Jahr: 2020

Queere Literatur ist politische Literatur [Queering Literaturbetrieb]

Queering Literaturbetrieb
In den letzten Jahren ist ein Trend queerer Literatur auszumachen, in Übersetzung feiern Autor*innen wie Ocean Vuong, Maggie Nelson oder Edouard Louis große Erfolge. Dennoch haben queere Autor*innen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Literaturbetrieb, immer noch zu wenig Präsenz und Mitspracherecht. Diskriminierung, Sexismus, LGBTIQ+-Feindlichkeiten und Ignoranz gehören leider weiterhin zum Alltag. Die neue Kolumne Queering Literaturbetrieb widmet sich in kurzen Essays den Dissonanzen zwischen Literaturproduktion und Verlagswesen. Sie fragt nach dringlichen Themen und Diskursen innerhalb der Gruppe der queeren Schreibenden. Eva Tepest, Katja Anton Cronauer, Kevin Junk und Alexander Graeff haben sich als Autor*innen zusammengeschlossen, um mit dieser neuen Kolumne den aktuellen Wasserstand der queeren, deutschsprachigen Literatur auszuloten. Sie wollen mit ihren Essays individuelle Erfahrungen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensrealitäten zusammentragen und zugleich ein größeres Bild von aktuellen Chancen, Ambivalenzen und Missständen aufzeigen.

 

Eine Kolumne von Alexander Graeff

 

Eintritt in eine neue Welt

Als ich vor 15 Jahren meine erste Erzählung veröffentlichte, war das für mich der Eintritt in eine neue, zuvor verschlossene Welt. Ich war ein Glückspilz, denn ich hatte nur vier Jahre, nachdem ich nach Berlin geflohen war, einen Verlag gefunden, der mit meinen frühen literarischen Versuchen etwas anfangen konnte.

Mein Verleger schien außerdem Interesse an meiner Person zu haben. Er lud mich auch privat ein, wie ich es damals in meiner Unsicherheit bezeichnete. Es folgten eine Reihe sakraler Lesungsveranstaltungen in schicken Mitte-Clubs und – für meine Verhältnisse – großbürgerliche Abendessen mit anschließenden Diskussionen über Gott und die Welt im Raucherzimmer.

Da ich mir mit einem Philosophiestudium zwei Jahre zuvor einen Jugendwunsch erfüllt hatte, kannte ich akademisches Sprechen bereits aus dem Studium. Was die Gäste besagter Abendessen und die anderen Autor*innen in den schicken Mitte-Clubs aber mit Sprache anstellten, faszinierte mich ebenso wie es mir unüberwindliche Barriere war. Meine eher bildungsferne, kleinbürgerliche Herkunft und mein Aufwachsen in der Provinz versuchte ich möglichst zu verstecken. Ich bemühte mich, halbwegs Hochdeutsch zu sprechen und die durch meinen Dialekt verunstaltete Grammatik zu korrigieren, bevor mir das Gepolter aus dem Mund geflogen kam. Die Empfehlung meines Verlegers, eine Sprechausbildung zu beginnen, fühlte sich anfangs zwiespältig an.

Heteronormative Verfugung

Von sichtbarer Queerness, für die Berlin in der ganzen Republik ja bekannt war und ist, konnte in diesen Kreisen nicht die Rede sein. Die Gesellschaft, in die ich eintauchte, war durch und durch heteronormativ verfugt. Die wenigen offen schwulen oder noch weniger lesbischen Autor*innen in der Peripherie stellten keinen wirklichen Bruch mit dieser Struktur dar – ganz im Gegenteil. Durch diese Gegenbeispiele fühlte sich die Mehrheit in der Norm erst bestätigt.

Ich passte weder ins heterosexuelle Bild, was andere wahrscheinlich von mir hatten, noch taugte ich als schwules Gegenbeispiel. All das Wissen von heute über die Eigenständigkeit nicht-monosexueller Orientierungen, über Bisexual Erasure, Bi+- und Pansexualität oder Polyamorie besaß ich damals noch nicht. Einmal mehr fehlten mir die Worte, um das Bild, was sich andere von mir machten, korrigieren zu können. Das betraf meine sexuelle Orientierung ebenso wie die Klasse meiner Herkunft. Allein, dass ich als Mann Schmuck trug, löste schon eigenartig verklemmte Belustigung aus, meine Tätowierungen versuchte ich, wo es ging, zu verbergen. Die Dominanz traditioneller und distinguierter Haltungen in jener jungen Berliner Literaturszene, in der ich mich fortan bewegte, änderte sich auch nicht, als ich Jahre später den größeren Literaturbetrieb kennenlernte. Auch als – nach zwei Jahren Sprechausbildung – erste Lesereisen und Präsentationen auf der Leipziger Buchmesse folgten, blieb das Berliner Umfeld unverändert. Einzige Lichtblicke für mich waren ein paar queere und sehr kollegiale Autor*innen und Verleger*innen, die ich auf der Messe kennenlernte. Beziehungskonstellationen jenseits der Ehe oder nicht-heterosexuelle Orientierungen waren im Berliner Kreis aber weder Themen unserer Gespräche noch kamen sie in der Literatur vor.

In den Siebzigerjahren geboren, war ich im Schnitt fünf bis acht Jahre älter als die anderen Autor*innen und Verleger*innen, mit denen ich in Berlin zu tun bekam. Warum ich mit Mitte 30 noch nicht verheiratet sei, wollte man wiederholt von mir wissen. Jahre später gefolgt von der Frage, warum ich mit 40 immer noch kinderlos sei. In dieser neuen Welt, die ich betreten hatte, traf ich auf Achtzigerjahrgänge, die bürgerlicher waren als meine Eltern. Dass die jungen Menschen dieses Kreises bereits mit Anfang 20 souverän über Buchmessen stolzierten, Verlage gründeten und reflektierte Bücher veröffentlichten, war natürlich ohne ihre bildungsbürgerliche Herkunft undenkbar. Es ging gar nicht so sehr um ökonomisches Kapital, das die Eltern ungern in die verrückten Projekte ihrer Kinder stecken wollten, vor allem war es das kulturelle und symbolische Kapital, was ihnen den Mut und die Sicherheit bescherte, solche großen Schritte trotz der wenigen Lebensjahre zu wagen.

Surreale Literatur

Über die Jahre arbeitete ich an meiner literarischen Stimme und widmete mich natürlich auch den ‚klassischen‘, kulturellen Beständen, die mich reizten, die ich aber immer gebrochen sehen wollte. Gleichzeitig wollte ich die herkömmliche Wahrnehmung von Welt nicht radikal ablehnen, sie doch aber herausfordern und nicht einfach nur mit meiner Literatur aktualisieren. So entwarf ich zahlreiche Parallelwelten, bürgerliche ebenso wie phantastische und utopische. Ich wollte auch problematische Figuren schaffen: brutale Väter, faschistische Großväter, unterdrückte Mütter, mythisierte Töchter, triumphierende Göttinnen, suizidale Söhne. Das war meine Art, nicht nur affirmativ mit griechischen oder ägyptischen Mythen, Literatur- und Kunstgeschichte oder Religionen umzugehen.

Als in einer Rezension meines ersten Erzählbandes Gedanken aus Schwerkraftland (2007) von surrealer Literatur gesprochen wurde, fand ich diese Wendung so treffend, dass ich sie bis heute verwende. Das war es, was ich wollte: Schreiben gegen den naiven Realismus, Schreiben gegen die problematischen (Erzähl-)Strukturen im Mythos, Schreiben gegen die Normen. Und ich musste schreiben über meine eigene Sozialisation und Herkunft, was bedeutete, über Gewalt zu schreiben, vor allem über sprachliche Gewalt und Sprachlosigkeit.

Das Private ist politisch

Ich verstand meine Literatur damals zwar als kritisch und surreal, aber immer noch nicht als politisch. Die psychosozialen Zugriffe schienen mir plausibler. Wieder war es mein Verleger, der mich auf den Gedanken brachte, dass die literarische Verarbeitung der Biografie (heute würde man es autofiktionales Schreiben nennen) auch politisches und selbstermächtigendes Potenzial habe. Das Private ist politisch. Aus anderen Kontexten kannte ich das Motto bereits. Zögerlich freundete ich mich mit dem Gedanken an, dass mein Schreiben die herkömmliche literarische Reflexion meiner Ego-Perspektive übersteigen könnte und widmete mich diesem Zugriff in meinem zweiten Buch Minkowskis Zitronen (2011).

Es dauerte noch einmal drei Jahre, dann entschied ich mich, auch jenseits des eigenen Schreibens politischer zu werden. Das bedeutete, gerade in dieser bildungsbürgerlichen, heteronormativen Welt des Literaturbetriebs soziokulturell aktiv werden zu müssen. Das war der innere Beweggrund. Es gab auch einen äußeren. Die gesellschaftspolitischen und später parlamentarischen Veränderungen in Deutschland machten die Sache dringlich, denn so viel wusste ich aus der Geschichte dieses Landes: Das Bürgertum mit seiner Tendenz, abweichende Teile des sozialen Miteinanders unsichtbar zu machen, ermöglichte erst den Aufstieg rechtsnationalistischer und faschistischer Projekte und Parteien. Es war fast so, als ob der immer dringlicher werdende Kampf gegen die politischen Unsäglichkeiten wie AfD, Demo für alle, PEGIDA & Co. in meine Literatur drängte. Nicht ich wählte diesen Kampf als Thema, er wählte mich und meine Literatur.

Anti-queere Struktur trotz des angeblichen Trends

Seit ich mich für mehr Sichtbarkeit queerer Autor*innen und Stoffe im Literaturbetrieb einsetze, hat es Gegenwind gegeben. Zu glauben, dass sich nach zehn Jahren etwas Grundlegendes geändert haben könnte, war naiv. Ein bisschen Bewegung kam in den Betrieb, Konzepte wie „Literatur als soziale Praxis“ z. B. entstanden. In den letzten Jahren wurde sogar von einem Trend queerer Literatur gesprochen. Übersetzungen von Ocean Vuong oder Edouard Louis erschienen in großen Verlagen, wurden von der Kritik gefeiert und queere Klassiker wie Eileen Myles endlich ins Deutsche übersetzt. Und doch ist die Präsenz queerer Autor*innen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur immer noch bescheiden.

