welche Rolle das Schreiben in meinem Leben einnehmen soll. Ich muss sagen: jetzt nicht. Heute Abend setze ich mich hin. Lasst mich in Ruhe. Das macht manchmal Verhandlungen nötig. Ohne Witz, ich kann bessere Figuren schreiben und ihre Konflikte schildern, weil es auch in meinem Leben nicht nur um mich geht.

Die Forderung nach dem eigenen Raum bleibt bestehen. Nicht nur, weil es vielen, vielen Frauen noch viel schwerer gemacht wird als mehr – von den vielen Vorteilen, die ich genieße, war hier noch kaum die Rede, angefangen von der warmen Küche und dem selbstverständlich funktionierenden Laptop (es wäre sonst auch noch ein zweiter und ein Handy da), bis zum nicht betrunkenen und gewalttätigen Ehemann. Auch für alle, die es so verhältnismäßig gut haben, wie ich, aus Solidarität und weil es ohne ein bisschen Ruhe eben doch nicht geht. Ich möchte (von 20:53 Uhr bis 21:01 Uhr) aber noch anmerken, dass ich die ergänzende Forderung nach der Möglichkeit, trotzdem und gleichzeitig in Beziehung zu sein, für ebenso wichtig halte.

Das Schreiben in absoluter Ruhe und Freiheit, die völlige Autonomie, das strahlende, eisige Genietum, das nur abseits der Welt gedeihen kann, ist auch ein fürchterliches Männerding. Allzu schnell wird daraus die Ausrede: ich kann jetzt nicht schreiben, ihr lasst mich ja nicht in Ruhe, ich kann mein großes Werk nicht vollenden, wenn ich mich allzu sehr auf dich einlasse, verstehe bitte, dass ich dich nicht unterstützen kann, ich bin ein wichtiger Künstler. Alles steckt darin, wenn der eigene Raum auf patriarchale Typen trifft, die maßlose Selbstüberschätzung der eigenen Kunst, die beschissene Ausrede für jedes schlechte Benehmen, weil man sich´s als Genie schuldig ist, und die ins ewige verlängerte Kindheit mit den Jungs beim Saufen und Frauenbelästigen, weil so eben das echte Künstlerleben ausschaut und man ja Inspiration braucht.

Autor:innen, die das eigene Werk etwas tiefer hängen (ohne es aufzugeben), die in Beziehung(en) sind – das muss keine klassische Familie sein, nicht hetero- oder homosexuell –, die gestresst und in Beschlag genommen sind, schreiben formal und inhaltlich anders, und ich behaupte: vielleicht nicht im absoluten Sinn besser, aber doch anders, als wir es so sattsam von den genialen Männern kennen, die außer der Großkunst nichts gebacken gekriegt haben.

Ich war gezwungen – von mir selbst gezwungen – einen kleinen Roman auf dem Handy zu schreiben, während mein zweites Kind im Tragebeutel vor meiner Brust hing, sonst war keine Zeit da. Dieses Buch ist notgedrungen kürzer, gedrängter, fetzenhafter, sicherlich unperfekter nach manchen Maßstäben, weniger geschliffen, mit weniger ausgefeilten inneren Bezügen versehen, als welche, die ich unter anderen Bedingungen geschrieben habe.

Punkt Neun. Schnell jetzt.

Aber es ist auch lebendiger, es geht neue Wege, es überrascht mich. Es ist vor allem inhaltlich und formal Ausdruck seiner Entstehungsbedingungen. So, wie wir erst heute lernen, Briefe, Tagebücher, Notizen und andere Literaturformen von Frauen neben die als  „groß“ angesehenen Romane und Stücke von Männern zu stellen, gerade weil sie nicht so sind und den dort implizit aufgestellten Ansprüchen, neun Uhr zwo, nicht genügen, uns andere Einblicke, andere Welten, okay, das Telefon klingelt, ihr wisst, was ich meine, es muss beides sein. Vielleicht sprechen solche Bücher mehr zu Leuten, die unter ähnlichen Bedingungen leben.

P.S. am nächsten Tag, kleineres Kind schläft, größeres ist in der Schule, Elterntermin aber mal wieder verpasst, peinlich: Ich sehe die Nachteile eigentlich wieder mehr. Vor allem mein Selbstbild: das Schreiben in den Nischen des Alltags lässt mich das eigene, na ja, Werk seltsam gering schätzen, ich erzähle oft nicht davon und stapele eigentlich immer sehr tief. Mir fällt es schwer, mich als „Autor“ zu bezeichnen und ich lade ungern alle meine Online-Kontakte zur Winzlesung in der Kirche von Sackdoden oder so ein als wär´s die Nobelpreisverleihung. Twitter-Diskussionen über „Autorendinge“ scrolle ich schnell weiter: ich habe da nichts verloren, ich „revise“ nicht und habe keine „beats“ und wo soll ich bitte die „draft readers“ hernehmen, die mir sagen, wie die dritte und vierte Manuskriptfassung aussehen soll, also ehrlich.

 

Photo by Ryan Wallace

When The Party’s Over – Warhols Kinder und das Ende von Manhattans Nachtleben

von Isabella Caldart

New York: Stadt der Tristesse? Erst vor einigen Tagen konnte man in der ZEIT lesen, die Corona-Pandemie habe New York in die achtziger Jahre zurückversetzt. Aus der „glitzernden Weltmetropole” sei wieder eine „eine entleerte, unterkühlte, vermüllte, gefährliche Kulisse” geworden. Aber was heißt das? Wie war New York in den Achtzigern? Eine Ahnung von dieser ambivalenten Stadt liefert die Geschichte der Club Kids, die damals das Manhattaner Nachtleben revolutionierten – bis Mitte der neunziger Jahre ein Mord die Szene beendete. Wie konnte es so weit kommen? Eine Geschichte von Drag, Drogen und Drano. In den Nebenrollen: Siri Hustvedt, RuPaul und Rudy Giuliani.

Tale of a Young Man

In den Achtzigern ist Manhattan weltweit als Brutstätte der Kriminalität verschrien. Das bankrotte New York hat sich nicht von dem großen Blackout im Jahr 1977 erholt, bei dem die gesamte Stadt lahmgelegt wurde, was nicht nur zu Plünderungen und Vandalismus führte, sondern auch dazu, dass viele Eigentümer ihre Häuser niederbrannten, um Geld von der Versicherung zu kassieren. Einige Viertel liegen auch Jahre später noch teilweise in Schutt und Asche, die Verbrechensrate ist hoch (1990 sollte mit 2.245 Morden der Höhepunkt erreicht sein), der Drogenkonsum ebenso. In Manhattan gelten vor allem der Time Square und das East Village als No-Go-Areas.

Downtown lebt

Doch gerade das East Village ist Magnet für Artists und Outsider. Mitten in das Chaos und den Dreck dieser Straßen zieht im Spätsommer 1984 ein hochgewachsener, schlanker 18-Jähriger mit straßenköterblondem Haar. Wie so viele andere, die aus Ohio, Iowa oder Wyoming nach New York kommen, so ist auch er als schwuler Junge seiner Heimatstadt South Bend, Indiana, entflohen, um in der Hauptstadt der Misfits endlich dazuzugehören. Michael Alig, so sein Name, hat aber mehr als nur dieses Ziel: Er will König des Nachtlebens von Manhattan werden.

Downtown Manhattan wird zu der Zeit bevölkert von Künstler*innen wie Jean-Michel Basquiat, Keith Haring, Andy Warhol oder Madonna. Die großen Zeiten der Factory und des Studio 54 aber sind vorbei. Als Warhol im Februar 1987 stirbt, beschreit der bekannte Underground-Journalist Michael Musto in der Village Voice den „Death of Downtown“. Michael Alig aber, der sich inzwischen einen Namen gemacht hat, nutzt die entstandene Lücke aus; und mit ihm zusammen andere, oft minderjährige Partygänger*innen (1984 war das Mindestalter für Alkoholkonsum auf 21 Jahre festgelegt worden), die sich unter anderem Jenny Talia, Richie Rich, DJ Keoki, Freeze oder Gitsie nannten, außerdem RuPaul, James St. James, Amanda Lepore und Walt Cassidy – die sogenannten Club Kids.

Bei dem Stoff, den die Club Kids hergeben – queere Subkultur, New Yorker Nachtleben, Hedonismus und Exzess – wundert es wenig, dass nicht nur bis heute zahlreiche Artikel und Dokumentationen über diese Szene veröffentlicht werden, sondern dass sie auch literarisch verarbeitet wurde. Jarett Kobek beispielsweise lässt seinen Protagonisten Baby in dem kaum beachteten Roman Unsere wunderbar kurze Zukunft (2018), das Prequel zu dem sehr erfolgreichen Ich hasse dieses Internet (2016), mehrfach auf Michael Alig treffen; Baby empfindet Abneigung für ihn, kann sich einer gewissen Faszination aber nicht erwehren. Er wird zum teilnehmenden Beobachter des Nachtlebens: „[Andy Warhols] Tod hinterließ ein Vakuum, und dann kam dieses bösartige Geschöpf Michael Alig, das verzweifelt und sabbernd zu Licht und Glamour drängte.“

Queere Szene

Aus dem Jahr 2020 betrachtet, könnte man die Club Kids als Influencer*innen oder It-People bezeichnen, die berühmt sind, weil sie berühmt sind. Sie fallen primär durch ihre extravaganten, genderfluiden, aber auch ironischen Outfits auf – ein Look, der sich irgendwo zwischen Culture Club, Slipknot und Ronald McDonald befindet und der 20 Jahre später von Lady Gaga perfektioniert wird. James St. James, eins der bekanntesten Club Kids und ein Freund von Michael Alig, veröffentlichte 1999 sein Memoir Disco Bloodbath, das einige Jahre später unter dem Titel Party Monster mit Macaulay Culkin als Michael Alig, Seth Green als James St. James und Chloë Sevigny (selbst Club Kid späterer Generation) und Marilyn Manson in den Nebenrollen verfilmt wurde. „Yes, the looks were pretty lame in the beginning – just cheap homemade costumes”, beschreibt James St. James die Evolution des Stils – mit merkwürdiger Distanz, war er doch selbst Teil der Szene.

Their sense of style got better as the years went on, but you could always spot a club kid in the wild if there was something glued to his or her face: sequins? feathers? lug-nuts? a Virginia ham? Yup. That’s a club kid.

Während sich zeitgleich Uptown in Harlem die Ballroom-Szene von queeren Schwarzen als emanzipatorische Bewegung – mit nicht minder flamboyanten, dafür aber glamourösen statt witzigen Styles – entwickelt, fehlt den weißen Club Kids das politische Element. Allerdings: In einer Zeit, in der die Angst vor HIV auf dem Höhepunkt ist und von der cishet Gesellschaft nach wie vor als „Schwulenkrankheit“ angesehen wird, bringen die Club Kids Drag und offen gelebte, oft auch performative Homo- und Bisexualität in die Clubs Manhattans und später über zahlreiche Talkshowauftritte in die Wohnzimmer des ganzen Landes.

Innerhalb weniger Jahre erreicht der charismatische Michael Alig (dessen Mutter Elke übrigens aus Bremerhaven stammt) sein Ziel. Er und seine Club Kids repräsentieren Underground und Subkultur, sind aber trotzdem im Mainstream angekommen. Ob in den legendären Clubs Tunnel, Club USA oder dem Palladium, überall wird nach seiner Anwesenheit verlangt, später soll er dem schlecht laufenden Limelight mit einer Partyreihe neues Leben einhauchen. Nichts ist ihm zu wild, zu abgefahren, um zu schockieren. Aber auch fern der Discotheken beweist Michael Alig, dass er die Massen anzieht. In Zeiten vor Handys und dem Internet gelingt es ihm regelmäßig, flashmobartige Partys zu veranstalten und innerhalb von ein, zwei Stunden Hunderte Feiernde zu mobilisieren, mit denen er Subway-Wägen oder etwa den McDonald‘s am Times Square stürmt. Diese Momente sind oft gut dokumentiert. Jarett Kobek beschreibt sie in seinem Roman mit Sarkasmus:

Michael Alig kam mit Kartons voller Essen die Treppe herauf. Alle kreischten. Michael! Michael! Michael! Er stieg auf den Tisch einer Nische und warf der Menge das Essen zu, wie ein Antichrist, der vergiftete Brotlaibe verteilte. Die Leute schubsten und warfen sich übereinander, um nur ja Cheeseburger und Big Macs und Pommes in die Hände zu bekommen.

Von Ende der Achtziger bis Mitte der Neunziger hält diese Ära an, zeigt aber in den letzten Jahren starke Verfallserscheinungen – bevor sie im März 1996 abrupt endet. Insbesondere Michael Alig, der von vielen seiner Zeitgenoss*innen als hoch narzisstisch sowie als Soziopath beschrieben wird, rutscht immer tiefer in die Drogenabhängigkeit ab.

Michael, der Mörder

Was genau am 17. März 1996 passiert, widerspricht sich in den Details. Grob ist der Verlauf aber bekannt. Der 24-jährige Andre „Angel“ Melendez, einer von Michael Aligs Dealern, besucht ihn in seiner Wohnung in Hell’s Kitchen, weil Michael ihm Geld schuldet. Während eines Streits zwischen den beiden kommt es zum Handgemenge. Robert Riggs, genannt Freeze, eilt seinem Freund Michael zur Hilfe und schlägt Angel dreimal mit einem Hammer auf den Kopf. Mutmaßlich stecken sie Angel dann ein Sweatshirt in den Mund und verfrachten ihn in die Badewanne. Ob Angel Melendez zu diesem Zeitpunkt noch lebt oder nicht, ist ungeklärt. Ebenso die Frage, ob Michael und Riggs dem bewusstlosen Angel Drano, einen Abflussreiniger, in den Mund kippen, oder ob sie die Verwesung der Leiche mit Eiswürfeln und Drano bremsen oder den Geruch überdecken wollten.

Fest steht: Michael Alig und Riggs stehlen Drogen, Geld und Klamotten von Angel, lassen den Körper in der Badewanne zurück und gehen feiern. Rund eine Woche lang liegt die Leiche unentdeckt im Badezimmer, während Riggs und Alig in den anderen Räumen ihres Apartments sogar noch eine Party schmeißen. Als der Gestank zu stark wird, kauft Riggs ein großes Küchenmesser bei Macy’s, mit dem Alig die Arme und Beine von Angel absägt. Die Körperteile versenken sie im Hudson River.