Die Reaktionen einiger meiner Leser (es waren tatsächlich nur cis-männliche), die wohl dachten, ich knüpfe mit meiner Literatur und der Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte, Mythologie und Religionen an die kulturellen Arrangements patriarchaler, familialistischer und ethnozentristischer Sinnbezüge an, waren geprägt von Verwirrung und Enttäuschung. Ich sprach und schrieb jetzt nämlich über meine eigene Literatur, wie ich sie deute. Das hatte ich mich vorher nicht getraut. Die Enttäuschungen waren groß. So groß, dass ich Schimpftiraden per Email oder anderes Getrolle auf den Social Media-Präsentationen meiner queeren Projekte, wie z. B. der Lesereihe „Schreiben gegen die Norm(en)?“, über mich ergehen lassen musste.

Die direkten Reaktionen hätte man erwarten können. Es gab aber auch subtile. Welche, die anti-queeres Potenzial unterschwellig deutlich werden lassen; welche, die strukturell begründet sind durch Institutionen, Medien, Sprache und Mentalität. Einstellungen, die so fest zementiert und naturalisiert sind, dass sie trotz oberflächlicher Offenheit gegenüber von der Norm abweichenden Positionen und Literaturen (siehe Tokenismus), scheinbar keine Reflexion, ja nicht mal Wahrnehmung möglich machen.

Kulturelle Selektionsprozesse in Deutschland

Das sind dann die Situationen, in denen ein linker Berliner Verleger, der sonst um differenzierte Sprache und sozialphilosophische Sensibilität bemüht ist, Menschen mit nicht-heteronormativer Orientierung als „Gender“ bezeichnet und auch nach mehrmaligen Nachfragen meinerseits keine Stellung dazu bezieht. Oder, wenn ein Buchhändler bei einem großen Publikumsverlag anfragt, was im Klappentext eines Spitzentitels das Wort „queer“ bedeute und warum der Verlag ein so unbekanntes Wort verwende. Dieses Verhalten ist fester Bestandteil kultureller Selektionsprozesse in Deutschland. Etwas, was feministischen, queeren, jüdischen und (post-)migrantischen Positionen kulturbedingt seit eh und je widerfährt: dass sie unsichtbar gemacht werden.

Die kulturimmanente deutsche Marginalisierung zeigt sich auch an einer Erfahrung, die eine befreundete Berliner Jurorin in der Sitzung eines renommierten Verlagspreises machte. Eine im Literaturbetrieb gut situierte Mitjurorin kommentierte das queere Buchprogramm des Berliner Querverlags mit „das will doch niemand lesen“. Meine Freundin, selbst Autorin, die queeres Engagement in der Literatur unterstützt, hatte den seit 1995 bestehenden Querverlag für den Preis vorgeschlagen. Selbst ausgeprägte und über Jahre hinweg bewährte, progressive Strukturen schützen also nicht vor der Unsichtbarmachung durch die hegemoniale Mehrheitsmeinung bestimmter literaturbetrieblicher Instanzen und mächtiger Entscheider*innen.

Was leider auch nicht schützt, ist die Zugehörigkeit zur queeren Community. Zugegeben, diese Community ist heterogen, man kann nicht unbedingt Solidarität erwarten, auch wenn sie für die politische Meinungsbildung so wichtig wäre. Wenn man aber von einem Herausgeber zu hören bekommt, dass er ungern zur „besseren Frauenbeauftragten mutieren“ wolle, nachdem man nach der Geschlechterverteilung der Autor*innen einer queeren Anthologie gefragt hat, ist einfach nur entmutigend. Was mich ebenso immer wieder verwundert, sind Strukturen, die seitens (pro-)queerer Verwerter*innen auf den einkalkulierten Ausschluss von Personen des sogenannten Milieus der unteren Mitte setzen. Wenn Buchpräsentationen – die meistens nichts weiter als Marketingveranstaltungen für das neu erschienene (queere) Buch sind – bewusst in distinguierten Locations des sogenannten sozial gehobenen Milieus veranstaltet werden, ausschließlich in englischer Sprache stattfinden und der Eintrittspreis 15 Euro beträgt.

Kultur ohne Vagheit und Variabilität ist nicht denkbar

Nach wie vor setzen sich also die Abgrenzungen vom jeweils signifikant Anderen durch. Identitäten haben zwar Konjunktur, viel zu selten werden sie aber als Ansammlung unterschiedlicher Verortungen unter anderen Verortungen betrachtet. Das gilt auch für den Literaturbetrieb. Wer einmal in einem Genre schreibt, schreibt in der Regel immer in diesem Genre. Wer verwertend tätig ist, hat es schwer, auch produzierend tätig werden zu können. Wer queer ist, kann nicht auch noch feministisch sein oder migrantisch oder aus Ostdeutschland oder jüdischen oder christlichen Glauben haben. Das sind doch viel zu viele Merkmale! Es überfordert.

So wie Verleger*innen, Lektor*innen, Buchhändler*innen und Leser*innen von allzu viel Diversität angeblich auch überfordert sein sollen: Von homosexuellen Figuren in Romanen, die eine Hauptrolle spielen oder kein Interesse an Sex haben. Oder von Erzählungen, deren narratologischer Aufbau nicht dem mythischen Prinzip der maskulinen Heldenreise entspricht, in der Bisexualität bloß ein Abenteuer ist, das durch die heldenhafte Entscheidung für Heterosexualität überwunden werden muss. Die Literatur ist auch in dieser Hinsicht kulturelles Symbol für einen alles durchdringenden Entscheidungszwang. Da wundert es nicht, dass auch jene Texte angeblich überfordern, in denen die Pronomen „sie“ und „er“ fehlen.

Das alles sind Mythen und Klischees. Kultur ohne Vagheit und Variabilität ist doch gar nicht denkbar. Menschen ohne Vagheit und Variabilität sind nicht denkbar. Dabei braucht man vor Identitäten ja keine Angst zu haben. Gefährlich werden sie nur, wenn sie sich nicht verändern, sondern starr bleiben, wenn sie nicht floaten oder strayen. Sozialwissenschaftlich gesehen sind Identitäten streunende Hunde, die ins Wasser gefallen sind und nun hierhin und dorthin treiben. Ab und zu rudern sie beherzt mit den Vorderbeinen, um starker Strömung zu begegnen oder Untiefen zu umschwimmen. Das ist die Bewegung menschlicher Identitäten im Verlauf der Biografie, der empirisch belegte Normalfall. Und doch wird in weiten Teilen immer noch am singularistischen Identitätsmythos und an anti-pluralistischen Erzählhaltungen festgehalten.

Queere Figuren und Stoffe besitzen genauso Identifikationspotenziale wie heterosexuelle Charaktere, Literatur über „weibliche Körper“ ist genauso relevant (vor allem dringlich) wie der einseitige Kanon der Literatur über „männliche Körper“. Literatur ist auch dann spannend und interessant und unterhaltsam, wenn sie sich kritisch mit sozialen Normen, gesellschaftlichen Machtgefügen, mit Klassismus, Rassismus oder Zweigeschlechtersystem auseinandersetzt, oder sich literarischen Kategorisierungen und Klassifizierungen entzieht.

Ich werde oft gefragt, was queere Literatur eigentlich genau sei. Was sie ist, interessiert mich nur zweitrangig. Was sie sein könnte, finde ich fruchtbarer für mein Denken. Queer ist für mich vor allem ein bestimmtes Denken. Und das bedeutet immer mehr als nur der Verweis auf von der Norm abweichende Geschlechter, Geschlechtsidentitäten oder sexuelle Orientierungen. Ich denke queere Literatur als zeitgemäße politische Literatur. Das könnte sie sein – ohne selbst Politik sein zu wollen oder politische Symbole statt künstlerischer Symbole zu verwenden. Queere Literatur stört den hegemonialen Symbolkanon durch die Geschichten der bisher Ungehörten, sie macht die Strukturen und sozialen Verfugungen sichtbar, sie ermöglicht kritische Unterhaltung.

 

Photo by Jr Korpa on Unsplash

Podcast-Kolumne: “Outward”

von Svenja Reiner

 

In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es keine queeren Menschen. Das ist natürlich Unsinn. In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es mit großer Sicherheit queere Menschen, ich wusste es nur nicht.  Auch meine Schule erscheint mir rückblickend als ausschließlich heteronormativer Ort, an dem die meisten Schüler:innen sowieso nicht verpartnert waren und Sexualität, wenn sie denn Thema wurde, weiß, heterosexuell und monogam gedacht war. In der Stadtbibliothek lieh ich dicke Fantasybücher von Kai Meyer oder Philip Pullman aus, im Fernsehen verfolgte ich die Rollen von Wolke Hegenbart (Mein Leben und ich) und Pegah Ferydoni (Türkisch für Anfänger) und selbst wenn ich zu Serien wie The L World oder Buffy geschaltet hätte, bezweifle ich, dass mir Homosexualität, Queerness und Queer Culture nicht doch als etwas diffus Anderes erschienen wären.

Den Unterschied zwischen sex und gender, die Buchstaben des Akronyms LGBTQIA+ oder die Bedeutung der Regenbogenflagge lernte ich erst in meinem Studium kennen und mittlerweile gibt es queere Personen in meinem Freund:innenkreis. Trotzdem bewerte ich mein Wissen über Queere Künste, Geschichte und Literatur bis heute als sehr defizitär. Ein Podcast, der mich extrem weitergebildet hat, ist Outward, der (mittlerweile) von Christina Cauterucci, J. Bryan Lowder und Rumaan Alam moderiert wird. 

Ähnlich wie seine große Schwester The Waves: Gender, Relationships Feminism ist Outward kein lustiger Laberpodcast sondern eine präzise Produktion mit redaktionell recherchierter Agenda, Hintergrundinformationen und kritischen Nachfragen. Die große Stärke der drei Journalist:innen ist dabei, weder verkrampft noch trocken zu referieren. Outward der monatliche queere Salon von drei  LGBTQIA+-Intellektuellen,  von denen man unbedingt eingeladen werden möchte um dann beeindruckt lauschend in der Ecke zu sitzen. Neben einer guten Portion Queer History (Remember, Stonewall was a riot!), mochte ich vor allem die Folgen zu Queer Families, die Wohn- und Lebensgemeinschaften über die normative Kernfamilie hinausdenkt, oder die Diskussionen des Trios zu queerer Representation in Kinofilmen. 

Da gibt es beispielsweise die exclusively gay moments von Hollywoodfilmen wie Die Schöne und das Biest (2017) oder in Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers (2019), die Lowder wie folgt kritisiert: “It is absurd to think that any queer person anywhere is like: ‘Oh, god, I feel so seen by these two extras in this billion dollar Star Wars Movie kissing for one fifteenth of a second on screen!’”. Alam vermutet, dass gerade Initiativen wie GLAAD, die die lesbische, schwule und bisexuelle Figuren zählen, zu dieser Form der Darstellung beigetragen haben: Ob eine queere Person für 20 Sekunden oder 20 Minuten zu sehen ist, welcher Anteil ihr in der filmischen Narrative gegeben wird, ob sie stimmlos bleibt oder agency entwickelt – all das wird in dieser Form der Erhebung nicht berücksichtigt. Pro queerem Auftritt bekommt der Film, klassischerweise vor dem Erscheinungsdatum, einen zusätzlichen Credit und gilt folglich als besonders divers

Aktuell gibt es 30 Outward-Folgen in einstündiger Länge. Wer nicht so viel Zeit beim spülen oder spazieren gehen hat, dem empfehle ich die Episode zu Queerer Spiritualität in der Astrologie als besonderer Schnittpunkt zwischen verbindenden Narrativen, strukturierender Sinngebung und flexibler Bedeutungsmuster erklärt wird; die Folge zu Queerem Leben jenseits der großen Metropolen und die beiden Ausgaben über queere Sexualität während der Pandemie und bzw. Asexualität. Eine besondere Leistung dieses Podcasts ist, dass er sich für heterosexuelle Personen zugänglich ist, sich aber grundsätzlich an eine vielfältige, queere Community richtet. Oktober war Queer History Month und ich vermute, dass viele von uns in diesem Thema Nachhilfe brauchen. Also: Put this on your gay agenda.

Care-Collage: Morsezeichen zwischen Fürsorge und Text

von Barbara Peveling

“Standing in the light of your halo
I got my angel now”
LP

Eins ist die erste Woche mit Kindern im Stipendium. Sie kommen, um zu bleiben. Wie das so ist mit Kindern. Corona hat die Vereinbarkeitslüge endgültig sichtbar gemacht. Was bleibt sind die Kinder und ich.

Der Engel ist schon da. Mit weit ausgebreiteten Flügeln geht er durch die Räume und lächelt. Die Haare fallen ordentlich und gerade auf den Rücken, wie Regen, der in langen Tropfen vom Himmel fällt. Er trägt eine Schürze. Der Engel ist schon so lange da. Er hat kein Geschlecht, aber wenn ich ihm eines zuschreiben würde, dann das einer Frau. Der Engel hat das Haar, die Finger, das Lächeln, und auch den gütigen Blick einer Frau.

Der Engel widerspricht und sagt, dass er weder Mann, noch Frau ist, sondern die Liebe selbst. Ich schaue ihn an, prüfend, und wende ein, dass Convetry Patmore ihn aber bereits im viktorianischen Zeitalter als Frau beschrieben hat. Eben die, die das Haus zusammenhält. Er lächelt, zuckt mit den Schultern und wirft einen abschätzigen Blick auf meinen Laptop, als würde er sich fragen, was ich überhaupt will, mit so einem Ding. Immerhin, überlegt er laut, habe ich Familie und ob ich schon all die Freude vergessen habe, die aus der Schwangerschaft und der Geburt und überhaupt, dass ich Kinder habe, das reicht doch völlig, warum ich denke, dass ich jetzt auch noch was schreiben muss. “Den Engel im Haus zu töten”, hat Virginia Woolf geschrieben, “wäre eine der Hauptaufgaben von schreibenden Frauen.”

Der Engel fragt mich unbeeindruckt, warum es hier keine Waschmaschine gibt. Wie sollen wir denn nun die Kleider der Kinder waschen? Ich reagiere genervt, sage, dass ich dafür keine Zeit habe, soll der Engel doch selbst bei den Stipendiengebern fragen, wieso hier keine Maschine steht. Der Engel geht durch die Räume, streicht die Betten glatt, schüttelt nervös die Haare, flattert mit den Flügeln.

Krankenpflege ist mein zweites ich. Ein Kind hat eine Zecke im Arsch, sein Bruder eine unter der Vorhaut. Ich archiviere die Parasiten, man weiß ja nie, auch der Hund hat eine ganze Sammlung vom Spaziergang mitgebracht, ihm schere ich das Fell im Garten der Residenz, eine wahre Zeckeninvasion, während die Kinder wieder online spielen und ich NICHT schreibe. Der Tierarzt verkauft mir wohlwollend Salben, die ich sieben Tage lang mindestens fünfmal dem Hund auf die Haut schmieren soll. Kann man mit der Paste auch Gedichte schreiben, will ich wissen, aber der Veterinär lächelt nur. Den Kinderarzt später frage ich schon gar nicht mehr, ob ich mit seinen Medikamenten auch auf Papier schreiben kann. Als ich zurück in die Schreibresidenz komme, sitzt der Engel mit überkreuzten Beinen auf der Herdplatte und nickt zufrieden.

Drei ist dieses verzweifelte Gespräch mit dem anderen Elternteil. Der besseren Hälfte unserer Familie, die mit ihrer Festanstellung das Einkommen und Überleben unserer Mannschaft sichert. Aber selbst bei einem sicheren Einkommen ist ständig Landunter. Und dann noch Corona. Der andere kann nicht kommen, ich muss hier alleine bleiben, mit den Kindern, dem Wunsch zu Schreiben. Der Engel schiebt die Kochtöpfe zusammen, meint, es sei doch schön hier, mit den Kindern zusammen im Haus, wenn es auch nur eine Residenz ist. Ich lache nur laut und fasse ihm zwischen die Beine, muss aber feststellen, dass da nichts ist, als eine Leere, an der ich mich nicht reiben kann.

Überhaupt diese Nächte, und vier, sie tragen mich durch die Tage, an denen ich wie eine Alkoholikerin nur auf den Abend warte, um mir die Worte hinter die Binse zu kippen, ich sehne mich nach den Momenten, an denen meine Finger über die Tastatur fliegen, die Arztpraxen geschlossen sind und selbst Zecken schlafen. Meine Nächte sind süß und immer steigt ein Kind zu mir in den Traum und wenn ich dann wach werde, liegt sein kleiner Körper neben mir, mit all seiner Wärme und diesem Geruch nach Ewigkeit, den nur Kinderkörper verstreuen können, Atemzug um Atemzug. Und ich weiß, dass es richtig ist, dass die Kinder hier sind, dass es so sein muss, denn nur so hat endlich auch die Zerrissenheit ein Ende, das hier und dort sein, mental load auf Distanz, wer holt jetzt die Kinder aus der Schule während ich in der Schreibresidenz bin, wenigstens das hat ein Ende.

Fünf. Betreuung, meine Kinder sind käuflich. In weniger als fünf Minuten haben sie ihre Wahl getroffen. Ich gebe mich großzügig und ohne Hintergedanken, nur beim Hinausgehen, bemerke ich, dass es jetzt aber kein Meckern mehr gibt, wenn sie in den fremden Hort gehen müssen. Diesen Ort, mit Menschen, Kindern vor allem, die ihnen völlig unbekannt sind. Leicht ist das nicht, wir wissen es, unter Menschen wird dem Fremden nichts geschenkt. Die Kinder nicken und halten die Geschenke fest in den Händen.

Wie billig ist das denn! Schimpft der Engel, als wir nach Hause kommen. Erst vor dem Einschlafen verrät mir das ältere Kind flüsternd, dass es dem Kleinen geraten hat, dass billigere Spiel zu nehmen. Sein Atem riecht nach Schokolade, als er mir erklärt, dass er das für mich getan hätte, ich verdiene ja so wenig Geld mit dem Schreiben. Später fallen ein paar Tränen auf meine Tastatur und natürlich ist es dann auch der Kleine, der am nächsten Tag beim Abgeben weint und ich schaue noch seinen dicken Beinen hinterher, als ihn sein Bruder mit sich über die Schwelle in den Hort zieht und glaube mein Herz bricht. Mutter in Schreibresidenz, ich.

All die sechs und so viel mehr kleinen Momente, in denen wir eins sind. Diese Augenblicke wachsen und blühen wie Klee auf der Wiese. Wir tanzen zur Musik der Rewe-Werbung am Abend. Der Kleine weckt mich um vier Uhr morgens. Wir stehen lange am Fenster und hören den Vögeln beim Aufwachen zu. Dann fragt er mich, warum sie gerade bei Sonnenaufgang so schön singen. Als er wieder eingeschlafen ist, setze ich mich hin und schreibe und schreibe mit singenden, flatternden Vögeln im Kopf. Auch der Engel hat sich wieder schlafen gelegt und schnarcht.

Siebenmal drehe ich den Kaiserschmarren in der Pfanne. Der Teig klebt. In der Residenz gibt es kein Zimt und keinen Zucker. So ist das eben, wenn man nur vorübergehend irgendwo wohnt. Alles fehlt, Zimt und Zucker, die richtige Pfanne, vor allem die Waschmaschine, ruft der Engel dazwischen. Den Schmarren schmeiße ich in den Müll und drehe die Hemden der Kinder einfach auf die andere Seite. Ich hole einen Apfelkuchen aus dem Tiefkühlfach und stecke eine Kerze drauf. An diesem Tag habe ich zehn Seiten geschrieben, das tröstet mich, denn wenn ich zu Hause bin, dann backe ich selbst den Kuchen, dann wasche ich, putze, räume auf und schreibe nicht.

Acht Uhr ist schon lange vorbei und er hat Tränen in den Augen. Ehrlich Mama, ich habe nur mit dem Steinmonster gespielt, so und so und so. Er macht die Bewegungen nach, lässt das Monster nochmal über den Nachttisch gleiten, es hüpft über die Lampe. Das muss der Moment sein, an dem das Monster den Lampenschirm zerschlug.