In den nächsten Monaten wird Michael Alig zahlreichen Personen erzählen, er habe Angel ermordet. Die einen glauben ihm nicht, halten das für einen makaberen Scherz oder PR-Gag, die anderen haben Angst, bei Michael in Missgunst zu fallen und aus dem erlesenen Kreis der Club Kids verstoßen zu werden. Es ist ein offenes Geheimnis in Downtown, das Michael Alig Angel umgebracht hat. Den meisten ist klar, was das bedeutet: Michaels unaufhaltsame Abwärtsspirale hat ihr Ende erreicht – und mit ihm die gesamte Szene, sobald dieser Mord ans Licht kommt. James St. James hält in seinem Memoir fest: „Michael had finally gone too far […] he destroyed […] everything he had worked so hard to create.” Dass ein Mensch ermordet wurde, spielt für ihn wie für viele andere, die nach Angels Tod wenig freundliche Worte für ihn finden, kaum eine Rolle. Die Polizei unterdessen interessiert sich ebenfalls nicht für Angel Melendez‘ Verschwinden. Latino, schwul, Dealer? Keine Priorität für Ermittlungen der NYPD. Erst als Michael Musto Gerüchte in der Village Voice veröffentlicht und Angels Torso in Staten Island angespült wird, hat der Mord Konsequenzen für Alig, der im Dezember 1996 schließlich festgenommen wird.

Was bei den Aussagen von Zeug*innen und den Beschreibungen dieser Szenen in fast allen Artikeln, Büchern und Dokus fehlt oder höchstens am Rande erwähnt wird: Am Tatort, an dem Robert „Freeze“ Riggs und Michael Alig Angel Melendez ermorden, ist noch eine weitere Person anwesend – der Sohn von Paul Auster.

Die vierte Person am Tatort

On a Sunday in March of 1996 I was at home in my bedroom with a friend”, zitiert James St. James in Disco Bloodbath das Geständnis von Riggs und fügt in Klammern hinzu: „This is Freeze’s only mention of Daniel.” Daniel ist Paul Austers Sohn aus erster Ehe mit der Schriftstellerin Lydia Davis, mit der er von 1974 bis 1977 verheiratet war. Noch heute äußern sich weder Paul Auster noch seine zweite Ehefrau Siri Hustvedt oder deren Tochter Sophie Auster öffentlich über Daniel. Es gibt auch nur wenige Artikel, die ihn in Verbindung mit dem Mord an Angel bringen. Jarett Kobek fasst dies in Unsere wunderbar kurze Zukunft trocken zusammen:

Paul Austers Sohn wird sich schuldig bekennen, 3000 Dollar von Angels Geld gestohlen zu haben. Morganthau wird Paul Austers Sohn nicht in den Zeugenstand rufen, um gegen Michael Alig oder Freeze auszusagen, weil er Junkies für unzuverlässige Zeugen hält. 2003 wird Siri Hustvedt, die Stiefmutter von Paul Austers Sohn, einen unverblümt autobiographischen Roman mit dem Titel Was ich liebte schreiben, der Angels Mord streift. Hustvedt fiktionales Gegenstück wird spekulieren, dass das fiktionale Gegenstück von Paul Austers Sohn über den Mord nie die Wahrheit gesagt hat. Vier Männer befinden sich am 16. [sic] März in Michael Aligs Wohnung. Dem ärmsten von ihnen wird dreimal mit einem Hammer auf den Schädel geschlagen. Derjenige mit den besten Beziehungen bekommt fünf Jahre auf Bewährung. So funktioniert die Welt.

In Zeitungsartikeln muss man gezielt nach Daniel Auster suchen, um mehr über dessen Anwesenheit am Tatort zu erfahren. Siri Hustvedt unterdessen – bei der kein Geheimnis ist, dass ihre wie auch Paul Austers Bücher stark autobiografisch geprägt sind – beschäftigt sich in dem erwähnten Roman Was ich liebte (2003), ihrem bis heute bekanntesten Werk, mit Michael Alig, in ihrer fiktionalisierten Version Teddy Giles genannt. Der Roman erzählt über mehrere Jahrzehnte hinweg das Leben zweier avantgardistischer Paare, die jeweils einen Sohn haben, von denen sich einer der beiden, Mark, mit dem Performance-Künstler Teddy Giles einlässt, und immer wieder seine Eltern und Zieheltern belügt, bestiehlt und hintergeht. Marks Stiefmutter Violet, Hustvedts Alter Ego (wie die Schriftstellerin selbst stammt Violet aus Minnesota und hat norwegische Vorfahren) sagt an einer Stelle über den unberechenbaren Mark: „Ich habe Angst vor ihm.“ Ihre Gefühle zu Mark sind auch eine Schlüsselszene des Romans, in der der Titel erwähnt wird:

Ich bin selbstsüchtig, Leo, und ich habe etwas Kaltes und Hartes in mir. Ich bin voller Hass. Ich hasse Mark. Dabei habe ich ihn geliebt. Natürlich nicht von Anfang an, aber ich habe langsam gelernt, ihn zu lieben und später dann zu hassen, und ich frage mich, ob ich ihn auch hassen würde, wenn ich ihn geboren hätte, wenn er mein eigener Sohn wäre? Aber die wirklich schreckliche Frage ist: Was war es, was ich liebte?

Während Siri Hustvedts Figuren mit Marks Verhalten zu kämpfen haben, dem sie unterschiedlich begegnen, ist Teddy Giles eindeutig als gefühllos, narzisstisch und undurchschaubar dargestellt. Im Verlaufe des Romans wird deutlich, dass er einen Jungen ermordet, seine Leiche zerstückelt und im Fluss versenkt hat – genau wie Michael Alig. Die Frage, inwieweit die Figur Mark in diesen Mord involviert war, bleibt in der Fiktion des Romans ebenso offen wie die Frage, was genau Daniel Auster in der Realität am Tatort gemacht hat.

Auch wenn Hustvedt zu ihrem Stiefsohn schweigt, so sagte sie mit Blick auf ihr Gesamtwerk in einem Interview mit dem Guardian im Jahr 2010 einen bemerkenswerten Satz: „The only monster I’ve ever really made is Teddy Giles.“

Das Ende der Party

„And now: the party was over.” Kein Satz in James St. James‘ überdrehtem, teils selbstironischen, teils sehr kokettierenden Memoir hat mehr Wahrheitsgehalt. Die Party ist vorbei. Gut zwei Jahre vor dem Mord, im Januar 1994, wird der Republikaner Rudy Giuliani, heute einer von Trumps größten Unterstützern, Bürgermeister von New York City. Der Kriminalität begegnet er mit Law-and-Order-Politik, außerdem forciert er mit seiner „Quality of Life Campaign“ eine künstliche Gentrifizierung, indem er unter anderem die Stadt von Graffiti reinigen und viele Straßenstände sowie windschiefe Kiosks verbieten lässt, die sogenannte Disneyfizierung des Times Square vorantreibt und auch sonst alles tut, um New York das Gesicht zu verpassen, das es heute hat: das einer “glitzernden Weltmetropole”.

Das New Yorker Nachtleben ist dem neoliberalen Saubermann Giuliani schon lange ein Dorn im Auge – und der Mord an Angel Melendez der gefundene Grund, um endlich reinen Tisch zu machen. Giuliani lässt zahlreiche Razzien durchführen, bis ein Club nach dem anderen schließt. Die Zeit des subkulturellen Hedonismus ist vorbei, die der Lounges mit überteuerten Getränken angebrochen. Wie Underground-Journalist und Club-Kids-Chronist Michael Musto dies – an seinen Frenemy Michael Alig adressiert – ausdrückt:

You not only killed Angel, you basically murdered nightlife because, as Mayor Giuliani kept looking for ways to crack down on clubs so they became safe for tourists and community boards, you gave him every reason to put further restraints and make going out an exercise in constantly looking back to see who’s watching your every move. In fact, you made it very uncool to go out at all, especially dressed with any flamboyance, because the association was with a hateful, grisly act of violence that was substance-fueled and totally demented. It was years until people were able to dress up and laugh again, and if you find the nightlife still a little too restrained when you reenter it, you mainly have yourself to blame! (Übersetzung unten)

Die Szene der Club Kids hat einige bekannte Gesichter hervorgebracht, vor allem RuPaul (den James St. James in seinem Buch noch als „Mauerblümchen“ bezeichnet) und Chloë Sevigny haben es geschafft, aber auch Künstler Walt „WaltPaper“ Cassidy, der erst vergangenes Jahr das Buch New York: Club Kids veröffentlichte, Drag-Diva Amanda Lepore und natürlich James St. James selbst, der heute manchmal bei RuPaul’s Drag Race zu sehen ist, haben aus ihrer damaligen Bekanntheit langfristigen Gewinn gezogen. Robert „Freeze“ Riggs kam 2010 aus dem Gefängnis und holte ein Soziologiestudium an der NYU nach.

Und Michael? Michael Alig wurde 2014 nach 17 Jahren Haft ebenfalls entlassen. In den Wochen und Monaten danach gab er viele Interviews (und noch immer hat er eine kleine Fanbase, darunter viele junge Menschen, die zu Club-Kids-Zeiten teils nicht einmal geboren waren), promotete ein paar Partys und nahm mit Ex-Freund und Ex-Club-Kid DJ Keoki ein furchtbares Lied auf. Seitdem ist es recht ruhig geworden um ihn. Hin und wieder, wenn er offensichtlich Geldmangel hat, verkauft er alte Flyer über seinen Twitter-Account. Aber sonst kräht kein Hahn mehr nach ihm.

Übersetzung Zitat:
Du hast nicht nur Angel gekillt, sondern mit im Grunde auch das Nachtleben, denn Bürgermeister Giuliani, der nach Wegen suchte, gegen Clubs vorzugehen, um sie für Touris und Gemeinderäte safe zu machen, hast du alle Gründe geliefert, um mehr Beschränkungen durchzusetzen und aus dem Ausgehen eine Aufgabe zu machen, bei der man sich die ganze Zeit umdrehen muss, um zu checken, wer jeden deiner Schritte beobachtet. Tatsache ist, wegen dir ist Feiern jetzt uncool, vor allem, wenn man sich flamboyant kleidet, weil das jetzt mit deiner drogeninduzierten, völlig bescheuerten, hassvollen und widerwärtigen Gewalttat assoziiert wird. Es hat Jahre gedauert, bis sich die Leute wieder aufbrezelen und lachen konnten. Und wenn dir das Nachtleben, sobald du zurückkommst, zu verklemmt erscheint, trägst du die Hauptschuld daran!

Titelbild von Isabella Caldart

[Atelier NRW] Ein Mantel aus Papier – Nachwort zu einem unvollendeten Roman (Auszug)

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch
Nabelschau von Yannic Han Biao Federer
Ans Ende schreiben von Gunther Geltinger
Leben, um zu schreiben – schreiben, um (davon) zu leben? von Juliana Kálnay

 

Von Albert Weiden

Im Herbst 2017 erschien in der Zeitschrift Lettre International ein Text mit dem Titel “Bastian Schneider”. Darin behauptet ein Mann selben Namens Folgendes: „Originalität kann ich nirgendwo entdecken. Und was ich da sage, leitet sich nicht nur aus meinem Amt als intertextueller Assistent ab, sondern auch von meinem ewigen Eindruck, daß alles die Kopie von etwas ist, das seinerseits die Kopie einer anderen Kopie war. Ich selbst bin nur der Abklatsch anderer, die vor mir bereits ebensolches mutmaßten. Machen wir uns also nichts vor. Hier ist alles falsch. Dessen eingedenk, habe ich eines Tages beschlossen, Nägel mit Köpfen zu machen und, wenn ich schon nicht auch nur im Traum daran denken kann, nach Originalität zu streben, mich zumindest einer extremen Haltung zuzuwenden. Seither habe ich die Neigung, möglichst radikal unoriginell zu sein.“

 

Der Text besteht aus insgesamt 48 solcher kurzen Absätze, in denen alle möglichen Berühmtheiten herbeizitiert werden, um diese These zu untermauern. Verfasst hat ihn der berühmte katalanische Autor Enrique Vila-Matas. Die Tageszeitung La Vanguardia mutmaßte in einer Rezension, wer dieser Bastian Schneider denn nun eigentlich sei – tatsächlich eine Erfindung von Vila-Matas, ein Gespenst oder der deutsche Schriftsteller Bastian Schneider, Autor von Vom Winterschlaf der Zugvögel, der Vila-Matas nur nachmache.

Schon in Vila-Matas‘ Roman Kassel: Eine Fiktion von 2014 taucht ein Bastian Schneider auf. Mit „The Last Season of the Avant-Garde“ soll der Künstler bei der documenta 13 vertreten gewesen sein. Bei dem Werk handelt es sich um ein unfertiges Schlachtengemälde. Daran angebracht ist ein hölzernes Schild mit einer sogenannten Priamel, die fälschlicherweise Martinus von Biberach zugeschrieben wird. Von Biberach ist möglicherweise 1498 in Biberach gestorben, wann und ob er überhaupt je geboren wurde, ist nicht bekannt. Der Spruch besagt jedenfalls Folgendes:

                 Ich leb und waiß nit wie lang, / ich stirb und waiß nit wann, / ich far und
weiß nit wohin, / mich wundert daß ich frölich bin.

*

 Als mich der Verlag damit beauftragte, das unvollständige Manuskript von Bastian Schneiders Buch Das Loch in der Innentasche meines Mantels für eine Publikation zusammenzustellen, war mein Freund bereits seit über einem Jahr verschwunden. Ich rede hier von dem echten Bastian Schneider – was auch immer das heißen soll –, von jenem deutschen Schriftsteller also, in dem die spanische Presse einen Plagiator witterte. Eine Spekulation, die wohl nicht ganz unschuldig an seinem Verschwinden ist und ihn nun tatsächlich zu einem Gespenst gemacht hat. Alle Versuche ihn zu finden sind fehlgeschlagen. Selbst die Verleihung des Prix Perec hat bisher nichts dazu beigetragen, ihm auf die Spur zu kommen. Und auch die Polizei gab ihre Bemühungen auf und die Suche wurde endgültig eingestellt.

Der Verlag sieht es nun als sein Recht und seine Pflicht an, wenigstens den Torso des von Schneider im Vorfeld versprochenen Romans der Öffentlichkeit anheim zu stellen, womit man schließlich mich betraut hat, seinen besten Freund und Mentor. Vielleicht erhofft sich der Verlag, ein wenig vom Mythos des jungen Schriftstellers und Dichters zu profitieren. Ich für meinen Teil habe nur deswegen eingewilligt, das Buch nach Möglichkeit zu dem zu machen, was Schneider sich darunter vorgestellt haben mag, weil ich darin die einzige noch verbliebene Chance sehe, er möge – wenn er denn noch lebt – dieses sein Buch in die Hände bekommen und endlich aus seinem Versteck treten.

*

Ich schätze Bastian Schneider als den Verfasser von literarischen Miniaturen, Skizzen und Prosagedichten, mit denen er mit einigem Erfolg die Bühne der Literatur betreten hatte. Er hatte sich die sogenannte kleine Form fleißig erarbeitet und beherrschte sie leidlich. Aber nach drei derartigen Büchern hatte er alle Formen des Kleinen ausgeschöpft. Zeit also für den großen Wurf, den kontroversen Roman zur Lage der Gesellschaft (oder gegen sie), nach dem die Feuilletons und demnach die Verlage fortwährend lechzen. Doch dazu fehlten ihm, ganz offen gesprochen, und ich glaube er wußte das, die Ausdauer, die Disziplin, und schlichtweg auch das Talent (für langatmige Handlungen und Familienaufstellungen mit allerlei durchpsychologisierten sogenannten Charakteren, die sich dann auch noch entwickeln!). Vor allem aber fehlte ihm dazu eines: die Lust. Davon legen sowohl seine vorherigen Bücher Zeugnis ab, allein schon durch ihre Form, als auch die Seiten des hier nun endlich vorliegenden Buches, indem er die bereits begonnene Geschichte, die ja durchaus Potenzial hat, schlichtweg einem anderem zu erzählen überläßt, diesen anderen aber schließlich mit sich ins Verschwinden reißt und am Ende nichts weiter übrig bleibt als ein paar leere Seiten, die zu füllen nun mir obliegt. Und was sind diese leeren Seiten anderes als das Loch in der Innentasche seines Mantels? Mit etwas Phantasie könnte man meinen, er hätte es genau so gewollt – aber soviel Phantasie hatte Bastian Schneider nun auch wieder nicht. Das belegen auch seine drei Bücher, allen voran Die Schrift, in dem sich vordergründig eine Alltagsbeobachtung an die nächste reiht.

Sicher, das war sein poetisches Programm, die „profane Epiphanie“, wie er es, sich auf Kafka, Joyce und Benjamin berufend, gelegentlich nannte. Drunter machte er es nicht. Er wollte ja gerade das erzählen, was zwischen den Zeilen der vermeintlich eigentlichen Geschichte passiert, das was auf dem Weg zu einem konventionellen Roman auf der Strecke bleibt und von den meisten Romanciers achtlos liegen gelassen wird, während sie einer aufregenden Handlung nachjagen oder ein spannendes und aktuelles Thema erörtern. All das interessierte Schneider nicht, jedenfalls nicht in der Literatur. Er wollte ganz einfach nicht über derlei „Gewäsch“ schreiben, wie wir gelesen haben. Und auch wenn die „Vorbereitung zur Vorbereitung des Romans“, wie er es im Tagebuch einmal treffend formuliert, durchaus Züge eines konventionellen Romans hat, so bleibt er sich und seinem Programm treu, wenn er all das nach kürzester Zeit wieder aufgibt und verschwinden läßt inklusive sich selbst.

*

Bei unserem letzten Treffen in Paris machte ich folgendes Foto von Bastian Schneider:

Wir saßen in der Métro auf dem Weg zu den Buttes Chaumont, um auf den Spuren des Pariser Bauern zu wandeln. Er war, wie so oft, gerade dabei etwas zu notieren, wie man in der unteren Bildhälfte erkennen kann. Als ich bemerkte wie der Chinese am Gleis Schneider beim Schreiben beobachtete, mit diesem verwunderten Ausdruck im Gesicht, drückte ich den Auslöser. Möglich, daß der Mann wiederum mein Vorhaben durch- und mich anschaute. Als ich Schneider das Foto einige Wochen später zuschickte, bedankte er sich jedenfalls sehr für dieses „Portrait des Künstlers als verdutzter Chinese“. Das Sich-Wundern über das Alltägliche hat Schneider immer wieder vehement verteidigt gegenüber den Jägern nach dem Besonderen, und vielleicht sah er sich deswegen in dem Foto durchschaut und gespiegelt gleichermaßen.

*

 Der von Bastian Schneider zitierte Roland Barthes meinte zu seinem Buch Über mich selbst: „All dies muß als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird.“ Eine durch ihren inflationären Gebrauch leere Behauptung, und doch immer noch kühn. Schneider hätte sie gewiß für sich und sein Leben reklamiert, wenngleich nicht für seine Texte. Für seine Texte hätte er im Gegenteil behauptet, sie müßten als etwas betrachtet werden, was eben nicht von einer Romanperson gesagt wird. Sein Leben oder das Leben an sich war ihm Roman genug, weswegen er es nicht für nötig erachtete, daraus wiederum einen Roman zu machen, einen Roman zweiter Ordnung sozusagen oder einen Roman des Romans. Dazu hätte es ja nur des Fleißes bedurft, sein Leben – ob erfunden oder erlebt – abzuschreiben, ein paar Namen zu ändern und einen Plot zu stricken, wie es die meisten Schriftsteller tun. Gerade daran lag ihm – bislang – nichts, er wollte das Nicht-Romanhafte ins Recht setzen, erzählt zu werden, den kleinen Splitter Wirklichkeit, den er dann mittels der Sprache bis zur Kenntlichkeit entstellt (oder es wenigstens versuchte). Deswegen hatte Schneider auch eine besondere Vorliebe fürs Groteske, für Kippbilder aller Art, die immer beides liefern, die schöne Oberfläche und den Abgrund dahinter. Beide leben von einander und beide dürfen einander nicht an die Perfektion verraten, sei es an die des Scheins oder an die der Tiefe. Er haßte die Perfektion, und er verabscheute Perfektionisten. Ihre Verbissenheit bis zum Stumpfsinn war ihm fremd. Er hatte auch einfach keine Zeit dafür, das Leben war ihm wichtiger und mußte gelebt werden, als Roman versteht sich. Vielleicht war er einzig darin Perfektionist, sorglos und glücklich zu leben als Figur seines eigenen Lebensromans. Umso verwunderlicher, daß er einfach so verschwunden ist. […]

 *

 Abschließend möchte ich sagen, daß das Rätsel des Lochs in der Innentasche meines Mantels nicht nur von kriminalistischer Art ist, bei dem man sich fragt: Wo steckt Bastian Schneider? Wer ist er oder wer steckt hinter ihm? Und wer hat was getan beziehungsweise wen geschrieben? Der Roman schließt bereits bei der Konzeption ein anderes Rätsel ein, das die Beziehung des Lesers zum Text sowie die Beziehung Schneiders zu seinem eigenen Werk betrifft. Diese faszinierende Komplexität wird in Wirklichkeit noch verstärkt und nicht etwa zerstört durch die Tatsache, daß das Buch nicht abgeschlossen werden konnte. Denn das Geheimnis der Unabgeschlossenheit ist eng verflochten mit dem Projekt des Buches. Die von mir zusammengetragenen Materialien zeigen uns Schneider bei der Arbeit. Beim Lesen dringen wir in die Fabrik des Romanciers ein, und dieser Romancier ist gerade durch seine Unoriginalität wohl einer der originellsten des 21. Jahrhunderts. Zugegeben, hier matrjoschkat es gewaltig – zum Besten des Buches, wie ich meine, und zum Gewinn für die Leser, die über allerlei Umwege in den Genuß von Schneiders mutmaßlich letztem Buch kommen. Somit ist er am Ende in gewisser Weise doch wieder aufgetaucht, und zwar in diesem seinen Mantel aus Papier, den ich die Ehre hatte fertig zu schneidern.

Splitterstücke

von Berit Glanz

[CN Stille Geburt]

Die Bilder erscheinen und ich schaue mit angehaltenem Atem nach den kleinen bewegten Punkten in der schwarz-weißen Flimmerfläche – Herzschläge. Mein Freund drückt mir die Hand, als er die beiden Herzen auf dem überdimensionierten Bildschirm klopfen sieht und ich atme aus. Den Zwillingen geht es gut. Ihre kleinen Herzen schlagen gleichmäßig und es fühlt sich an, als würden sie mir einen Code senden, eine Nachricht, dass das Leben stärker ist als die Angst.

Der Herzschlag ist immer da, bis er eines Tages fort ist. Dann setzt die Ohnmacht binnen weniger Sekunden ein. Ob die Reanimation gelingt, hängt von vielen Faktoren ab. Bei großer Kälte braucht der Körper weniger Sauerstoff, man kann länger ohne Gehirnschäden wieder zurückgeholt werden. Vielleicht muss man im Sommer mehr Angst haben, dass das Herz stehen bleibt.

Das autonome Nervensystem des menschlichen Körpers zeichnet sich dadurch aus, dass man es nicht bemerkt. Der Herzschlag, die Atmung, die Verdauung – unbewusst ablaufende Vorgänge, vom Körper selbst gesteuert. Die Verlässlichkeit dieses Nervensystems habe ich jahrelang nicht hinterfragt. Es war da, wie eine leise gleichmäßige Uhr in meinem Alltag, mal schnell, Sport, Aufregung oder Vorfreude, mal langsam, kurz vor dem Einschlafen. Und nun plötzlich wie ein unregelmäßiger Motor, ein Auto, das stottert, hüpft und stehen bleibt. Todesangst. Sofort. Der Puls rast. Der Kopf wird kalt und heiß gleichzeitig und ein Band aus Metall zieht sich um den Brustkorb fest.

Deswegen hocke ich auf dem Rastplatz, am Rand der halb verdorrten Rasenfläche, und würge Galle. Eine Hummel schwirrt neben der Kotzpfütze um eine Hundeblume. Im Hintergrund rauscht die Autobahn lauter als das Blut in meinen Ohren. Aus meinem Augenwinkel sehe ich einen Lastwagenfahrer in seinem Fahrerhaus sitzen. Er beißt mit leerem Blick in ein belegtes Brötchen. An all dies erinnere ich mich mit sekundengenauer Präzision, weil man im Moment seines Todes die Zeit anders wahrnimmt.

In Filmen wird für solche Moment gerne die Zeitlupe eingesetzt, mit einer kurz darauf folgenden rasch geschnittenen Erinnerungssequenz, wenn das eigene Leben angeblich vor dem inneren Auge abläuft. Ich halte meinen Oberkörper umschlungen und wiege mich hin und her, während mir Erbrochenes, Tränen und Rotze das Gesicht herunterlaufen. Mein Freund schaut sonderbar ruhig, dafür dass ich gerade sterbe. Wahrscheinlich hat er sich mittlerweile an die Panikattacken gewöhnt, daran dass ich das Vertrauen in meinen Herzschlag verliere.

Als die Frauenärztin am Ende des ersten Trimesters eine Kollegin zur Beratung hinzuholt, wissen wir direkt, dass etwas nicht stimmt. Ich fixiere die zwei pulsierenden Punkte und halte mich daran fest, dass meine beiden Kinder noch leben. Unser Sohn entwickelt sich zeitgerecht, doch unsere Tochter bleibt klein und fällt nun Woche für Woche hinter ihren Bruder zurück. Der Grund dafür ist für die Ärztinnen, die uns in den folgenden Monaten betreuen, noch nicht ersichtlich. Es heißt nun abwarten und hoffen und abwarten. 

Besonders beim Thema Schwangerschaft und Kinderwunsch wird unser Bedürfnis nach einer Kontrolle des eigenen Körpers sichtbar. Der Schock ist groß, wenn der Körper sich unserer Steuerung entzieht, seinen eigenen Regeln folgt und die eigene Kreatürlichkeit in einer Welle aus Kontrollverlust alles mitreißt. Wir wollen wissen, testen, planen, Sicherheit verspüren in einem Bereich, der sich diesem Bedürfnis fundamental verweigert. Verliert man die Kontrolle, können die Gefühle einen Strudel bilden, der einen mitreißt, zermalmt und verändert wieder auswirft.

Als ich das erste Mal in meinem Leben auf einen Schwangerschaftstest pinkelte, panisch auf der Universitätstoilette auf das ersehnte Resultat wartete, die sich in die Ewigkeit ausdehnende Zeit mit meinem Handy stoppte, wusste ich noch nicht, dass diese Gefühlskaskade nur ein Vorgeschmack war.

Der aufgeregt beobachtete Schwangerschaftstest, die blauen Striche, die Emotionen, wenn das Resultat sichtbar wird – Freude, Schock, Enttäuschung, Trauer. Diese Bilder werden oft in Film, Fernsehen und Werbung aufgegriffen, sie sind Teil des kulturellen Gedächtnisses. Dabei gibt es den heute bekannten Schwangerschaftstest für Zuhause erst seit den frühen 1980er Jahren. Die Ungewissheit über den Zustand des eigenen Körpers, mehrwöchige Schwebezustände zwischen Angst und Hoffnung, das hilflose Deuten von Symptomen, all das wurde durch bessere Testverfahren verkürzt.

Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts konnte eine Schwangerschaft nachgewiesen werden, indem eine Urinprobe in einen männlichen Afrikanischen Krallenfrosch injiziert wurde, der unter Einfluss des Schwangerschaftshormons hCG binnen weniger Stunden begann Spermien zu produzieren, die sich unter dem Mikroskop nachweisen ließen. In den fortschrittsoptimistischen 50er und 60er Jahren wurde Schwangeren auch das Hormonpräparat Duogynon verordnet. Blieb nach der Einnahme eine Blutung aus,  war die Schwangerschaft nachgewiesen. Erst sehr viel später erkannte man, dass die Einnahme dieser Hormone in der Frühschwangerschaft Fehlbildungen auslösen kann, die Gewissheit einen hohen Preis hatte.