Ich seufze, schüttele den Kopf. Mein Kind fängt wieder an zu weinen.

Wenn man in einer Schreibresidenz mit seinen Kindern ist, dann muss man dazu auch die richtigen Kinder haben. Sie müssen brav sein und stillhalten können und nichts kaputt machen. Sie müssen gut erzogen sein: Schreibresidenzkinder, die sich woanders so benehmen, als wären sie nicht zu Hause. Nicht dort, wo sie rumtoben können, wo auch mal was kaputt gehen kann, weil man ja zu Hause ist. Am besten, man hat keine Kinder, dann kann auch nichts kaputtgehen in der Schreibresidenz wird dann nur geschrieben, wie es sich gehört.

Der erste Abend, neun, der Besuch der großen Tochter ist eine Katastrophe. Dabei hatte ich mich so auf sie gefreut. Sie hat mich zur Mutter gemacht, und die anderen, die sie zur großen Schwester gemacht haben, hatten sich auch gefreut. Wir haben uns alle gefreut. Die kleinen Geschwister können vor Aufregung kaum die Beine voreinander setzen. Auch der Engel zittert erregt. Er ermahnt, mich, appelliert an meinen Mutterinstinkt. Ich soll auch das große Kind pflegen, hegen, sie nicht mit den Kleinen lassen, um für mich allein zu sein. Ich halte mir die Ohren zu.

„Sieg der Häuslichkeit über die Poesie“ schrieb Elisabeth Grube vor gut zweihundert Jahren und dass es immer noch so ist, ich so bin, oder wenigstens sehr lange war, macht mich wütend. Wir sehen uns die Stadt an, gehen in ein Museum, was man so macht als Familie und es ist schön, weil es sich gut anfühlt, wieder als ganze Bande unterwegs zu sein, zusammen. Zurück in der Wohnung schmeiße ich die Spätzle in die Pfanne, sage der Großen sie soll mal nachschauen, ich muss noch eine Mail an eine Verlegerin schreiben, in meinem Zimmer, allein nur diese Mail dauert dann mal wieder zu lange. Die Große will mich nicht stören, sie weiß doch, wie sehr ich ringe, doch sie kennt sich nicht aus, weiß nicht wie das geht mit Schnellkochplatte kochen, in ihrer Stipendienbude steht nur ein sehr alter Gasherd. Erst ist da dieser Geruch. Dann höre ich das hektische Hantieren mit dem Pfannenschieber aus der Küche, schließlich der Rauchalarm, schrill und sehr laut. Ich drücke vor Schreck auf absenden, die angefangene Email ist unvollkommen, ein unfertiges Gestammel, überhaupt, habe ich den Namen der Verlegerin falsch geschrieben. Doch jetzt rette ich erstmal den Herd, den Engel, die Pfanne, die Kinder. Der Hund hat angefangen im Rhythmus des Alarms zu jaulen. Ich klettere auf einen Stuhl und stelle den Alarm ab. Ein schwarzer runder Fleck auf der Tischmitte zeigt mir, wie gefährlich es ist, den Engel auszusperren. Ich schreie meine Wut und auch meine Verzweiflung durch den Raum. Ein großes Flügelrauschen, der Engel nimmt die Kinder in den Arm, auch die Große. Alle weinen. Ich schreibe nicht, ich kämpfe mit dem Alltag und vor allem mit mir, und zwar um jedes weitere Wort, auch um dieses hier.

Zehn und schon als ich mit dem Wagen um die Ecke biege, um die Kinder aus dem Hort zu holen, weiß ich, dass etwas nicht stimmt. Der Engel steht auf der Motorhaube wie eine Gallionsfigur mit flatternden Flügeln. Er brummt lauter als der Motor, denn ich bin wieder mal zu spät, habe mich gehen lassen beim Schreiben, konnte nicht aufhören. Die Erzieherin vom Hort steht schon an der Straße, meine beiden jüngeren Kinder neben sich. Sie sehen aus wie die Säulen eines antiken Tempels. Den Blick gesenkt. Die Worte sind da, so ist es nun mal, die Worte waren vor ihnen da und sie werden immer bleiben, bis zum Schluss. Die Erzieherin, meine Kinder, alle machen ein ernstes Gesicht. Mist, denke ich, es ist zu gut gelaufen mit dieser Residenz. Du hast mich zu oft ausgesperrt, schimpft der Engel, das hast du nun davon. Die Erzieherin stürzt auf mich zu, lässt mich nicht mal aus dem Wagen steigen, meint, das ginge so nicht, die Kinder wären mal wieder zu wild gewesen. Ich hole tief Luft. Ich schreie nicht. Dabei wäre es vielleicht an der Zeit zu schreien. Aber wer hörte mich denn, außer meinem Engel? Das Jugendamt? Die Fürsorge? Doch die Wut ist da. Sie steht zwischen uns, obwohl ich schweige, mich entschuldige, die Kinder steigen ins Auto. Der Engel schlägt mit den Flügeln. Ich muhe nur, wie eine Kuh auf der Weide, als wäre ich das dümmste Tier dieser Welt.

Elf, die Sache mit der Presse. Der Engel sitzt mal wieder beleidigt auf der Herdplatte, flattert hin und wieder mit den Flügeln. Aus einer unzuverlässigen Erzählerin wird eine unberechenbare Mutter. Das Flattern ist Wind auf unseren Gesichtern. Der Termin in fünf Minuten. Auf dem Rücksitz wird laut gestritten, ich versuche einzugreifen und bin so abgelenkt, dass ich die Ausfahrt verpasse. Die Nächste kommt erst in 25km. Ich rase mit gefühlten zweihundert über die Autobahn. Wahrscheinlich weniger, weil ich mir gar nicht so einen Wagen leisten kann, mit dem man so schnell fahren kann. Das Fahrzeug ist voller Kinder, sogar der Hund ist dabei, die ganze Familie. Wo sollen sie auch sonst sein, außer bei mir? Immer wieder schlage ich auf das Lenkrad, haue so fest drauf, dass mir die Finger wehtun, hinterher. Ich rufe Kacke und was mir sonst noch an Schimpfwörtern einfällt. Ich bin zu spät, weil ich immer zu spät bin; seit mir das Label der Elternschaft anhängt. Ich bin zu spät für Ausschreibungen, denn ich kriege meine Texte nicht fertig. Es klingelt auf meinem Handy, das ist die Nummer des Pressemenschen, er will wissen, wo ich bleibe. Ich antworte nicht, sondern schreie meine ganze Wut auf die Fahrbahn. Die Kinder schweigen, jemand weint, ich glaube, es ist der Hund.

Das ist, zwölf, Sommer und das Wasser steht mir bis zum Hals, also verbringe ich die Nachmittage am Badesee. Während die Kinder mit glücklichem Lächeln in Badehose über das Gras laufen, versuche ich, erfolglos, mich wenigstens aufs Lesen zu konzentrieren. Jetzt lasst mich mal in Ruhe. Sie trollen sich allein ins Wasser. Der Engel sitzt oben auf dem Baum, unter dem ich liege und streckt mir die Zunge raus. Drei Seiten, mehr habe ich nicht gelesen, dann höre ich lautes Geschrei. Ich weiß, es ist mein Kind, aber ignoriere es trotzdem. Guck mal Mama, dem Jungen kommt Blut aus dem Hinterkopf. Die Stimme kenne ich nicht, dafür aber den Hinterkopf, über den gerade gesprochen wurde. Hektisch packe ich die Sachen zusammen, fahre ins Krankenhaus. Es ist schon Mitternacht, als wir wieder in der Schreibresidenz sind, in der ich heute wieder nicht geschrieben habe. Als ich die Badesachen auspacke, fällt mir auf, dass ich das Buch am See vergessen habe. Auch der Engel ist nicht da. Sicher sitzt er unter dem Baum und liest.

Dreizehn und da ist die Fürsorge der anderen, ohne die es auch nicht gehen würde. Der Redakteur, der meinen Kindern Currywurst und Cola spendiert, um mit mir in Ruhe reden zu können. Die Koordinatorin der Residenz, die die Kinder hütet, als das Fernsehen kommt. Ohne Fürsorge geht das Schreiben nicht, geht Gesellschaft nicht, geht Literatur und Kunst nicht für Menschen, die außer produktiv auch reproduktiv sind. Und dann ist da noch diese Steckdose mit dem abgerissenen Stecker vom Ladegerät. Lass mich das machen, hat der Engel gesagt und mit beiden Händen und spitzen Fingern an den hervorstehenden Schrauben gezogen. Alles, was ich dann noch von ihm gesehen habe, war ein Funkeln und Leuchten, war der Moment, als der Engel sich endlich von mir verabschiedete.

„… to continue my story. The Angel was dead; what then remained?”

Virginia Woolf

 

Photo by Fábio Lucas

Chronik: Oktober 2020

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Erst jetzt haben wir erfahren, dass Chuck Tingle, der Doyen der Porno Parodie, schon im Juni ein neues Werk vorgelegt hat, das den vielversprechenden Titel Trans Wizard Harriet Porber And The Bad Boy Parasaurolophus trägt. Und das scheint uns eine Nachricht zu sein, von der wir in diesen Zeiten eigentlich viel mehr gebrauchen könnten. Wie überhaupt das Genre der Erotica mal wieder viel früher als alle anderen der wichtigen Pflicht von Literatur, uns Trost zu spenden, nachkommt – und sei es auch nur durch das Kichern über Geschichten, in denen Menschen Sex mit dem Virus haben. Und apropos Sex und Harry Potter: Hier ein vorbildliches Stück Kulturjournalismus über das Phänomen der “Snape Wives”, die eine eigene Untergruppe des Harry-Potter-Fandoms bilden und Energie vor allem in die Vorstellung steckt, wie es wäre mit dem offenbar falsch verstandenen Severus Snape verheiratet zu sein.

 

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Über einen neuen Fall des Geschichtenklaus berichtet die Süddeutsche Zeitung. Die Journalistin Hélène Devynck wirft ihrem Ex-Mann, dem französische Schriftsteller Emmanuel Carrères, vor, er habe in seinem neuen Buch “Yoga” gegen ihren Willen über sie geschrieben. Das ist nun nicht sonderlich schockiernd, denn solche Konflikte (Gern im Paket “Mann packt gegen Frau aus, aber es ist ja Literatur”) gehören zur Folklore des Literaturbetriebs. In diesem Fall scheint es aber eine regelrechte juristische Vorabsprache gegeben zu haben. “Devynck wirft ihrem Ex-Mann in der Vanity Fair vor, eine vertragliche Vereinbarung mit ihr gebrochen zu haben.” Man habe bei der Trennung vereinbart, dass er nie wieder über sie schreiben dürfe. Wir fragen uns: Kündigt sich hier eine neue Begleiterscheinung moderner Liebesgeschichten und ihres Scheiterns an? Muss im Zeitalter der Autofiktion in jeden Ehevertrag vielleicht eine Nicht-Narrativierungsklausel eingefügt werden, um zu verhindern, dass der ehemalige Ehepartner zum literarischen Paparazzo des eigenen Lebens wird?

 

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Wir haben den Trailer des Films “Enfant Terrible” über das Leben von Rainer Werner Fassbinder gesehen, und wie sollen wir das vornehm ausdrücken: It looks like shit. Es reicht wohl nicht zu zeigen, dass Fassbinder offenbar vor allem ein tyrannischer Regisseur mit Geniekomplex war, nein, man muss auch alles aus der Klischeekiste ziehen, was der Mythos deutscher Autorenfilm hergibt. Da darf Oliver Masucci als Fassbinder Sätze sagen wie “Alles ist Film, alles” und auf Vorbild Godard verweisen. Der scheiße nämlich auf Regeln und mache, was er will. Rebell, yeah. So geht es weiter mit dem Heraufbeschwören der Authentizität, was immer das heißen mag, außer, dass gesoffen, geraucht und Frauen vor der Kamera geschlagen werden, weil das halt Film sei. Wir sagen das nicht gerne, aber vermutlich würde es sich mehr lohnen, noch mal einen Fassbinder-Film zu schauen.  

 

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Eine kleine Gruppe von Menschen und ein König vergeben, wie jedes Jahr, einen Literaturpreis, und nachdem sich dieser Preis in den letzten Jahren endgültig als ziemlich üble Scherzveranstaltung entlarvt hat, bleibt uns eigentlich nur der Hinweis darauf, dass die Lyrikerin Louise Glück wohl nicht unverdient das schöne Geld einstreichen kann. Nicht verdient allerdings hat sie die Glosse, die in der Süddeutschen Zeitung zu diesem Anlass erschien, und in der die beiden Autoren eine Menge Spaß auf Kosten der Tatsache hatten, dass sie die Autorin vorher nicht kannten. Nicht Stockholm hatte in diesem Fall “den Feuilletons eine Nase” gedreht, sondern das Feuilleton sich selbst. Denn wenn man sich nicht grundsätzlich von Jubiläen, Preisen, Todestagen etc. vor sich hertreiben lassen würde, dann hätte man auch kein Problem damit, einmal etwas kurz zu recherchieren. Die Menschen können auch mal ein paar Tage auf ihre kulturellen Einordnungen warten.  

 

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Wem gehört eine Geschichte – das ist eine Frage, bei der es meistens auch um Geld geht. In dieser sehr interessanten Geschichte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wird erzählt, wie die Drehbuchautorin Anika Decker die Produktionsfirma von Til Schweiger verklagt, weil sie angemessen am Gewinn des Films Keinohrhasen beteiligt werden möchte. Mittlerweile hat Anika Decker übrigens einen ersten wichtigen Sieg errungen: Sie darf “die Unterlagen und Abrechnungen einsehen, aus denen hervorgeht, wie viel die beiden Filme in ihren verschiedenen Auswertungen eingenommen haben.

 

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Die Frankfurter Buchmesse musste dieses Jahr weitgehend ohne die Präsenz von wahlweise alkoholisiert marodierender oder verkatert schleichernder Literaturbetriebler:innen auskommen. Die allgemeine Trauer und Sehnsucht nach diesem Zustand bestimmte für ein paar Tage die Feuilletons. Hier wurde sie allerdings durch einen Lästerabend auf Zoom kompensiert. 54books kann an dieser Stelle nur sagen: Auch wir haben es vermisst.

 

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Es gab schon lustigere Jahre als 2020. Till Raether erzählt uns daher schon jetzt, was ihm in diesem Jahr so Freude gemacht hat.

 

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In der SZ reden (unabhängig voneinander) die Illustratorin und Zeichnerin Rotraut Susanne Berner und der Comiczeichner Felix Görman alias Flix über Geld. Beide berichten über die schlechten Konditionen im Betrieb. Zwar hat Berner inzwischen keine Probleme mehr mit den Konditionen. “Aber ich höre oft von jungen Illustratoren, die praktisch umsonst arbeiten, um gedruckt zu werden. Ich verstehe das, aber es ist eine Katastrophe.” Von dem Geld das als Rinnsal beim Illustrator ankommt, berichtet auch Flix: “Wenn man nur den Vorschuss sieht, dürfte man ein Comicprojekt gar nicht anfassen. Der liegt in der Regel zwischen 4000 und 6000 Euro. Davon kann ich zwei bis drei Monate leben, ich brauche für ein Buch aber ein Jahr, wenn es gut läuft. Wie sich das dann verkauft, weiß aber niemand. Damit kann ich also auch nicht wirklich rechnen.”

 

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Landauf landab war man sich einig, dass der Vorgang um Monika Maron und den S. Fischer Verlag nicht nur das Prädikat berichtenswert, sondern sogar besonders berichtenswert verdient. Keine Spur von der, noch während der Messe von Felix Stephan in der SZ beschriebenen, “ohrenbetäubenden Stille” im Betrieb: Von taz bis Welt, über MDR und ARD wird ausgerechnet, ob “Sarrazin + Tellkamp = Maron?” ergibt (Augsburger Allgemeine). Dabei hat sich doch nur ein Verlag von einer “Corona-Rebellin” (Nordkurier) losgesagt. Oder getrennt? Oder wurde sie gefeuert? 

In der Zeit zumindest geht Iris Radisch von einem “herzenskalten Akt” gegenüber Maron aus. Auch sie bemüht eingangs Rechenspiele (Stand jetzt: 39 Jahre, 19 Bücher, nächstes Jahr: 80. Geburtstag der Autorin, aber kein 40. Verlagsjahr und kein 20. Buch), um sich dann – wie viele andere – erstaunlich zu verzetteln. Zwar berichtet sie, dass Fischer lediglich keine weiteren Bücher von M.M. verlegen, die alten aber gerne halten möchte, verweist aber im folgenden Satz direkt auf den staatlichen Zensor der DDR, der (höchst mittelbar) Maron erst zu Fischer brachte. Der Vergleich, der zumindest räumlich im Text sehr auffällig ist, von staatlicher Zensur mit Vertragsfreiheit ist recht weit hergeholt. 

Dabei ist es für Radisch kein Argument, dass der neue Rechtsdrall von Maron durchaus für einige Unternehmen Anlass genug sein kann, keine weiteren Bücher mit dieser zu verlegen. Dass Fischer wiederum nicht heiß darauf ist, mit Kubitschek und Konsorten in einen Topf geworfen zu werden, lässt sie gelten und nimmt auch der Maron die Beteuerungen, sie hätte nicht gewusst, mit wem sie sich da eingelassen habe, nicht ab. Trotzdem sei “es nie eine gute Idee, Bücher nicht zu verlegen.” Was mindestens zweifelhaft ist. Bei dem Großteil der laut Statista im letzten Jahr über 70.000 veröffentlichten Bücher wäre es sicher eine gute Idee gewesen, diese nicht zu verlegen. Hier raunt es aber wieder im Subtext: Zensur, Zensur, DDR in Frankfurt (Main). Die “unverhältnismäßige Hartherzigkeit” bestand nun also einzig darin, das nächste Buch nicht zu verlegen. Der bereits angekündigte Essay Band wird laut Fischer auf Wunsch der Autorin nicht erscheinen. Unverhältnismäßiger Hartherzigkeit zieh mich heute morgen auch der Bäcker, da ich nur eines statt zweier Brote erwarb, gefolgt vom Kioskbesitzer, der mir übelnahm als Nichtraucher nicht doch eine Stange Zigaretten bei ihm gekauft zu haben. Auf dem Nachhause weg traf ich Thea Dorn. Die murmelte etwas von einem “fatalen Einschüchterungssignal” gegenüber Bäcker und Kioskbesitzer und zischte mir “moralisches Reinheitsgebot” hinterher. 

Radischs Konklusio jedenfalls lautet, dass die Verjüngung des leitenden Personals in Verlagen dazu führe, dass eine “Geschäftsmäßigkeit ohne Traditionsgefühl” in die Häuser einzöge. Maron hätte man nicht vor die Tür setzen, sondern mit ihr streiten sollen. 

Möglicherweise war Fischer aber einfach des Streitens müde, denn mit rechten Phrasen (“Der Islam gehört nicht zu Deutschland”, “Politiker müssen Muslimen ihre Grenzen aufzeigen”) macht Maron schon länger auf sich aufmerksam. Das ist zuletzt aber eine Zeitspanne, die in Radischs Rechnung gar nicht auftauchte: Seit Marons erstem “Der Islam gehört nicht zu Deutschland” im Tagesspiegel, sind ziemlich genau 10 Jahre vergangen. Diese Äußerungen gehören somit bei Maron schon zur Tradition, aber die will man ja bei Fischer nicht mehr.