Das Bedürfnis nach genauem Wissen, nach messbarer Kontrolle über den eigenen Körper und damit die eigene Zukunft ist so groß und so menschlich, dass der Urintest zur Feststellung der Schwangerschaft sich seit den den 80er Jahren rasant ausbreitete.

Bei jeder der Ultraschalluntersuchungen, die nun ständig erfolgen, suche ich zuerst die Herzschläge. Am Morgen vor den Untersuchungen ist mir übel, ich bekomme Herzrasen, sobald ich das Krankenhaus sehe und muss mich jedes Mal wieder mit weichen Beinen auf die Liege zwingen, das Zittern unterdrücken, wenn das kühle Ultraschallgel auf meinem Bauch verteilt wird. Ich freue mich über jede Untersuchung bei der meine Kinder lebendig in ihren Fruchtblasen zappeln und weiß doch, dass jede Woche, die vergeht, eine schwierige Entscheidung näher bringt, die uns mit ruhiger Stimme angekündigt wurde: Zu einem späteren Schwangerschaftszeitpunkt könnten wir beide Kinder holen und damit die Überlebenschance für unsere wahrscheinlich kranke Tochter erhöhen. Wir können aber auch die Schwangerschaft weiterlaufen lassen und das bestmögliche Ergebnis für unseren gesunden Sohn anstreben.

Es ist ein unerträglicher Schmerz ein schlagendes Herz auf dem Bildschirm des Ultraschalls zu suchen und nicht zu finden. Das Vertrauen in den eigenen Körper verlieren, die Zuversicht aufgeben, dass eine Schwangerschaft in der Ungerührtheit und Unvermeidlichkeit abläuft, die man sich immer vorgestellt hat. Plötzlich findet man sich in einer schweigenden Gemeinschaft von Trauernden wieder, als hätte man die falsche Tür gewählt und müsse sich nun in einem unwirtlichen Raum neu einrichten. Von erfolgreich verlaufener Schwangerschaft wird viel erzählt, aber Fehlgeburt, Totgeburt oder unerfüllter Kinderwunsch bleiben ein Tabu. Es ist schwer sich mit dem Tod zu befassen, mit dem Ende der Hoffnung, dem Scheitern, dem fehlbaren Körper, der nicht wie ein Uhrwerk seine Funktion erfüllt.

Unsere Tochter ist krank, den genauen Grund können uns die Ärztinnen ohne Fruchtwasserpunktion nicht sagen. Doch mit jeder Untersuchung werden neue Hinweise gefunden, die den Verdacht auf eine schwere Behinderung erhöhen. Wir surfen im Internet, lesen über das Leben mit kranken Kindern und wissen nicht, welche Entscheidung wir treffen sollen, ob wir überhaupt eine Entscheidung fällen können. Sollen wir das Leben unseres gesunden Sohnes höher bewerten als das Leben unserer kranken Tochter? Wie können wir Entscheidungen treffen, mit denen wir (über)leben können?

Mit dem Gefühl dem eigenen Körper nicht vertrauen zu können, kommen die Angstattacken. Wer einmal in der Gruppe der Unwahrscheinlichkeit war, in der Gruppe, für die nicht alles gut geworden ist, in der Gruppe der statistisch vernachlässigbaren Einzelfälle, für den verliert die tröstliche Erzählung vom glücklichen Ende ihre beruhigende Kraft.

Der Körper und seine Reaktionen, die Schweißausbrüche, das Herzklopfen, die Übelkeit fangen an den Alltag zu bestimmen. Das Bewusstsein kreist um mögliche Vorzeichen: Was bedeutet diese Schmierblutung? Warum spannen meine Brüste? Sollte mir Abends schlecht sein?

Wir wachsen auf und lernen unsere Körper zu lesen, finden eine Gewissheit in der spezifischen Sprache unseres ganz individuellen Leibes und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, entziehen sich uns die Zeichen. Verloren stolpern wird durch ein Gewirr aus unentzifferbaren Signalen, finden uns in der Fremde wieder, in der die Dinge keinen Sinn mehr ergeben. Wie kann mein Körper, der jahrelang ein vertrauter und verlässlicher Begleiter war, mich so enttäuschen?

Am Ende der 28. Schwangerschaftswoche findet die Ärztin nur noch einen Herzschlag auf dem Ultraschall. Sie verlässt das Untersuchungszimmer, schließt leise die Tür, um uns Raum zu geben. Ich rolle mich auf die Seite, auf meinem Bauch ist noch der Glibber von der Untersuchung. Wie komisch, dass ich mich genau daran so genau erinnere. Nach ihrer Rückkehr klärt uns die Ärztin darüber auf, dass es nun das Ziel sei, die Schwangerschaft so lange wie möglich fortzusetzen, damit unser Sohn den besten Start ins Leben bekommt. Jede weitere Woche ist ein Geschenk, idealerweise schaffen wir es bis zum errechneten Stichtag. Die normalen letzten Monate einer Schwangerschaft, bloß mit einem toten und einem lebendigen Baby im Bauch.

Der schwangere Bauch ist per se ein Zeichen für Körperlichkeit – traditionell konnten sich Spermium und Eizelle ohne Körperkontakt nicht in der Gebärmutter vereinen, den Bauch anwachsen lassen. Auch wenn sich diese Voraussetzungen durch den medizinischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte verändert haben, ist der sich rundende Bauch immer noch ein Verweis auf die elementare Körpergebundenheit des menschlichen Daseins und damit implizit auch auf den Kreislauf aus Entstehung und Vergänglichkeit, der unser Leben bestimmt.

Die Faszination für den schwangeren Körper als Neuanfang, als Beleg für die schaffende Kraft des menschlichen Körpers, führt dazu, dass die Person der Schwangeren zu oft in den Hintergrund tritt. Mit der sichtbar gewordenen Schwangerschaft wird das Individuum von der Körperlichkeit verdrängt. Vielleicht berichten deswegen so viele Schwangere davon, dass wildfremde Menschen ihren Bauch berühren, sie sich als eigenständige Menschen unsichtbar fühlen.

In einer bestimmten Lebensphase beginnt die Gebärfähigkeit immer mehr ins Zentrum zu rücken. Hast du schon Kinder? Willst du Kinder haben? Wieso hast du keinen Kinderwunsch? Die Fragen sind aufdringlich und intim, ignorieren die vielfältige Komplexität menschlicher Existenz und reduzieren Menschen auf das Funktionieren ihres Uterus.

Auf der einen Seite steht diese Reduktion auf das rein Körperliche und auf der anderen Seite der Versuch dieses Körperliche der menschlichen Kontrolle zu unterwerfen. Schwangerschaften exakt zu planen, das Ungeborene auf alle Eventualitäten zu testen, die unappetitliche Körperlichkeit einzuhegen. Die Schwangerschaft wird als leuchtende Lebensphase inszeniert und dabei die vielen unangenehmen körperlichen Realitäten ausgeblendet, die geschwollenen Füße, die Übelkeit, die Rückenschmerzen. Körper, die sich der Reproduktion verweigern, Krankheit und Tod von Schwangeren und Ungeborenen werden als Möglichkeit tabuisiert. Aus diesem Tabu kann eine große Einsamkeit resultieren.

Mein Sohn strampelt in meinem Bauch. Ich ziehe mich zurück, rede mit meiner toten Tochter und meinem lebendigen Sohn. Ich mag nicht mehr unter Leuten sein, denke, dass alle mich und meine beiden Kinder in meinem Bauch anstarren – das Leben und den Tod. Ich fühle mich wie ein lebendes Paradox und möchte mich nur noch verkriechen. Andere Schwangere hören Mozart, um ihr Kind im Bauch zu prägen, ich habe Angst, was die Trauer mit meinem kleinen Sohn macht, der in meinem Bauch so vielen Gefühlen ausgesetzt ist. Ich fürchte mich vor der Geburt, die der endgültige Abschied von meiner Tochter sein wird.

Manche Schwangere klagen über eine Symphisenlockerung, die entsteht, wenn das Wachstum des Ungeborenen die Beckenknochen so auseinanderdehnt, dass sich die Knorpel lockern. Dadurch fühlt es sich bei jedem Schritt so an, als würde jemand mit der Stricknadel von unten in das Becken stechen. Freude über das entstehende Leben zu empfinden, während jede Bewegung schmerzt. Sich nicht beschweren, dankbar lächeln, Leid kommentarlos ertragen, eine Vorbereitung auf die Geburt und das Wochenbett. Schwangerschaft und Geburt bringen den menschlichen Körper in Grenzgebiete, zwingen zu einer Auseinandersetzung mit unseren fehlbaren Körpern.

In den Monaten nach dem Tod meiner Tochter und der wenige Wochen später erfolgenden Geburt, habe ich oft auf dem Bett gesessen, ihr Zwillingsbruder schon schlafend im Bett neben mir, in seinem beige-braun geringelten Schlafsack, die Faust gegen die Stirn gepresst und die Nacht am Nordatlantik war keine Nacht, sondern Tag. Aus dem Fenster konnte ich das Meer sehen, das ein graueres Blau hatte, als der Himmel der Polarnacht – mit dieser eigentümlichen Helligkeit. Mir liefen dann die Tränen das Gesicht hinab. Ich habe wenig geschluchzt und irgendwann nicht mal mehr das Gesicht verzogen. Es war ein Ritual, sobald das Baby schlief, als würde ich einen Wasserhahn anstellen. In mir ein großes Loch, das sich nur nachts mit Wasser füllte. An guten Tagen konnte ich am Horizont die Schneekappe des Gletschers in der Ferne sehen. Wenn ich lange genug auf das Meer gestarrt hatte, die Atemzüge meines Babys schwappten wie leise Wellen durch den Raum, dann war es, als ob ich mich in Salz selbst aufgelöst hätte.

Ich funktioniere, bis ich irgendwann nicht mehr kann und die Angstattacken immer regelmäßiger kommen. Das Vertrauen in meinen Körper, das Leben selbst, ist nachhaltig erschüttert. Ich kann nicht begreifen, dass meine Kinder lebendig sein dürfen, gesund bleiben werden, dass nicht an jeder Ecke die Katastrophe und der Tod lauert.

In der Therapie balanciere ich auf einem wackelnden Balken. Ich soll an einem Punkt stehen bleiben, an dem ich mich wohlfühle. Aber die Anspannung bei dem Versuch das Gleichgewicht zu halten, lässt den Balken immer stärker wackeln. Ich falle herunter.

Die Entscheidung den eigenen Kinderwunsch umzusetzen, ist der Beginn einer langen Reise. Eine Reise, die in der Öffentlichkeit mit großer Leichtigkeit erzählt wird: der Kinderwunsch, das Glück des positiven Schwangerschaftstests, die Phase der Schwangerschaft, mit leichten Anstrengungen aber erträglich, die Geburt, der Schrei, die erschöpft lächelnde Gebärende, das glückliche Wochenbett. Die Realität dieser Reise ist eine andere. Sie kann in die Ziellosigkeit führen oder an Orte, von deren Existenz wir nie geahnt haben. Sie kann über Umwege an einen Ort führen, an den man immer wollte, aber der einem nun fremd und unwirtlich vorkommt. In jeder Reise ist ein Risiko verborgen, nicht jede Reise muss gut ausgehen und doch reisen wir. Es braucht lange, bis ich akzeptieren kann, dass es keine Gewissheit gibt, kein Anrecht auf einen positiven Ausgang der eigenen Erzählung. Mit der Akzeptanz verschwinden die Panikattacken. Ich werde ruhiger.

Ich möchte einen Text über meine tote Tochter schreiben, über meine Angst, über die Panikattacken, über die Trauer. Ich möchte die Dinge in eine Erzählung zwingen, einen Faden durch die Splitter ziehen, das unerträgliche Chaos auffädeln, das diese Zeit kennzeichnet. Aber die fragmentierte Erinnerung an meine Reise lässt sich nicht logisch an kluge Gedanken knüpfen, das Loch fügt sich nicht in ein erzähltes Leben, der Schmerz ergibt keinen Sinn. Es gibt kein glückliches Ende für diese Geschichte, bei dem mit der Erkenntnis alle Bruchstücke an einen Platz fallen, die Ordnung wiederhergestellt wird. Es ist ein Leben mit einem Loch und es ist ein gutes Leben.

 

Dieser Text wird im Januar 2021 in einer von Barbara Peveling und Nikola Richter herausgegebenen Anthologie mit dem Titel Kinderkriegen: Reproduktion reloaded in der Edition Nautilus erscheinen. Das Buch kann bereits vorbestellt werden. ISBN: 3960542534

 

Photo by Jilbert Ebrahimi

Utopische Dystopie – Die DDR-Obsession der Rechten

von Peter Hintz

 

Es dürfte kein Geheimnis sein, dass deutsche Rechte seit Jahren eine Ostdeutschland-Obsession haben. So berichtet etwa der Journalist Roland Tichy in der aktuellen Printausgabe des nach ihm selbst benannten rechtspopulistischen Blogs Tichys Einblick von seinen eigenen Erlebnissen in der Wendezeit. Als sogenannter “Buschoffizier” der Bundesregierung war Tichy damals als Berater nach Ostdeutschland geschickt worden, um die staatlichen Strukturen der DDR abzuwickeln. Im Tonfall eines gealterten Kriegsreporters erzählt er unter anderem, wie man im Flugzeug von Köln nach Berlin die Beine der mitreisenden Sekretärinnen berührt hätte, aber vor allem, mit welchem Missionseifer er gekommen sei, um “Freiheit und Wohlstand” mitzubringen. Nach einigen Indiskretionen über seine ehemaligen Kollegen gibt sich Tichy aber geläutert und bekennt, dass es die Ostdeutschen selbst gewesen seien, die sich befreit hätten. Was wie eine Abrechnung mit westdeutscher Arroganz klingen soll, dient Tichy dann aber nur dazu, so über ostdeutsche Geschichte zu schreiben, dass die Deutung zu seinen eigenen Befindlichkeiten passt. In Tichys Text bedeutet das, Ablehnung der derzeitigen rechten Agenda unter Diktaturverdacht zu stellen und Ostdeutschland dafür zum Hauptzeugen machen.

So gut wie jede breite öffentliche Kontroverse des letzten Jahrzehnts – von der Eurokrise zur sogenannten Asylkrise bis zur Klima- und Coronakrise – wird von Tichy mit DDR-Vergleichen versehen: “Was die DDR im Notfall mit einer Kugel aus der Makarow erzwingen musste, geht freiwillig effizienter.” Unter Ablegung seiner Buschoffizier-Persona versteigt sich Tichy im selben Artikel sogar dazu, aus der Erzählperspektive eines Ostdeutschen zu schreiben: “Die im Westen waren immer schon an offene Grenzen gewöhnt und fühlen sich überall daheim; seit Corona sind sie wieder da, die Schlagbäume.” Dieses method acting des westdeutschen Ossis Tichy erinnert an den aus Rheinland-Pfalz stammenden AfD-Politiker Björn Höcke, der mit Verweis auf die Regierungspolitik einmal behauptete, “dafür haben wir nicht die Friedliche Revolution gemacht!”

Natürlich handelt es sich bei diesem Diskurs nicht nur um eine ideologische Vereinnahmung von Ostdeutschland durch in der ‘alten’ BRD aufgewachsene rechte Eliten. Vielmehr erzeugt sich die Identität ‘des Ostens’ als rechte Projektionsfläche in so engem gesamtdeutschen, Schichten übergreifenden Austausch, dass dahingehend von einer deutschen Binarität eigentlich keine Rede sein kann. Mit Slogans wie der “Vollendung der Friedlichen Revolution” und “Wende 2.0” holten die AfD-Wahlkämpfe in Sachsen und Brandenburg letztes Jahr jeweils rund 25% Stimmenanteil und DDR-Vergleiche gehören auch zum rhetorischen Standardrepertoire der rechtsradikalen Dresdner Bürgerbewegung PEGIDA. Das Selbstverständnis der Figur des Reaktionärs als Freiheitskämpfer gefällt offensichtlich auch in der DDR aufgewachsenen Intellektuellen wie Uwe Tellkamp, Neo Rauch oder Monika Maron. Rechte politische Positionierungen werden zu Dissidenz und Exil aufgewertet, als ob es Maron nach ihrem ‘Rauswurf’ bei S. Fischer nicht weiterhin offenstünde, ihre Bücher bei einem dezidiert rechten Verlag wie der Edition Buchhaus Loschwitz herauszugeben und sie auch nicht prompt neue Buchverträge bei Hoffmann und Campe bekommen hätte. Als Legitimationsstrategie werden dabei immer wieder biografisch begründete DDR-Dikatur-Vergleiche gemacht. So behauptete Maron bei ihrem Abgang von S. Fischer, dass diese “Situation der vor 40 Jahren ähnlich” sei, als ihr Roman Flugasche “im Osten nicht gedruckt werden konnte – wobei der Unterschied ist, dass damals mein Verlag zu mir gehalten hat.” Auch in der Pressemitteilung von Hoffmann und Campe berief sich Maron dann auf den “freiheitlichen Geist” des Exilanten Heinrich Heine, ihrer “literarischen Jugendliebe”, was ihren vorherigen DDR-Bezug seltsam affirmierte.

Ironischerweise ist die DDR aber nicht nur Dystopie der Rechten, sondern auch ein Sehnsuchtsort. Während sie einerseits als Diktatur instrumentalisiert wird, um sie mit der Bundesrepublik gleichzusetzen, wird sie andererseits auf merkwürdige Weise aufgewertet, um den Osten kulturell gegen den Westen auszuspielen. So wird spätestens seit der Flüchtlingskrise von 2015 immer wieder positiv darauf verwiesen, dass die DDR einen viel geringeren Anteil von Migranten gehabt hätte als der Westen – was Soziologen häufig als eine Erklärung für stärker verbreiteten Rassismus in Ostdeutschland anführen. Verständnis für diese Mentalität steckt auch in Tichys abschätziger Bemerkung, “die im Westen waren immer schon an offene Grenzen gewöhnt und fühlen sich überall daheim.” So mache DDR-Erfahrung nicht nur immun gegen Autoritätshörigkeit, sondern gegen jede Form des Multikulturalismus.

Die DDR wird dabei als kulturkonservatives Refugium imaginiert, das kein ‘1968’ erlebt habe, also eine gesellschaftliche Liberalisierung verbunden mit dem Aufstieg der intersektionalen Neuen Linken. Obwohl die “Neue Rechte” sich theoretisch auf Augenhöhe mit den Linken sieht und sich strategisch – wie auch ihre Selbstbezeichnung signalisieren soll – von ihnen inspiriert fühlt, ist 1968 ihr Schreckgespenst. Mit Verweis auf die alte westdeutsche Studentenbewegung erinnerte im Jubiläumsjahr 2018 der Hallenser Ableger der rechten Jugendorganisation Identitäre Bewegung an “50 Jahre Gift für die Uni”. Nach dem DDR-Verständnis der sogenannten Neuen Rechten bewahrte der Eiserne Vorhang Ostdeutschland aber vor Verwestlichung im Sinne von Konsumgesellschaft und Neuer Linker. So bezeichnete ein (aus Österreich stammender) Autor der Antaios-Zeitschrift Sezession einmal die Mauer als “anti-antideutschen Schutzwall” und für einen anderen war die DDR die “letzte Variante deutscher Staatlichkeit.” Das ähnelt etwas dem aus dem Kalten Krieg stammenden Kampfnarrativ von der DDR als nationalistisch-militaristischem “Roten Preußen”, das nun allerdings nicht verächtlich, sondern aufwertend zu verstehen ist – was die rechte Autoritätskritik wohl relativiert.

Obwohl 2019 im Dresdner Buchhaus Loschwitz, das gemeinsam mit der Sezession die YouTube-Literatursendung Mit Rechten lesen produziert, sarkastisch “70 Jahre DDR” gefeiert wurde, sollte man nicht überrascht sein, wieviel tatsächliche DDR-Nostalgie in denselben Leuten steckt. Kultureller Verwestlichung wird der reale und vermeintliche Kulturkonservatismus der DDR entgegengehalten. Ingo Schulze porträtierte dieses Gefühl in seinem 2020 erschienenen Roman Die rechtschaffenen Mörder mittels einer Binnenerzählung, die von einem fiktiven, nach der Wende aus Sachsen weggezogenen Autor verfasst ist. Darin wird vom Dresdner Antiquar Norbert Paulini berichtet, der sich mangels anderer Freiheiten seit DDR-Zeiten als Hüter des klassischen literarischen Kanons versteht, bis ihm nach ‘89 westdeutsche Banausen und der freie Markt das Geschäft zunehmend verunmöglichen. Ebenfalls mit Fokus auf die Geschichte des sächsischen Bildungsbürgertums schwärmte zuletzt Uwe Tellkamps in der Edition Buchhaus Loschwitz erschienene Novelle Das Atelier von kleinen ostdeutschen Galerien und einem kultivierten Kombinatsdirektor, der die Kunst der klassischen Moderne sammelte und schützte, bis nach der Wende stilistisch die Postmoderne und wirtschaftlich der Neoliberalismus einbrach. Allerdings stellt Schulzes Roman durch Perspektivwechsel schließlich die Zuverlässigkeit der Paulini-Erzählung in Frage – und damit auch Romantisierungs- und Dämonisierungsmöglichkeiten der Figur des Ex-DDR-Bürgers.

Die Mehrdeutigkeit rechter DDR-Diskurse sollte nicht als Widerspruch begriffen werden. Vielmehr gehört die Funktionalisierung von ostdeutschen Erinnerungen zur rechten Geschichtspolitik dazu: Egal ob Ostdeutschland als ehemaligem Stasi- oder Leseland, jeweils geht es um die Legitimierung und Popularisierung gegenwärtigen rechten Protests.

 

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Weggemopst – Das Problem mit dem digitalen Gebrauchtbuchhandel

von Thomas Hoeps

 

In Lutz Seilers Mystizismus-Burner Kruso zerrt der Titelheld ein schleimiges „Zopftier“ aus dem Küchenabfluss einer Ausflugsgastronomie hervor, das sich dort über Monate hinweg aus Haaren, Essensresten und Schweiß alchemistisch zusammenlegiert hatte, den Lurch. Seit ich meinen Beitrag über den digitalen Gebrauchtbuchhandel aus Autor*innensicht vorbereite, gerät mir unerfreulicherweise dauernd das Bild dieses Lurchs vor Augen. Denn am Ende ist der unaufhaltsame Aufstieg der Buch-Reseller auch nur ein Teil einer recht unschönen Masse von Entwicklungen, die die prekäre Einkommenssituation von Autor*innen verschärfen. Einzeln betrachtet mögen sie dabei nicht unbedingt dramatisch wirken, in seiner Gesamtheit jedoch scheint mir dieser Lurch auf Dauer anders als in Seilers Roman kein Düngemittel, sondern toxisch zu sein.

Der Resellermarkt…

… ist ein sehr lukratives Geschäft geworden. Branchenführer Medimops hat seinen Jahresumsatz in nur vier Jahren von 120 Millionen Euro (2015) auf 250 Millionen Euro (2019) mehr als verdoppelt. 64 Prozent davon, gut 160 Millionen Euro, wurden über den Handel mit gebrauchten Büchern generiert, der Großteil davon in Deutschland. Dazu kommen nicht nur weitere Großanbieter wie rebuy, sondern auch die Professionalisierung des Privatverkaufs durch die Verbreitung über Plattformen wie ebay oder den Amazon Marketplace.

Natürlich gibt es den Handel mit gebrauchten Büchern, seit es Bücher gibt. Der zentrale Unterschied zu den Vor-Internet-Zeiten ist aber, dass man nicht mehr teils jahrelang physisch durch Antiquariate oder über Flohmärkte stromern muss, um an ein gesuchtes Buch zu gelangen. Eine kurze Rechercheminute genügt, das Buch nicht nur zu finden, sondern zugleich auch in der Angebotskonkurrenz zum Bestpreis kaufen zu können.

Bei nicht mehr lieferbaren Titeln ist das großartig, gleichwohl das Preisdumping im E-Commerce klassische Antiquariate unter massiven Druck setzt. Am besten aber, so berichtete der Momox-CEO Heiner Kroke im Börsenblatt, verkauften sich eh die jüngeren Bestseller. Kaum ist ein Buch auf dem Markt, läuft es auch schon sekundär über die E-Plattformen. Am komfortabelsten geschieht das für die Kunden von Amazon, wo direkt auf der Primärverkaufsseite der günstige Gebrauchtpreis für „wie neu“-Exemplare dafür wirbt, doch lieber gleich Second-Hand zu kaufen.

Von Platzangst, Nachhaltigkeit und Teilhabe

Toll also, dass es so leicht geworden ist, sich von Büchern zu trennen und kostengünstig an neue zu kommen. Und zugleich werden damit ja auch andere Probleme gelöst: Über die bange Frage hinaus, wo in der Wohnung denn noch Platz für das x-te Buchregal sein soll, betrifft es Aspekte von gesellschaftlicher Relevanz: Ist es denn zu verantworten, dass ein Buch nach ein paar Lektürestunden nicht mehr genutzt wird? Ist es nicht nachhaltiger und ressourcenschonender, ihm ein zweites, drittes, viertes Leben zu verschaffen, bei Käufer*innen oder – und hier wird dann auch noch kulturelle Teilhabe trotz Existenzminimum ermöglicht – bei den Nutzer*innen öffentlicher Bücherschränke?

Wer wollte gegen solche positiven Effekte ernsthaft Einwände erheben?

Von der Erschöpfung I

Als der ehemalige Buch-Vertriebsmanager Ulrich Erdle vor wenigen Monaten im Börsenblatt seinen Unmut über den umsatzstarken Zweitverwertungsmarkt von Momox & Co äußerte und eine Gebührenbelegung der gewerblichen Reseller ebenso wie der Verkaufsplattformen zugunsten der Autor*innen und Verlage forderte, zuckte die Justiziarin des Börsenvereins mit den Schultern: Kann man nix machen, ist Gesetz! Denn „das Verbreitungsrecht des Autors erschöpft sich gemäß § 17 Abs. 2 UrhG, nachdem das Buch erstmalig in den Verkehr gebracht wurde. Der Urheber wurde für sein Werk mit dem ersten Verkauf vergütet.“

Und Herr Momox behauptete daran anschließend, im Falle der Erhebung einer Zweitverkaufsgebühr müsste ja logischerweise „Neuware dann im Gegenzug günstiger werden, da von Vornherein ein Zweit- und Drittverkauf eingeplant ist.“

Von der Erschöpfung II

Wie könnte ich mich als Autor also gegen rechtliche Realitäten, wirtschaftliche Entwicklungen und gesellschaftliche Notwendigkeiten stellen und über entgangene Einnahmen aus Second Hand-Verkäufen klagen? Zumal ich ich angeblich doch schon hinreichend für diese weiterverkauften Bücher entlohnt wurde? Will dieser Autor jetzt also nur ein weiteres Mal frech abkassieren? Second Hand = Second Cash?

In der letzten Zeit spüre ich eine wachsende Erschöpfung, wenn die ökonomische Realität unserer Arbeit wieder einmal ausgeblendet wird. Soll ich erneut vorrechnen, wie viel Honorar Autor*innen für die oft zwei, drei Jahre Arbeit an ihrem Buch erhalten, wenn der marktübliche Satz von fünf und zehn Prozent vom Nettoverkaufspreis gezahlt wird und das Buch kein Bestseller oder gehobener Midlist-Titel wird? Dass die Kostenplanung von Büchern aber für alle Beteiligten feste (zugegeben, zuweilen auch prekäre) Monatsgehälter oder Stundensätze kalkuliert, nur für die eigentlichen Urheber Vorschüsse ansetzt, von denen oft kein halbes Jahr zu leben ist? Dass mehr nur hereinkommt, wenn das Buch dann doch deutlich über den Break-even-Punkt hinausschießt? Oder vielleicht noch einmal berichten, wie unerfreulich sich die durchschnittlichen Startauflagehöhen seit Jahren entwickeln und dass es darum bei vielen Büchern mittlerweile tatsächlich auf jedes einzelne verkaufte Exemplar ankommt. Zumal da definitiv kein Sekundärmarkt miteinkalkuliert ist, weil das Resultat nicht mehr marktgängige und sozialverträgliche Verkaufspreise wären?