 

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Ein weiterer großer Krach entzündete sich an einem Artikel des Musikkritikers Helmut Mauró in der Süddeutsche Zeitung. Dort fiel er mit der Hitze eines offenbar langglimmenden Ressentiments über den Pianisten Igor Levit her, dem er unter dem Vorwand, sein Legato tadeln zu wollen, unterstellte, sein politisches Engagement gegen rechte Gewalt sei selbst gewaltvoll. Das richtete sich vor allem gegen Levits Aktivitäten auf Twitter, eine Plattform, vor der Mauró mächtig Angst zu haben scheint, denn da etabliere sich ein “diffuses Weltgericht”. Wie gut, dass es mutig kleine Organe wie die SZ gibt, die als medialer David gegen diesen Goliath antreten kann… Der Artikel löste einen Sturm der Empörung aus, was wohl auch die Intention gewesen sein dürfte. Allerdings kann man sich aufmerksamkeitsökonomisch verzocken, und dann wird aus der Erhofften “Debatte” ein handfester Skandal, und man muss sich am Ende entschuldigen. Dem Text wurde plausibel vorgeworfen, er bediene antisemitische Tendenzen und betreibe, in Begriffen wie “Opferanspruchsideologie” eine ziemlich üble Täter/Opfer-Umkehr. Allerdings fanden sich natürlich auch Stimmen, denen es gar nicht gefiel, dass die SZ sich entschuldigt hatte. In einem Zeit-Artikel hieß es unter anderem: “Wer sich nicht dauernd im Netz tummelt, könnte es mit der Angst zu tun kriegen. Vor der Gnadenlosigkeit der Reflexe und vor Argumenten, die partout kein Gras mehr wachsen sehen wollen.” Es gehört zu den seltsamen Zeichen der Zeit, dass für einen Text, der maximal polemisch und hämisch auftritt, plötzlich Gnade eingefordert wird, wenn er in der Netzöffentlichkeit zur Verantwortung gezogen wird. Gnadenlosigkeit scheint offenbar immer noch ein Privileg zu sein.

 

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Twitter ist der Ort, wo die Gegenwart in ihrer ganzen Gegenwärtigkeit erzählt wird. Seit Mitte Oktober tobt auf Twitter auf dem Account von @gschnubbel die fiktionale, aber erschütternd lebensechte Saga um die Freundschaft von Carmen und Eva, zwei Mütter aus dem Prenzlauer Berg. Der Konflikt entzündete sich daran, dass Carmen den Kindern Weizenmehl gegeben hat. Wer wissen möchte, wie es weiterging, kann das hier nachhören.

 

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Ein ziemlich herrlicher Aufreger entfachte sich kurz und mit der Energie eines digitalen Vulkans an einem Artikel in der Zeit, wo die Erbin eines großen Vermögens, die sich nun in vagen Aktionismus für allerlei gute Zwecke einsetzen möchte, im Stil journalistischer Fanfiction porträtiert wurde. Als dann auf Twitter ein paar Menschen ihrem Missmut über diese Konstellation Ausdruck verliehen, erschien die Erbin prompt selbst, um ihren Kritiker*innen in einem, sagen wir mal, nicht gerade altruistischen Tonfall zu widersprechen. Wir können nur empfehlen, dieses Drama in einem Akt selbst nachzurecherchieren. Überhaupt hatten reiche Menschen keinen allzu würdevollen Monat. Kim Kardashian etwa erregte durch Bilder von einer kleinen aber feinen Feier auf einer privaten Insel (alle waren getestet) den Spott der Netzöffentlichkeit und inspirierte ein ganzes Meme. Dann wurde auch noch bekannt, dass eines der Geburtstagsgeschenke ein absolut gruseliges Hologram ihres 2003 verstorbenen Vaters war. Vielleicht bewegt sich die Postmoderne doch langsam auf den Strudel des absoluten Nichts zu. Wir sind gespannt.

 

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Sean Connery ist gestorben und wir haben noch mehr schlechte Nachrichten, nämlich, dass er diese monströsen Dinge in einem Interview von 1965 gesagt hat. Das ist betrüblich, aber nur halb überraschend. Immerhin ist die Figur, mit der Connery berühmt geworden ist, ein misogyner Predator. Aber vielleicht könnte das mal ein Anlass dafür sein, darüber nachzudenken, ob es bei der berühmten Trennung von Künstler und Werk, die ja dieser Tage überall eingefordert wird, nicht helfen würde, wenn man wenigstens den Menschen, die unsere Figuren verkörpern, nicht ständig ein Mikro unter die Nase halten würde. Wenn uns die Person hinter dem Werk nicht zu interessieren hat, dann sollte sie vielleicht einfach den Mund halten und sich wie ein Mensch benehmen. (Oder halt so).

Georg Trakl wiedergelesen – Ein melancholisches Entzücken

von Slata Roschal

 

Der Frühling brachte mir dieses Jahr, neben all seinen Einschränkungen, Ängsten und praktischen Ärgernissen, langsam, teils widerwillig die Fähigkeit zurück, Bücher zu lesen. Ich begann mit Camus´ Die Pest, neugierig und unsicher, verlangte vom Text keine Argumente für Dissertationsthesen oder Schlagwörter für Moderationsfragen. Der Druck nahm ab, im Literaturbetrieb immer irgendwie anwesend bleiben zu müssen, alle waren irritiert und verschüchtert und ich hörte beinahe auf, Bewerbungen für Stipendien zu verschicken und mich an Facebook-Diskussionen zu beteiligen. Bislang glaubte ich, mit Migrationshintergrund, als Frau, mit einem Kind, mit Faktoren also, die für einen beruflichen Aufstieg nicht unbedingt nützlich sind, immer in Anspannung, in ständiger Einsatzbereitschaft bleiben zu müssen, wenn ich mich denn mit gutem Gewissen irgendwann als Schriftstellerin bezeichnen wollte.

Manchmal fand ich in diesen Wochen keinen Anschluss an reale Dinge mehr, saß tagein, tagaus vor dem Computer, spürte eine große Müdigkeit von den endlosen Aushandlungen um Status und Selbstbestimmung, von unzähligen Wörtern, Texten, Gesten, die im dichtesten Geflecht an symbolischen Strukturen erst einen Zweck erfuhren. Die Vorstellung, durch Fleiß und Mehraufwand symbolische Hürden zu überwinden, die Spielregeln einer deutschen Schulklasse etwa oder eines Literaturbetriebes verstehen und imitieren zu lernen, erwies sich plötzlich als überholt und es trat ein Stillstand, eine Leere ein.

Warum ist alles, was ich mache, selbst im kleinsten Maßstab mit einer Art Selbstvermarktung verbunden, fragte ich mich, sind es die Folgen eines Autorschaftskonzepts, das mir missfällt, oder bin ich zu schwach, um die Folgen meiner Wünsche zu tragen. Aus einer massiven Unzufriedenheit mit mir und allem um mich heraus spürte ich einen Wunsch, nach irgendwas Realem zu greifen, nach etwas, das nicht zwangsläufig weiterverwertet werden muss, an und für sich einen Sinn hat und dessen Zweck in sich selbst begründet liegt. Während ich mir diese Fragen stellte, kam der Sommer, dann der Herbst. Es gibt Jahre, die als ein Ganzes vor sich hin ziehen und vergehen, dieses Jahr aber erlebe ich bewusst und unterscheide Jahreszeiten voneinander. Corona steht für Tod, dachte ich, verspricht eine Beruhigung und Wertschätzung des Gewohnten, der Tod, der Herbst, also suchte ich zuhause nach einer schmalen Reclamausgabe, nach Trakl als Drittem im Bunde.

Hier, dachte ich, das Heftchen in der Hand, ist das etwa kein Beweis, dass ohne Präsenzlesungen und Interviews und open mike und Bachmannpreis und all dem, was mich alles so nervös macht, dass es hier doch selbstgenügsame Texte gibt, wie ich sie haben will. Trakl erlebte einen Krieg, wie wir ihn nie verstehen werden, starb mit siebenundzwanzig, in einem Alter, in dem sich heute viele noch als jung bezeichnen würden. Zum ersten Mal habe ich Trakl in der Schule im Deutschunterricht gelesen, Trakl und Büchner, die Einzigen, die ich gemocht habe. Damals mit vierzehn gefiel mir der Gedanke, früh zu sterben und etwas Kostbares zu hinterlassen, mit fünfundzwanzig habe ich sein Museum in Salzburg besucht; ein stilles, verstecktes Haus, für das sich nicht mal Touristen interessierten, mit achtundzwanzig habe ich wieder nach ihm gesucht.

Nun zuhause, mit dem Reclambändchen, kommen mir die Texte zum Vorsprechen und Vorsingen vor:

O die roten Abendstunden!
Flimmernd schwankt am offenen Fenster
Weinlaub wirr ins Blau gewunden,
Drinnen nisten Angstgespenster.

oder

Rötlich steigt im grünen Weiher der Fisch.
Unter dem runden Himmel
Fährt der Fischer leise im blauen Kahn.

oder

Indes wie blasser Kinder Todesreigen<
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

Es sind schlichte Worte, klare Rhythmen, ein melancholisches Entzücken, ich lese den Verfall morgens beim Aufstehen und abends beim Einschlafen laut vor mich hin, frage mich, wie etwas so Einfaches so rührend sein kann. Auch die zärtlichste, lakonischste Liebesbekundung, die ich je gelesen habe:

Wo du gehst wird Herbst und Abend,
Blaues Wild, das unter Bäumen tönt,
Einsamer Weiher am Abend.

Leise der Flug der Vögel tönt,
Die Schwermut über deinen Augenbogen.
Dein schmales Lächeln tönt.

Gott hat deine Lider verbogen.
Sterne suchen nachts, Karfreitagskind,
Deinen Stirnenbogen.