Ich habe deshalb immer weniger Lust auf solche Erklärungen, weil es am Ende doch nur wie ein beleidigtes Mimimi klingt. Denn die Entscheidung, haupt- oder auch „nur“ nebenberuflich als Schriftsteller zu arbeiten, auch eine im Bewusstsein erwartbarer ökonomischer Einschränkungen ist und bleibt ja eine stolze, frei getroffene. Trotzdem schaut man doch immer wieder recht fassungslos darauf, wie viel Geld in diesem Betrieb dann doch umläuft und in welchen Kanälen es schließlich landet.

Her damit!

Womit wir in das Habitat des Lurchs zurückgekehrt wären, zu dessen weiteren Bestandteilen tiefgreifende Veränderungen im Buchhandel genauso zählen wie der Wegfall öffentlich finanzierter Lesereihen oder eben die große Selbstverständlichkeit, mit der unsere Arbeit kostenlos oder lowestbudget-orientiert genutzt wird. Die findet man ja nicht nur im Trend, dass auch gut verdienende Leser*innen aktuelle Bücher zur Ersparnis einer Handvoll Euros lieber über Resellerplattformen kaufen. Sondern zum Beispiel selbst bei den Bücherfreund*innen in den öffentlichen Bibliotheken, die unter dem Deckmantel der „Informationsfreiheit“ (real aber zur Entlastung ihrer kommunalen Haushalte) Druck ausüben, das Ausleihlimit von e-book-Lizenzen aufzuheben (zu den Auswirkungen der Onleihe übrigens hier eine aktuelle Studie).

Bedingungen für den gewerblichen Wiederverkauf einzuführen, wie es Ulf Erdle und andere mit der Einrichtung von „Schonfristen“ für Neuerscheinungen oder der Erhebung von Zweitverwertungsabgaben fordern, werden das Grundproblem mangelnder Honorierung der Autor*innen sicher nicht lösen. Und es wirkt vielleicht sogar nur wie ein Abwehrkampf in aussichtsloser Stellung. Aber dem Lurch das zu entreißen, was uns zusteht, ist nicht zuletzt auch eine Frage der Selbstachtung. Also, schnappen wir ihn uns!

 

Photo by Brandable Box on Unsplash

Wenn sich Wörter mögen – Die Kinderlyrikwerkstatt Poedu

von Kathrin Schadt

 

Während des ersten Lockdowns ab dem 13.3.2020 befand ich mich mit meiner 7-jähringen Tochter Greta in Barcelona und erfand  zunächst in privatem Rahmen für sie eine Poesiewerkstatt, um sie während der Quarantäne irgendwie zu beschäftigen. In wenigen Tagen fand dieses Projekt dann aber überraschend viele Neugierige, über 60 Familien haben sich mittlerweile auf Facebook dazu angemeldet, außerdem kooperieren Dichter*innen und zahlreiche Institutionen aus dem deutschsprachigen Raum.

Jeden Freitag wird seitdem den teilnehmenden Kindern eine jeweils andere Poesieaufgabe von bekannten Poet*innen gestellt. Unter ihnen bislang: Michael Stavarič, Ulrike Almut Sandig, Michael Augustin, Uljana Wolf, Yevgeniy Breyger, Andrea Karime u.v.m. Innerhalb einer Woche können die Kinder dann die Ergebnisse zunächst in einer geschlossenen, virtuellen Gruppe untereinander austauschen, Fotos und Videos hochladen, miteinander auch in Pandemiezeiten in Kontakt kommen. Am darauffolgenden Freitag werden dann auf der öffentlichen Poedu-Facebookseite und auf Fixpoetry jeweils die neuesten Gedichte der Kinder veröffentlicht.

Poedu habe ich das Projekt genannt, weil Poesie meist etwas ist, was Erwachsene für Erwachsene machen. Also PoeSIE. Ziel des Projektes ist es aber eine Werkstatt zu schaffen, bei der alles erlaubt ist, bei der jede und jeder mitmachen darf: ich, er, sie und du. Wir machen PoeDU. In dem Namen steckt auch noch fein und heimlich das Wort EDUcación, spanisch für Bildung und PuEDo, ich kann.

Mit dem Projekt sollen Kinder und Jugendliche an die Möglichkeiten unserer Sprache herangeführt werden. Als spielerische Quelle, als Ventil, als Befreiung, fern von zähen Homeschooling-Aufgaben. In Zeiten der Krise brauchen auch Kinder Ausdruck und Hoffnung und mit dem Poedu wollen wir herausfinden, welche Möglichkeiten die Lyrik uns bietet, um dazu beizutragen. Im Vorwort zum gerade entstehenden Poedu-Buch schreibt die Lyrikerin Monika Rinck:

„Was man alles mit [Sprache] machen kann, zeigen die Poedu-Kinder […]. Was für eine Fülle tritt den Leser:innen gleich auf den ersten Seiten entgegen. Das Herz geht auf! Hier wird mit großem Ernst gespielt und das Spiel so ernstgenommen, dass es eine Lust ist. […] Es ist für Menschen in jedem Alter eine schöne und sehr erheiternde Lektüre. Reime und Lügen, die Verbundenheit der Klänge und ihr verführerisches Flüstern, ganz knapp an der Realitätsprüfung vorbei. Durchgewitscht! Gerade nochmal entkommen. Und wie schön es ist, Verse in oft so erfindungsreicher alternativer Rechtschreibung zu lesen und Befehle zur Kenntnis zu nehmen, die zunächst unmöglich zu sein scheinen. “Los, schwimm zurück in den Garten!” Alles spricht, und alles ist ansprechbar. Es ist ein großzügiger Hochgenuss, der außerdem zum Mitmachen, Nachmachen und Neumachen einlädt. Anleitungen zum Jubel und zur Beschimpfung, Schriftcollagen, Gedichte in den Sprachen der Tiere, Gedichte in altehrwürdigen Formen, wie dem Akrostichon, übersetzte Gedichte, Gedichte mit Gebrauchsanleitungen und Pflegehinweisen, Gedichte, die sich auf der Schwelle zwischen den Sprachen treffen, und die bevölkert sind von Wesen, die es gar nicht, aber im Gedicht dann ja doch gibt. Denn da ist Platz dafür. Die erneuerte Erinnerung daran, wie groß dieser Platz ist, ist ein Geschenk, das Poedu und alle an der Entstehung des Buches Beteiligten uns machen. Danke!“

Die virtuelle Poedu-Werkstatt begann mit der Frage, was Poesie denn nun eigentlich sei? Die Antworten der Poedu-Kinder zeigten den Macher*innen dann gleich zum Auftakt, was alles Großartiges auf sie warten würde:

Poesie ist ein weibliches Wort oder eine Mehrzahl, obwohl es sich eher wie Singular anhört. – (Leo, 10)

Ich glaube, Poesie ist, wenn die Wörter etwas verbindet und sich die Wörter mögen.  (Gwang, 11)

Für mich ist Poesie wie ein großer Himmel, wo ganz viele Wörter drin sind. Und die Wörter sind die Kinder […]. – (Rübezahl Cocktail, 7)

Im April 2021 wird ein Buch zum Projekt im Elif Verlag erscheinen, illustriert von Petrus Akkordeon. Das Buch wird die Gedichte der teilnehmenden Kinder auf Papier festhalten, damit sie tatsächlich anfassen, blättern und zusammenhängend lesen können, was sie selbst über die Monate geschaffen haben. Aber auch, um diese besondere, miteinander erlebte Zeit festzuhalten, in der die Welt aus den Fugen geriet und die Kinder sich diese mit Worten wieder zusammenfügten.

Das Buch trägt das Poedu aber auch zu allen anderen Familien nach Hause, von Kindern für Kinder, zum Lesen, Schreiben, Nachahmen: zum Poeduen. Zu allen im Buch enthaltenen 25 Aufgaben dürfen die Leser*innen ihre eigenen Gedichte ins Buch schreiben und auch gerne dem Poedu schicken. Hinter jedem Kapitel findet sich auf Leerseiten Platz dafür. So können die Familien selbst, aber auch Schulen, Kindergärten und Einrichtungen die Poesiewerkstatt für sich fortsetzen und weiterspinnen.

Juliane Ziese von der Edition Lyrigma lernte das Poedu über ihren Sohn Vito (5) kennen und wurde bald von der Begeisterung dafür angesteckt. Sie ist mittlerweile Teil des Poedu-Teams und entwickelt dazu ein Kartenspiel, das dem Spiel mit Sprache nun noch ein feines Krönchen aufsetzt: ist es ein Quartett? Ein Rufspiel? Eine Fragerunde? Es ist alles zusammen und kann in vier verschiedenen Variationen gespielt werden. Das Spiel leitet außerdem an, selbst Gedichte zu schreiben, zu malen und Poesie laut vorzutragen.

Mit Buch und Kartenspiel kommt Poesie nun mit einem derart leichtfüßigen Schritt daher, dass es auch den Deutschunterricht um eine verspielte Variante erweitern könnte. Die Dichterin Karla Reimert Montasser, die im Haus für Poesie für die poetische Bildung zuständig ist, schreibt dazu:

„Ich sitze hier und bin den Tränen nahe, weil das Poedu – auf poetischste Weise – ohne Rückhalt, ohne größere Ressourcen, nur ausgestattet mit Sprache und Spieltrieb, diesem Lockdown etwas Unglaubliches abgerungen hat. Entstanden ist womöglich das beste Projekt für poetische Bildung im Grundschulalter, mit einem Feuerwerk an Ideen und unfassbar schönen Ergebnissen. In jeder Zeile fühlt man die Verbindung der Kinder zu der Aufgabe, zum Projekt, im Sinne von absolutem Vertrauen. Wunderbar auch, bald ein Buch in den Händen halten zu können, an dem so viele DichterInnenfreunde aus dem deutschsprachigen Raum mitgearbeitet haben. Ihr Geist und ihre Ansätze verteilen sich feinstofflich über alle Seiten. Ich wünsche mir, dass dieses Buch in allen Schulen eingesetzt wird und in allen Schreibgruppen.“

Aber letztlich zählt beim Poedu nur eine Stimme: die der Kinder. Und die kommt mit einer Wucht daher, dass nur laut: „In Deckung!“ gerufen werden kann. Deshalb sollen hier nun ein paar Gedichte sprechen, stellvertretend für alle Poedu-Gedichte die während der letzten Monate entstanden sind:

Gebrauchsanleitung für mein Gedicht

Mein Gedicht braucht
eine Strickleiter,
um ganz nach oben zu kommen.
Es muss 3-mal am Tag gefüttert werden,
sonst bekommt es rote Zähne
vor Wut.
Mein Gedicht möchte mit dir spazieren gehen,
egal ob Regen oder Sonne,
es klettert gern mit dir.
Es will am Mittag duschen
und ab und zu in einen See springen.
(Karl Egal, 6)

*

Ich werde die Nachtleuchtende genannt
und schreibe meinen Text auf diese Hand
Ich bin Feuer und Wasser
in der Ferne wirke ich blasser
Schillernd und bunt
schwebe ich über den Meeresgrund
Mit anderen bilde ich einen Schwarm
ich mag es mal kalt, mag es mal warm
Gegen den Strom schwimme ich
auch als Medusa kennt man mich
(Tintenfisch, 9)

*

Meine Bucket-List

Ich wünsche mir, eine einzige Mama zu sein
Ich wünsche mir 50 Kinder
Ich wünsche mir viele Papageien, die immer, wenn ich nach Hause komme, in meinen ganzen Körper  fliegen
Ich wünsche mir, Sitter von Babytieren zu sein
Ich wünsche mir, Bauchreden zu können
Ich wünsche mir, wenn ich aufwache, dass mein ganzes Haus voller Wasser, Fische, Wale und Delfine ist, und meine Papageien auf Seepferdchen reiten
Ich wünsche mir eine Hose, die mit Wasser gefüllt und ganz dick ist
Ich wünsche mir, mit meinen Papageien in der Badewanne zu baden, wo wir zusammenschrumpfen und durch den Abfluss in eine andere Welt rutschen
Ich wünsche mir vor meiner Haustür eine Rutsche, die mich überall hin in die Welt bringt
Ich wünsche mir, dass all meine Papageien ein Flugzeug formen, das ich von innen steuern kann
Ich wünsche mir, mit den Babytieren, die ich sitte, durch eine Türe in eine Welt aus Decken und Kissen zu gehen, wo wir tun können, was wir wollen
Ich wünsche mir, fliegen zu können
Ich wünsche mir, reiten zu lernen
(Anisnofla, 7)

*

Ein Klatschspiel für Kinder in Fantasiesprache

KLATSCH KLATSCH TSCHU TSCHU

Tschitschi baka dudu
Ehbeh ahdeh hai!

Dakdak bubu De
De daka gugu hai!

Pupu kahkah blu
Kah eff hakah ta!

All Se Ma Lu Tu
An lulu baka tschutschu …

Tee kah!
(Rübezahl Cocktail, 7)

 

Das Poedu-Buch (ISBN: 978-3-946989-38-7) kann beim Elif-Verlag vorbestellt werden: eMail Elif Verlag

Das Poedu-Kartenspiel kann bei der Edition Lyrigma vorbestellt werden: eMail Edition Lyrigma

(Titelbild: Poedu-Illustration von Petrus Akkordeon)

Ökonomie der Ungleichheit – Neue Bücher über Wirtschaft und Gender

von Daniel Stähr

[CN Sexualisierte Gewalt, Misogynie]

Der globalen Wirtschaft gehen jedes Jahr 160 Billionen Dollar verloren, durch die ungleiche Bezahlung und den ungleichen Zugang zu wirtschaftlicher Partizipation der Geschlechter. Frauen besitzen weltweit nur 18,3 % des Landes. Frauen sind von der Erbschaft in vielen Teilen der Welt ausgeschlossen und selbst in den High-Income-Ländern Europas und Nordamerikas sind sie in den seltensten Fällen die Erben von Unternehmen.[1] Sowohl im globalen Finanz- als auch Güterhandel kontrollieren Männer 99% der Geschäfte, während Frauen weltweit jeden Tag in Summe ca. 12 Milliarden Stunden unbezahlte Carearbeit (Kinderbetreuung, Haushaltsarbeit, Pflege) verrichten. Es existiert kein Land auf der Welt, in dem Frauen im Schnitt dasselbe verdienen wie Männer.[2]

Das sind nur einige Beispiele für die XX-Ökonomie (gesprochen: Doppel X Ökonomie), die Linda Scott in Das Weibliche Kapital beschreibt (übersetzt von Stephanie Singh). Die Wirtschaftswissenschaftlerin war Professorin an der Saïd Business School der Oxford University und ist inzwischen emeritiert. Unter der XX-Ökonomie versteht sie eine Schattenwirtschaft, in der die weibliche (Wirtschafts-)Tätigkeit durch ökonomische Hindernisse und kulturelle Zwänge getrieben wird. Auf 350 Seiten zeichnet Scott ein globales Bild dieser XX-Ökonomie und beschreibt die Mechanismen, die dazu führen, dass Frauen strukturell diskriminiert werden. Sie verlässt sich dabei nicht auf die bestehenden Daten, sondern ordnet diese kritisch und misstraut ihnen systematisch: „Wenn wir sinnvolle Veränderungen herbeiführen wollen, ist das Wissen um das, was hinter den Daten liegt, von entscheidender Bedeutung, damit unsere praktischen Maßnahmen nicht scheitern oder gar Schaden anrichten.“

Immer wieder macht sie klar: das System, das Frauen benachteiligt, ist dasselbe, das die Daten bereitstellt. Nicht selten wird die Realität dadurch verzerrt. Damit reiht sich Scotts Text auch in die Arbeiten ein, die die sexistische Datenlücke thematisieren. So hat die Journalistin Caroline Criado-Perez erst Anfang des Jahres mit ihrem Buch “Unsichtbare Frauen” ein Plädoyer zur Schließung des Gender Data Gaps vorgelegt . Ein Beispiel verdeutlicht das Problem. So galten von Frauen geführte Unternehmen, basierend auf vermeintlich objektive Daten wie Umsatz, Gewinn oder Wachstumsraten, lange als weniger rentabel.

Daraus wurde der Schluss gezogen, dass Frauen „von Natur aus“ weniger unternehmerisches Geschick besäßen. Die Wahrheit ist allerdings differenzierter. Frauen haben etwa fast überall deutlich schlechteren Zugang zu Krediten. Sie zahlen bei gleichen Voraussetzungen im Schnitt höhere Zinsen auf Unternehmenskredite als Männer. Das ist jahrzehntelang niemandem aufgefallen, weil Banken lange Daten nicht nach Geschlechtern getrennt erhoben haben (und es in vielen Ländern der Welt immer noch nicht tun, dort wo es getan wird, gleichen sich die Daten aber auf erstaunliche Weise unabhängig vom kulturellen Hintergrund). Wenn Frauen Kredite sowohl im geringeren Umfang als auch zu höheren Zinsen bekommen, dann ist es nur folgerichtig, dass es ihre Unternehmen schwieriger haben.

Anekdotische Evidenz als Appell

Scott geht es um mehr, als nur den Status quo darzustellen. Sie will mit Mythen und Vorurteilen aufräumen, die durch verzerrte Daten scheinbar bekräftigt werden. Streng wissenschaftliche Argumente werden mit Anekdoten aus ihrer beruflichen Erfahrung kombiniert. Dabei kommt der Autorin ihre jahrelange Feldarbeit zugute. So hat sie für Regierungsorganisationen, NGOs aber auch privaten Unternehmen etwa in Ghana, Uganda, Bangladesch, Südafrika, Moldawien oder Brasilien Projekte begleitet oder geleitet, die eine Verbesserung der Lage der Frauen vor Ort erreichen wollten. Wenn Scott also Argumente dafür anführt, dass die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen der beste Weg ist, um sie vor Gewalt zu schützen, dann erzählt sie beispielhaft von ihren Erlebnissen in Afrika, Asien oder Europa, wo sie Frauen kennen gelernt hat, die aufgrund ihrer finanziellen Abhängigkeit (sexualisierte) Gewalt ausgesetzt waren. Die verfügbaren Daten belegen den Punkt, dass die wirtschaftliche Selbstständigkeit Gewalt gegen Frauen reduziert, sehr deutlich, aber die teils drastischen Schilderungen von individuellen Schicksalen geben den Zahlen ein Gesicht und eine Dringlichkeit. Das Weibliche Kapital ist ein Appell, den Worten Taten folgen zu lassen.

Der Umgang mit Frauen ist eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. […] Um der Gerechtigkeit und des Mitgefühls willen, aber auch im Sinne des materiellen Wohlstands der gesamten Spezies rufe ich euch auf, euch auf diese wichtige Reise zu machen und euch der Bewegung zur wirtschaftlichen Stärkung der Frauen anzuschließen.

Um ihre Thesen zu stützen und einigen der bekanntesten Argumente von Gegner*innen der Gleichstellung von Mann und Frau zu widerlegen (beispielsweise: „Männer sind evolutionär die Ernährer der Familie“, „Es ist von der Natur nun mal so vorgesehen, dass Frauen zu Hause bleiben und sich um die Kinder zu kümmern.“) führt Scott eine enorme Fülle an Quellen an. Dabei beschränkt sie sich nicht nur auf wirtschaftswissenschaftliche Belege, sondern nutzt Forschungen aus der Anthropologie, Neurologie, den Kultur- und Geschichtswissenschaften, der Psychologie, der Anatomie und der Soziologie. Genau hierin besteht einer der großen Vorzüge des Buches. Auf 350 Seiten scheint es eigentlich völlig unmöglich mehrere Jahrtausende der Evolutionsgeschichte von Mann und Frau, sowie die Forschung zu der Entwicklung des menschlichen Gehirns und eine Chronologie der ökonomischen Benachteiligung der Frau zu beschreiben. Scott schafft es aber, die für ihre Argumentation relevanten Fakten zu präsentieren, ohne sich in der schieren Masse ihrer Bezugspunkte zu verlieren. Immer wieder führt sie ihre Exkurse zurück zu ihrem eigentlichen Anliegen: die Verbesserung der Situation von Frauen heute.

Etwa zeigt Scott am ersten Gleichstellungsgesetz Großbritanniens exemplarisch welche strukturellen Probleme es in der Gleichstellungspolitik gibt. 1970 hatte die britische Regierung den Equal Pay Act verabschiedet, nicht so sehr aus Überzeugung, sondern weil ein solches Gesetz Bedingung für den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war (die EWG war Vorläuferin der heutigen EU). Das Gesetz umfasst gerade einmal zehn Seiten, inklusive eines Passus, der sich in der Nachbetrachtung als fatal herausstellte: „[die Maßnahmen] sind auf Frauen und ihre Behandlung im Vergleich zu Männern bezogen, doch sie gelten gleichermaßen umgekehrt für Männer und ihre Behandlung im Vergleich zu Frauen.“ Diese Stelle wurde damals in das Gesetz integriert, um der Wut der Männer über eine mutmaßliche Bevorzugung von Frauen vorzubeugen.

Die Folge war keinesfalls, dass von da an Männer und Frauen gleiche Aufstiegschancen erhielten, oder gleich bezahlt wurden. Vielmehr hatte auf Grundlage des Equal Pay Act jeder Mann die Chance zu klagen, wenn eine Frau mit gleicher Qualifikation an seiner Stelle befördert wurde, mit dem Argument der „positiven Diskriminierung“ von Frauen. Nimmt man hinzu, dass zu diesen Zeiten jedes Unternehmen in Großbritannien seine Angestellten entlassen konnte, wenn sie über ihr Gehalt sprachen, festigte der Equal Pay Act von 1970 auf einer institutionellen Ebene die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, mit Folgen die bis heute reichen.

Was Scott hier verdeutlicht ist, dass Maßnahmen, die zu einer Gleichstellung führen sollen, aber Männer und Frauen gleich behandeln, per Design zum Scheitern verurteilt sind. Sie ignorieren nämlich die über Jahrhunderte bestehende Machtasymmetrie zwischen den Geschlechtern und zementieren diese so indirekt. Eine Politik die Gleichstellung ernst meint, muss Frauen zwangsläufig “positiv diskriminieren”, um die bestehenden Strukturen aufzubrechen und die bestehende Lücke zu schließe (gleiches gilt für jede marginalisierte Gruppe, die innerhalb einer Gesellschaft systematisch schlechter gestellt ist). Ein Beispiel für einen Ansatz der tatsächlich in der Lage ist den Gender Pay Gap zu schließen kommt ausgerechnet aus den USA. Dort wuchsen die Löhne von Frauen zwischen 1970 und 1990 in Bezug auf die Gender Pay Gap um 30%.

Treibend für diese Entwicklung waren zwei Gründe. Präsidentielle Exekutivverordnungen, die Unternehmen zu ernsthaften und überprüfbaren Bemühungen, die Geschlechterdiskriminierung aktiv abzubauen, verpflichteten, und der relativ einfache Zugang zu Sammelklagen, wenn gegen diese Verordnung verstoßen wurden. Gerade diese Last der Gleichberechtigung von den Schultern einzelner Personen zu nehmen, ist essentiell. In vielen Ländern besteht zwar die Möglichkeit gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz zu klagen. Diese Prozesse sind aber oft lang und teuer und nur die wenigsten Frauen haben die Ressourcen, so eine gerichtliche Auseinandersetzung zu führen. Hätten die USA diesen Trend beibehalten gäbe es dort heute keine Einkommenslücke mehr. Vor allem die Besetzung des Obersten Gerichtshofs mit konservativen Richter*innen während der 80er und 90er Jahre, hat aber dazu geführt, dass viele der nachweislich wirksamen Maßnahmen in den Folgejahren zurückgenommen wurden.

Frauen werden nicht geringer bezahlt, weil sie weniger gebildet, motiviert, oder ehrgeizig sind, weil sie seltener nach mehr Gehalt fragen, schwächer, feiger oder fauler sind oder an den Herd gehören. Keine dieser oder der unzähligen anderen Ausreden, mit denen wir den Frauen kulturell selbst die Schuld an ihrer Situation geben, ist richtig. Sie werden geringer bezahlt, weil feindselige Männer und die von ihnen geschaffenen Institutionen immer wieder Wege finden, der Gleichstellung der Geschlechter auszuweichen.

Insgesamt steht Das Weibliche Kapital nicht so sehr in der Tradition der Arbeiten über die Ungleichheitsentwicklung von Thomas Piketty, Branko Milanović oder Jeffrey Sachs, mit denen sie auch von ihrem deutschen Verlag (Hanser) beworben wird. Vielmehr geht Das Weibliche Kapital über die Forschung der genannten hinaus, weil hier neben der Ungleichheit eine zweite Dimension, die der Geschlechterdiskriminierung, verhandelt wird. Damit ist sie den Arbeiten der Ökonomin Claudia Goldin wesentlich näher, die in den 1990er und 2000er-Jahren herausragende Forschung zur Einkommensungleichheit und den besonderen Charakteristika der weiblichen Arbeitskraft betrieben hat. So zeigt Goldin in ihrer Pollution Theory of Discrimination, dass, weil Frauen von Männern als weniger kompetent wahrgenommen werden, die Aufnahme einer Frau in einen Berufsstand, der bisher vor allem Männern vorbehalten war, das Prestige dieses Berufs in den Augen der Männer senkt. Das führt dazu, dass Frauen der Zugang zu männerdominierten Berufen erschwert wird. Scotts Arbeit lässt sich zumindest in Teilen als empirische Bestätigung von Goldins Modell interpretieren.

Dennoch gibt es blinde Flecken. So ist ist die binäre Weltsicht im gesamten Buch problematisch. Scott beschränkt sich auf die Unterscheidung von Männern und Frauen und gibt dem Text wenig Platz für die Folgen von Mehrfachdiskriminierung. Die besonderen Bedrohungen und Hindernissen denen trans Frauen und Männer oder nicht-binäre Personen ausgesetzt sind, finden keinen Platz. Auch die Hautfarbe spielt bei Scott lediglich eine untergeordnete Rolle. Zwar führt sie für Südafrika die Unterschiede der schwarzen und weißen Bevölkerung exemplarisch an, aber für die USA oder Europa wird nicht darauf eingegangen, dass weiße Frauen strukturell in einer besseren Situation sind als Women of Color. Das ist bedauerlich, da Scott ansonsten sehr genau auf die unterschiedlichen akuten Bedürfnisse von Frauen in unterschiedlichen Regionen der Erde (wie zum Beispiel: Ländern in sub-Sahara Afrika vs. Europas) eingeht, ohne diese gegeneinander auszuspielen, oder die Kämpfe der jeweiligen Frauen zu hierarchisieren.

Eine andere Kritik, der sich Scott regelmäßig ausgesetzt sieht (zuletzt etwa durch Meredith Haaf in der Süddeutschen Zeitung) ist ihr Wirken innerhalb der bestehenden kapitalistischen Strukturen. Immer wieder muss sie sich für ihre Zusammenarbeit mit multinationalen Konzernen wie Walmart oder dem Kosmetikunternehmen Avon rechtfertigen. Scott ist dort Mitglied in Kommissionen, die eingesetzt werden, um die Bemühungen zur Förderung von Frauen innerhalb der Unternehmen oder deren Vertriebsketten zu evaluieren und zu verbessern. Dieser Kritik, die die Autorin in ihrem Text selbst aufgreift, liegt der Gedanken zugrunde, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder man ist für oder gegen das gegenwärtige kapitalistische System. Dass es aber möglich ist, das aktuelle Wirtschaftssystem mindestens in Teilen abzulehnen, sich aber dennoch innerhalb des Systems dafür einzusetzen, die Lebensumstände von Menschen zu verbessern, wird anscheinend negiert. Scott geht es allerdings nicht darum, konkrete Aussage darüber zu machen, wie für sie ein ideales Wirtschaftssystem aussehen würde (abgesehen davon, dass in so einem System alle Menschen den gleichen Zugang zu Ressourcen haben müssen). Vielmehr geht es ihr darum, konkrete Möglichkeiten aufzuzeigen, um die reale Lebensqualität von Millionen von Frauen zu verbessern. Man muss den Kapitalismus nicht lieben, um das als ein wünschenswertes Ziel anzuerkennen.