Ein Trakl würde heute kaum mehr funktionieren, wollte man ihn parodieren, er wäre auch kaum mehr auszuhalten, würde in Kitsch übergehen, aber Trakl so, wie ich ihn lese, ist nicht kitschig, ganz und gar nicht. Vielleicht liegt es an einer Ästhetik, die nah genug an der Gegenwart ist, um ihr folgen zu können, und entfernt genug, um auf eine Wertung zu verzichten, sie als eine historische, abgeschlossene Tatsache zu begreifen. Trakl ist eine Tatsache, etwas Reales, wonach ich gesucht habe, das ich außerhalb von Konkurrenz und Selbstdarstellung genieße. Wie auf alten Gemälden reihen sich rote, braune, goldene Töne aneinander, romantisches Vokabular trägt einen bitteren Geschmack. Es fühlt sich gut an, dass die Gedichte da sind, ruhig, geduldig, wie Steine oder Bäume. So eine Besinnung auf den Tod hinaus, überlege ich, wäre Trakl nicht gut für uns, um eine selbstironische Freude zu bewahren, die moosigen Blicke des Wilds, die Schuld des Geborenen, Münder, die Wunden gleichen, die dunkle Angst / des Todes schließlich auszuhalten, den wieder einsamen Vorgang des Lesens ─

 

Photo by Kristian Seedorff

Sokratische Monologe – Über ein philosophisches Interview

von Philip Schwarz

 

Das von der Pandemie verstärkte Bedürfnis nach öffentlich vollzogener, vorgestellter und diskutierter Wissenschaft beschränkt sich nicht allein auf die medizinische Forschung zum Coronavirus. Viele erleben zum ersten Mal eine Situation, in der sie genötigt sind, ihre eigenen Bedürfnisse und Gewohnheiten in der Weise hintanzustellen und auf andere Rücksicht zu nehmen. Nicht von ungefähr wurde der Mund-Nasen-Schutz zum Symbol, dem die verschiedene Seiten jeweilige politische Bedeutung verliehen. Für die einen wird er zum Zeichen der staatlichen Unterdrückung erklärt und in geschichtsvergessener Geschmacklosigkeit mit dem gelben Stern verglichen, den Jüd:innen im Dritten Reich tragen mussten. Für die anderen ist er das sichtbare Bekenntnis zum Zusammen- und Durchhalten. Aus dem Podcast mit Christian Drosten wissen wir, dass der MNS primär die anderen davor schützt, von der Träger:in angesteckt zu werden. Einen MNS zu tragen ist also in diesem Sinne ein Akt der Selbstlosigkeit und Solidarität. Dieser hat aber nur seinen Sinn, wenn ich mich darauf verlassen kann, dass die anderen sich ebenfalls solidarisch verhalten. An der einfachen Frage “MNS tragen oder nicht” zeigt sich, wie die Pandemie uns zwingt, unser Zusammenleben sehr grundsätzlich zu überdenken.

Für Zusammenleben und Grundsätzliches sieht sich seit jeher die Philosophie zuständig, und auch dieses Mal fanden sich schnell Philosoph:innen, die bereit waren, sich über die existentiellen und moralischen (eben grundsätzlichen) Implikationen der Pandemie zu äußern. Slavoj Žižek legte bereits im Mai ein Buch mit dem Titel “Pandemic! Covid-19 shakes the world” vor. In der Juni-Ausgabe der Information Philosophie schrieb die Erfurter Philosophiehistorikerin Bärbel Frischmann über das Virus und den Angstbegriff bei Kierkegaard. Der Bonner Philosoph Markus Gabriel gab am 13. April 2020 (also etwa 5 Wochen bevor Žižeks Buch erschien) dem Sender Russia Today Deutsch ein Interview, in dem er sich unter anderem über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie äußerte. 

Zum Zeitpunkt des Interviews hatte Gabriel sich bereits als öffentlicher Philosoph in Stellung gebracht. Sein Buch “Warum es die Welt nicht gibt” war vor einigen Jahren ein Bestseller. Darin erklärt er seine Position, den sogenannten Neuen Realismus und seine Ontologie der “Sinnfelder”. 2015 folgte “Ich ist nicht Gehirn”, in dem er erklärte, eine “Philosophie des Geistes für das 21. Jh.” (so der Untertitel)  entwickeln zu wollen. Sein neuestes Werk “Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten” will einen “starken Moralischen Realismus” verteidigen, folgt also der These, dass moralische Urteile wahr oder falsch sein können und die Bedingungen ihres Wahr- oder Falschseins unabhängig davon sind, was die Menschen für wahr oder falsch halten. Sein Gegner ist dabei der “postmoderne Unsinn”, demzufolge moralische Überzeugungen Produkte historisch gewachsener Kulturen und Machtstrukturen sind, die nicht sinnvoll kritisiert, sondern nur hingenommen werden können.

Da dieser “postmoderne Unsinn” gegenwärtig ein bevorzugtes Schreckgespenst des rechtsliberalen Feuilletons darstellt, überrascht es vielleicht nicht allzu sehr, dass Gabriel der NZZ mehrere Interviews zum Thema gab. Eines dieser Gespräche zeigt einen repräsentativen intellektuellen parforce-Ritt durch alles, was Gabriel und sein Interviewpartner René Scheu für schlecht halten, sowie Lösungen für die angesprochenen Probleme. Cancel Culture, Rassismus, Donald Trump, die Zukunft der Demokratie, Analsex – der Philosoph hat auf alles eine Antwort.

Es ist ein wiederkehrender Witz in der Philosophie, dass Sokrates es in seinen Dialogen häufig mit Gesprächspartnern zu tun hat, die ihm zwar zu Anfang widersprechen, später aber stumm an seinen Lippen hängen oder kritiklos seinen rhetorischen Fragen zustimmen und ihm Stichwörter liefern. Während dies für die Sokratischen Dialoge nur stellenweise zutrifft, liest sich das Interview mit Gabriel wie eine Parodie eines solchen Dialogs, die diesen Aspekt überbetont. Das Gespräch beginnt damit, dass Scheu eine These formuliert, die von Gabriel zurückgewiesen wird, um dann im weiteren Gesprächsverlauf Gabriel zuzustimmen, dessen Ausführungen aufzugreifen und Stichworte zu geben. Die These, mit der das Gespräch beginnt ist ein “Leitsatz” aus einer “journalistischen Initiative” der NZZ und lautet “Keine Wahrheit ist unangreifbar.” Gabriel weist den Satz entschieden zurück. Scheu hakt nach, es sei doch Common Sense, dass es keine “alleinseligmachende Wahrheit” in der Demokratie gebe. Gabriel erwidert, das sei eine Verwechslung von Meinung und Wahrheit, und Konsens sei kein Kriterium für Wahrheit. 

Damit ist das Thema für das ganze Gespräch gesetzt. In verschiedenen Zusammenhängen wird der Gegensatz von Realismus und objektiver Wahrheit gegen Postmoderne und Relativismus durchexerziert, wobei die wiederholte Feststellung lautet, dass nur die Akzeptanz einer objektiven Wahrheit die Demokratie retten könne. Die “Postmodernen Linken” hätten den Geist des Relativismus aus der Flasche gelassen und sähen sich jetzt mit der Erosion der Demokratie konfrontiert. Phänomene dieser Erosion sieht Gabriel in Donald Trump, aber auch in der sogenannten Cancel Culture. Nur auf Machtzuwachs bedacht betreibe sie online-Mobbing in Form von umgekehrtem Rassismus und bedrohe weiße, heterosexuelle Männer mit dem “sozialen Tod”. Scheu springt ihm ganz in “Du sagst es, o Sokrates”-Manier bei und sieht in der sogenannten Cancel Culture “angewandte poststrukturalistische Theorie”, deren “pseudomoralische Hierarchie“ Autorität anhand von “Opferpunkte[n]” verteile.

Später geht es um die Gefährlichkeit des Coronavirus und die bestmöglichen wirtschaftlichen Maßnahmen, die der Staat treffen könne. Gabriel verweist hier auf die Ungewissheit der Zukunft, aus der sich die Bedeutung der deliberativen Demokratie ergebe, die den Raum zur Konsensfindung biete. Er kontrastiert dieses Bild mit den Wissenschaften, die als “Orakel” wahrgenommen würden, dabei aber die Zukunft gar nicht vorhersagen könnten, weil die Zukunft ja auch auf Grund dieser Vorhersagen gestaltet werde. Durch eine inhaltlich schwer nachvollziehbare, aber rhetorisch meisterlich ausgeführte Überleitung (“Pharma-Konzerne” und “Fama-Konzerne”) geht es im Folgenden um die Sozialen Medien, die Gabriel als Brutstätte des Relativismus ausmacht. Da wir im Internet mit zu vielen widersprüchlichen Meinungen konfrontiert seien, würden wir aufgeben, nur noch glauben, was unser Weltbild bestätigt, und den anderen ihre Meinung zugestehen. Da könne man nichts machen, confirmation bias sei nun einmal Evolutionsbiologie. Die Lösung könne daher nicht “technisch” sondern müsse “menschlich” sein – Bildung.

Von da aus holt Gabriel zum Schlag gegen die Wissenschaftler:innen aus, die wahlweise ebenfalls postmoderne Relativist:innen seien oder “Neurozentrist:innen”, also die These verträten, dass unser Handeln vollständig durch die Hirnstrukturen vorgegeben sei. Für beide gebe es keine objektive Moral – für die Relativist:innen nicht, weil es ja nur um Machtstrukturen gehe, für die Neurozentrist:innen nicht, weil die Menschen ja nur als Maschinen sähen. Solchen Figuren stellt Gabriel den “Schweizer Uhrmacher” gegenüber, der ohne jede philosophische Reflexion klar wisse, dass es Realität und Wahrheit und objektive moralische Grundsätze gebe.

Es folgen einige allgemeine Ausführungen darüber, was Moralphilosophie ist, warum moralische Wahrheiten kulturunabhängig sind, und dass wir als Menschen in gewissem Sinne nicht darauf verzichten können, moralisch zu sein. Das Gespräch endet damit, dass Gabriel Gelegenheit erhält, seine Einschätzung zu einer Reihe von moralischen Tatbeständen abzugeben. Scheu liefert ihm dazu Stichwörter (“Demokratie” – “Monarchie” – “Legalisierung weicher Drogen”) und Gabriel ordnet sie moralisch ein (“gut” – “böse” – “neutral”). Gelegentlich wird nachgehakt, und er begründet seine Antwort. Das Gespräch endet damit, dass es “Natürlich gut” sei, ein Buch von Markus Gabriel zu lesen.

Es gibt eine Reihe von Aspekten, die dieses Interview zu einem schlechten Beispiel für öffentliche Philosophie machen. Da wäre zunächst der Duktus der Selbstbestätigung durch das Abarbeiten an den immer gleichen Themen mit den immer gleichen Ergebnissen – Erschöpfungsfeuilleton par excellence. Ein Philosoph spricht in einer Zeitung darüber, was moralisch richtig und falsch ist, und über die Gefahren, die darin liegen, diese Unterscheidung nicht zu machen. Das Ergebnis ist, dass all das, was die Zeitung im Wochenrhythmus verkündet, ohnehin richtig ist. Dieser Selbstbestätigungs-Loop geht dabei so weit, dass Gabriel eine ganze Reihe culture wars-Klischees bedient. Die Universitäten erscheinen als Hochburgen der postmodernen Theorie, Wissenschaftler:innen haben die Objektivität aufgegeben. Der “postmodernen Linken” geht es letztlich nur um Macht, und Kritik an Rassismus ist irgendwie auch Rassismus.