Der Frauenatlas

Eine perfekte Ergänzung zu Scotts Buch ist in vielerlei Hinsicht Der Frauenatlas von Joni Seager. 1987 erschien der Frauenatlas der US-amerikanischen Geografin erstmals in den USA und wurde seitdem unregelmäßig mit aktualisierten Daten neu aufgelegt. 2020 erscheint, ebenfalls bei Hanser die längst überfällige deutschsprachige Version der aktuellen Auflage (in der Übersetzung von Renate Weitbrecht und Gabriele Würdinger). Seager gelingt es, auf fast 200 Seiten und mithilfe von über 150 Infografiken und Karten ein umfassendes Bild der Situation von Frauen auf der Welt zu zeichnen und dabei so wenig verallgemeinernd zu werden wie möglich.

Doch wenn wir etwas aus den modernen feministischen Bewegungen gelernt haben, dann das tatsächlich bestehende Unterschiede zwischen Frauen nicht durch pauschale Verallgemeinerungen verschleiert werden dürfen. Diese Unterschiede zeigen sich an den Bruchlinien von Race, Alter, Sexualität, Religion, Gesellschaftsschicht und Herkunftsland.

So widmet Seager einem Abschnitt explizit der schwierigen Datenlage, sobald die Weltsicht eines binäres Geschlechterverhältnis aufgegeben wird. Durch die Vermittlung der zahlreichen Fakten mithilfe von Infografiken und Karten ist es Seager möglich, differenziert vorzugehen und immer wieder besondere Situationen hervorzuheben. Ergänzt und eingeordnet werden diese Zahlen durch kurze Texte, die enorm zum Verständnis, gerade einiger komplexerer Zusammenhänge, beitragen. Der Frauenatlas zeigt dabei nicht nur die Defizite, sondern präsentiert auch Fortschritte in den Bemühungen der letzten dreißig Jahre. Ohne dabei einen Zweifel aufkommen zu lassen, wie viel Arbeit noch vor uns liegt, bis eine gerechte Welt für Männer und Frauen erreicht ist.

An zwei Beispielen lässt sich das Vorgehen im Frauenatlas illustrieren. In einer Weltkarte stellt Seager etwa die Gesetzeslage bei Abtreibungen für jedes Land dar. Anschließend setzt sie die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche mit den Gesetzen in Beziehung, um so zu zeigen, dass das Verschärfen von Abtreibungsgesetzen nicht zu weniger Abtreibungen führt. Ganz im Gegenteil, je einfacher und sicherer der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen ist, desto weniger gibt es. In einem anderen Abschnitt setzt sich die Autorin mit dem weltweiten Analphabetismus auseinander. Nach wie vor ist ein großer Teil der Analphabet*innen weiblich (ca. zwei Drittel), leichte Fortschritte gibt es bei der Alphabetisierung von Frauen dennoch. Zwischen 1990 und 2014 hat sich der globale Anteil der Frauen, die lesen und schreiben können von 69% auf 82% erhöht. Getrieben wird diese Entwicklung durch den besseren Bildungszugang für Mädchen in vielen afrikanischen Ländern. So wuchs der Anteil im Senegal von 17% auf 44%, auf den Kapverden von 53% auf 85% und in Burundi von 28% auf 83%.

Ergänzend dazu stellt Seager außerdem Daten über den funktionalen Analphabetismus in den USA bereit, wo die Lesekompetenz von ca. 36. Millionen nicht über das Niveau der 3. Klasse hinausgehen. Hier existiert keine Gender-Lücke mehr, dafür wird auf die Diskriminierung von Minderheiten verwiesen. Schwarze und Hispanics sind in den USA drei bis vier Mal so häufig von funktionalem Analphabetismus betroffen wie Weiße. Wo die zahlreichen Daten in Das weibliche Kapital teilweise erschlagend wirken (was der Form des Textes geschuldet ist), ist Der Frauenatlas eine ideale Datensammlung weil er, in verschiedene Ober-Kategorien unterteilt (über Bildung, Recht auf körperliche Selbstbestimmung bis hin zu Macht und Besitz), übersichtlich den Status Quo aufbereitet.

Eine misogyne Disziplin

Es gibt noch eine weitere Lesart der beiden Bücher, die über den Appell für die Gleichberechtigung der Frauen hinausgeht: Eine Kritik an der Ignoranz der Wirtschaftswissenschaften. Ein Beispiel mit dem Scott in Das weibliche Kapital einführt, ist die Debatte um Sexismus innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, die 2017 und 2018 vor allem in den großen amerikanischen Zeitungen geführt wurde (etwa in diesen lesenswerten Texten von Elizabeth Winkler und Diane Coyle). Ausgelöst wurde sie durch die Abschlussarbeit der Berkeley-Absolventin Alice Wu. Wu hatte Millionen von Postings eines anonymen Forums analysiert, auf denen sich Studierende der Wirtschaftswissenschaften über Jobs und Job-Gerüchte austauschen konnten. Sie analysiert, ob sich die Sprache, in der über weibliche oder männliche Wissenschaftler*innen geschrieben wurde, signifikant voneinander unterscheide. Die drei häufigsten Wörter in Bezug auf Frauen waren „Hotter“, „bb“ (als Kurzform für „baby“), „Lesbian“ (gefolgt von Begriffen wie „Feminazi“ oder „anal“), bei den Männern waren es „Mathematician“, „Pricing“, „Adviser“.

Diese Missachtung von Frauen in den Wirtschaftswissenschaften ist kaum verwunderlich. Die Disziplin weigert sich seit über einem Jahrhundert die unterschiedlichen Voraussetzungen für Männer und Frauen an der Wirtschaft teilzuhaben, in ihre Modelle zu integrieren. Es ist umso unverständlicher, da die Kritik, die sich die Volkswirtschaftslehre oft öffentlich gefallen lassen muss, fast banal erscheint. Wenn in der Öffentlichkeit die VWL kritisiert wird, fallen schnell Sätze wie „der Markt regelt alles“ als vermeintliches Mantra der Ökonom*innen, obwohl in jedem Grundstudium „Marktversagen“ als Teil der Wohlfahrtsökonomie gelehrt wird.

Auch der „Homo Oeconomicus“ muss immer wieder herhalten, als vermeintlicher Beweis der disziplinären Realitätsferne, obwohl er, wenn er denn überhaupt noch verwendet wird, einzig eine Erleichterung für Berechnungen ist und als Baseline fungiert (nach dem Motto: „Wenn es für den Homo Oeconomicus schon nicht funktioniert, funktioniert es für nicht rationale Agenten erst recht nicht“). Die Annahme der rationalen Individuen und perfekten Märkte ist eher etwas, das neoliberale Nachwuchspolitiker*innen auf Twitter für bare Münze nehmen, aber nichts, das in der internationalen Ökonomie ernst genommen wird. Wohingegen die Unterschiedslosigkeit im Zugang zu Ressourcen von Mann und Frau ein kaum infrage gestelltes Faktum der VWL ist. Es herrscht weiterhin die Meinung, dass zwei Individuen, die sich gleich verhalten (wenn auch eventuell irrational) am Markt (der durchaus Versagen kann) die gleichen Ergebnisse erzielen. Eine absurde Vorstellung.

Wenn Scott “Das weibliche Kapital” von der Gleichstellung der Frau als dem größten vorhandenen Wachstumsbeschleuniger spricht, dann tut sie das nicht in dem Glauben an das Allheilmittel des ständigen Wirtschaftswachstums (ganz im Gegenteil). Vielmehr hält Scott der Wirtschaftswissenschaft den Spiegel vor. Eine Disziplin, deren Mitglieder das Wachstum von Volkswirtschaften noch allzu oft als wichtigstes Maß zur Messung gesellschaftlichen Fortschritts und Wohlstands nutzen, ignoriert freiwillig den potenziell größten Wachstumsfaktor.

In den letzten 30 Jahren gab es durchaus Forschungen dazu, Gender-Spezifikation in ökonomische Modelle zu integrieren, aber diese Ansätze der “feminist economics” [3] sind weit davon entfernt, reale Auswirkungen darauf zu haben, wie einflussreiche ökonomische Modelle heute gelehrt oder angewendet werden. Das Frauen systematisch schlechteren Zugang zu allen Märkten haben als Männer wird aus allen populären Modellen wegrationalisiert. Meistens, weil dieses Problem von den entsprechenden Wissenschaftler*innen negiert wird. Mit dem Argument, dass Frauen, die sich wie Männer verhalten, auch die gleichen Erträge haben würden wie Männer, wird das Problem von Anfang an in das Reich der Mythen verbannt. Die Schuld wird, wie so oft in der Geschichte, bei den Frauen selbst verortet.

80 aus 85

Die Ursache dieses Problem ist offensichtlich. Die Wirtschaftswissenschaften, angefangen bei Adam Smith über John Maynard Keynes bis zu Paul Krugman sind eine Wissenschaft von weißen Männern für weiße Männer. 80 der 85 Preisträger des Nobel Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften sind weiße Männer. Lediglich die beiden in Indien geborenen Amartya Sen und Abhijit Banerjee, der Schwarze Ökonom William Arthur Lewis und die beiden einzigen weiblichen Gewinnerinnen Elinor Ostrom und Esther Duflo durchbrechen diese Riege. Nun mag man argumentieren, dass dieser Preis sowieso irrelevant ist, aber er bestimmt zum einen immer noch, welche Stimmen in der öffentlichen Debatte um ökonomische Fragen gehört werden und ist zum anderen ein Indikator dafür, wessen Forschungen als relevant betrachtet wird. In dieser einseitigen Perspektive liegt das größte Problem der Wirtschaftswissenschaften im 21. Jahrhundert.

Dass dieses System lange Daten produziert hat, die nicht die tatsächliche Situation von Frauen widerspiegeln, verwundert kaum. Zumal sie von Forscherinnen oder Schwarzen Ökonom*innen wesentlich mehr verlangt als von ihren weißen, männlichen Kollegen. Will eine Schwarze Ökonomin systematische Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen oder Männer und Frauen in Modellen etablieren, so bräuchte sie neben ihrer ökonomischen Expertise unter anderem auch eine anthropologische und/oder politikwissenschaftliche, um die Relevanz ihres Anliegens überhaupt erst einmal zu begründen. Nur wenn sie diese Expertise in anderen Disziplinen nachwiese, würde ihr eventuell zugehört. So geht es auch Linda Scott. Es hätte nicht gereicht, wenn sie in ihrem Buch die Ungleichbehandlung von Frauen als Tatsache vorausgesetzt hätte, um sich anschließend auf Lösungsvorschläge zu konzentrieren. Sie musste zuerst belegen, dass das Problem existiert und nicht durch die freien Entscheidungen von Frauen ausgelöst wird und dann zahlreiche absurde und pseudowissenschaftliche Argumente zu vermeintlich natürlichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen widerlegen, um zu ihrem eigentlichen Punkt zu kommen.

Und darin liegt vielleicht die größte Stärke und Leistung der Bücher von Scott und Sears – dass sie diese Arbeit zukünftigen Forscherinnen abgenommen haben. Beide liefern eine so große Menge an wissenschaftlichen Belegen und Daten, dass sie nicht einfach mit einem „Männer und Frauen sind von Natur aus unterschiedlich“ oder „der Gender Pay Gap existiert nur, weil Frauen sich schlechter bezahlte Berufe aussuchen“ [4] abgetan werden können. Das macht sie zu Texten, deren Wert in der öffentlichen Debatte um die wirtschaftliche Situation und Gleichberechtigung von Frauen nicht unterschätzt werden darf.

[1] Ich verwende an dieser Stelle den Begriffe Low Income Länder anstelle von den diskriminierenden Begriffen „Entwicklungsländer“ oder „3. Welt Länder“. Es gibt in der ökonomischen Praxis feste Grenzen die Länder anhand des BIP pro Kops in Low-Income Countries, Middle-Income Countries und High-Income Countries einteilen. Diese Begriffe sind sowohl wissenschaftlich genauer und reproduzieren keine Stereotype von „unterentwickelten“ Ländern. Ich ermutige jede*n in Zukunft ebenfalls auf diese Begriffe zurückzugreifen.

[2] Die Daten stammen aus Linda Scotts „Das Weibliche Kapital“ oder Joni Seagers „Der Frauenatlas“. Davon abweichende Quellen sind weiter unten aufgeführt.

[3] 1988 veröffentlichte die neuseeländische Ökonomin Marilyn Warin “If Women Counted” und begründete damit die “feminist economics”. Seit den 90er-Jahren gibt es verstärkt Arbeiten, die aufzeigen wo die Wirtschaftswissenschaften einen Gender-Bias haben, welche negativen Folgen dieser hat und wie er adressiert werden könnte. Nilüfer Çagatay, Myra Strober, Alisa McKay, Nancy Folbre und Julie A. Nelson gehören zu einigen der relevantesten Ökonominnen der feministischen Wirtschaftswissenschaften. Bezeichnend für den Stand der deutschen Debatte diesbezüglich ist, dass es nicht mal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zu dieser Disziplin der VWL gibt.

[4] Was den Gender Pay Gap angeht, ist das die wohl beliebteste Ausrede, um ihn zu negieren. Tatsächlich ist die Kausalität aber andersrum. Berufe, die vor allem von Frauen ausgeführt werden, werden schlechter bezahlt. Treten in einen Beruf, der vormals von Männern dominiert wurde, mehr Frauen ein, sinkt der Lohn.

Zusätzliche Quellen:

The World Bank, 2018, „Unrealized Potential: The High Cost of Gender Inequality in Earnings“

Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Röhl/Schmidt, 2010, „Unternehmensnachfolge durch Frauen“

https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/oxfams-studie-sozialer-ungleichheit-12-milliarden-stunden-arbeit-ohne-bezahlt

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