Auch kommt man nicht umhin sich zu fragen, wie Gabriels Besorgnis um die Demokratie angesichts der Erosion des Glaubens an eine objektive Wahrheit mit seinem Auftritt bei Russia Today Deutsch zu vereinbaren ist. Dies mag wie eine sachfremde Ad-Hominem-Anschuldigung wirken, aber so einfach ist es nicht. Wer Wahrheit und Demokratie gegen Propaganda und Relativismus verteidigen will, sollte sich zumindest gut überlegen, ob er in einem Sender auftreten will, der als Sprachrohr einer Regierung gilt.

Von diesen diskursdynamischen Aspekten abgesehen, lassen Gabriels Ausführungen auch an philosophischer Substanz vermissen. Das macht sich bereits am Anfang bemerkbar, als er den Slogan “Keine Wahrheit ist unangreifbar” zurückweist, den Unterschied zwischen Meinung und Wahrheit betont und die Meinungsfreiheit in der Demokratie anspricht. Die Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin beschäftigt sich mit dem Unterschied zwischen Meinung und Wissen. Wenn beide nicht dasselbe sind, was unterscheidet sie voneinander? Warum sind sie so leicht zu verwechseln? Woran erkennen wir, ob wir wissen oder nur meinen? Gabriels Beispiel gegen die Konsenstheorie der Wahrheit ist, dass eine Gruppe Physikstudent:innen nicht einfach die Schrödinger-Gleichung umschreiben könne. Aber warum nicht? Wenn ein paar Dutzend habilitierter Physiker:innen am Ende eines Kongresses verkünden, die Schrödinger-Gleichung müsse umgeschrieben werden, wäre das etwas anderes? Was würde diese Fälle voneinander unterscheiden? An keiner Stelle wird darauf eingegangen, welche Argumente die Vertreter:innen der Positionen vorbringen, die Gabriel kritisiert – nicht einmal, um sie zu widerlegen.

Diese Nachlässigkeit zieht sich durch das gesamte Gespräch. Gabriel ist sehr überzeugt davon, dass die Aussagen der “postmodernen Linken” falsch sind.  Eine echte Auseinandersetzung mit den Critical Studies und ihren begrifflichen Voraussetzungen findet dabei nicht statt. Über eine klischeehafte Darstellung hinaus macht er keine Angaben darüber, was diese Aussagen sind, wie sie begründet werden, und warum diese Gründe keine guten Gründe sind. Damit verletzt er das Prinzip der wohlwollenden Interpretation. Wer die Thesen und Argumente einer Position kritisieren will, muss sie erst einmal als Aussagen sehen, die Anspruch auf inhaltlichen Sinn, logische Stringenz und Richtigkeit erheben. Warum kann es entgegen der These der Critical Race Studies sehr wohl Rassismus gegen Weiße geben? Welchen Fehler machen jene, die das behaupten? Was heißt es zu sagen, dass Wahrheit ein Produkt von Machtverhältnissen sei? Unter welchen Bedingungen könnte man das sinnvoll sagen? 

Wenn sich herausstellt, dass diese Bedingungen nicht erfüllt sein können, wäre Gabriels Kritik berechtigt. Aber auf diese Ebene der Analyse dringt das Gespräch an keiner Stelle vor. Die Ungewissheit der Zukunft soll die Bedeutung des demokratischen Diskurses begründen, der das Ergebnis offen lässt. Aber wenn die Zukunft nicht vorhersehbar ist, woran soll sich dieser Diskurs dann orientieren? Gabriel sagt zu Beginn des Gesprächs selbst, dass der Erfolg einer Meinung in der Demokratie kein Anhaltspunkt für ihre Wahrheit ist. Aber wie ist dann garantiert, dass der demokratische Prozess die objektiv richtige Meinung darüber, wie die Zukunft sein wird, bevorzugt? Dasselbe sehen wir bei seiner Kritik des “Neurozentrismus”. Natürlich könnte eine Person mit einem neurozentrischen Menschenbild zu dem Schluss kommen, es sei moralisch unproblematisch, einer anderen Person Hormone unterzujubeln, um sie “rumzukriegen”.

Diese Folgerung wird aber von einem Neurodeterminismus nicht zwingend nahegelegt. Es ist ebenso möglich zu sagen, wenn die andere Person keine Lust habe, sei es falsch, hier in den biologischen Ablauf einzugreifen. Welche Konsequenz man hier zieht, ist von einer ganzen Reihe Zusatzannahmen abhängig, die anzusprechen und zu analysieren Gabriel nicht für nötig hält. Auch ist nicht klar, wie die Ablehnung eines im Gehirn verorteten Determinismus mit der These vereinbar ist, wir seien evolutionär auf eine bestimmte Verhaltensweise im Internet festgelegt. Ist dies nicht genau der biologistische Determinismus, den Gabriel kurz zuvor noch entschieden zurückgewiesen hat? Und wie verhält sich die biologische Bestimmtheit unserer fehlenden Medienkompetenz zu der Forderung nach Bildung, die genau hier abhelfen soll? Diese Thesen sind nicht grundsätzlich unvereinbar, aber für ihre Vereinbarkeit müsste auch wieder argumentiert werden, und das geschieht einfach nicht.

Es ist ein Klischee, dass die philosophische Arbeit darin besteht, vorgefasste Meinungen zu hinterfragen und zu revidieren, wenn sie sich als unzureichend begründet herausstellen, aber es ist ein zutreffendes Klischee. Die Sokratischen Dialoge geben ein Beispiel dafür. Sokrates ist immer bereit, die in seinem gesellschaftlichen Umfeld etablierten sozialen Selbstverständlichkeiten ins Wanken zu bringen (so kritisiert er im Eutyphro etwa die Idee einer religiös fundierten Moral, und in der Politeia argumentiert er für die natürliche Gleichheit von Frauen und Männern). Wenn seine Gesprächspartner irgendwann verstummen, dann weil er sie überzeugt hat. Gabriel lässt die Bereitschaft vermissen, den Boden des für die Gesprächspartner Selbstverständlichen zu verlassen. In diesem Gespräch findet keine Philosophie im relevanten Sinne des Wortes statt. Dies wird noch einmal am Ende deutlich, als Gabriel im Schnelldurchlauf seine moralische Einschätzung abgeben kann. Die Ironie, dass Gabriel kurz zuvor noch ein falsches Verständnis der Wissenschaften als “Orakel” beklagt hat und nun seinerseits als moralisches Orakel auftreten darf, scheint keinem der beiden Gesprächspartner bewusst zu sein.

Es ist nicht Aufgabe der Moralphilosophie eine Liste zu erstellen, was richtig und was falsch ist. Die Philosophie verkündet keine Wahrheiten, sie stellt ein logisch-begriffliches Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir überprüfen können, warum wir für wahr halten, was wir für wahr halten, und ob wir darin gerechtfertigt sind. Natürlich ist ein Zeitungsinterview kein Vortrag auf einer Tagung oder ein Aufsatz in einem Magazin mit peer review. Aber: Auch für öffentliche Philosophie gelten die Maßstäbe des Philosophierens. Es ist bedauerlich, dass hier eine Gelegenheit verpasst wird, ein Beispiel für öffentliche Philosophie in unsicheren Zeiten zu geben. Die Philosophie hat zur Coronakrise viel zu sagen (sie hat immer viel zu sagen). Es wäre wünschenswert, wenn sie die Ansprüche an sich selbst erfüllen würde.

 

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Zwischen Kind und Text – Schreibende Eltern im Literaturbetrieb

von Jennifer  Sprodowsky

 

I.

Es war einmal ein in die Jahre gekommener Großkritiker. Dieser Großkritiker glaubte zu verstehen, was es für junge Autoren bedeutete, den Beruf des Schriftstellers zu wählen und auszuleben. So riet der in die Jahre gekommene Großkritiker eines Tages einem jungen Schriftsteller, er solle keine Kinder bekommen, sollte er weiter Bücher schreiben wollen. Der Rat war gut gemeint, schätzte der Großkritiker den Autor doch sehr, ja, er prognostizierte ihm sogar eine glorreiche Karriere, wenn er denn, ja bitteschön, keine Kinder bekäme. Der Autor war natürlich eine Autorin, nämlich Judith Hermann, und diese internalisierte den Rat so sehr, dass sie 2003 nach dem Erscheinen ihres zweiten Buches in einem Interview auf die Frage, ob es denn stimme, dass ihr Marcel Reich-Ranicki damals empfahl, keine Kinder zu bekommen, antwortete: »Ja. Dieser Satz hat mich sehr begleitet, bis ich wieder angefangen habe zu schreiben. Ich hatte die Sorge, dass sich durch das Kind bestimmte Brüche und Unvollkommenheiten in meinem Leben schließen würden.«[i]

Geht es um die Vereinbarkeit von Autor*innenschaft und Elternschaft, wird das Beispiel von Judith Hermann und Marcel Reich-Ranicki häufig zitiert. Dass ein älterer Mann in unantastbarer beruflicher Position eine solche Meinung gegenüber einer Frau, einer Autorin, kundtut, ist zwar fatal, aber nicht weiter verwunderlich. Auch Autoren sehen sich mit vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen konfrontiert. Michael Chabon erzählt in der Einleitung seiner Essaysammlung Pops. Fatherhood in Pieces (2018): »At a literary party the summer before my first novel was published, I found myself alone with a writer I admired […]. ›I’m going to give you some advice,‹ he told me, a warning edge in his voice. […] ›Don’t have children,‹ he said.« 

Die genannten Beispiele zeigen: Autor*innen, die schreiben und Kinder haben, rütteln an der Fiktion des hegemonial männlichen Dichtertypus. Wenngleich viele, auch Autor*innen selbst, an dem Mythos festhalten wollen, ist der Dichter eben nicht nur einer, der sich tagein tagaus flanierend, nach Inspiration suchend, durch die Welt bewegt, frei von Verpflichtungen, gerne bis spät in die Nacht schreibend – oder wann immer ihn die Muse küsst. Die Dichter*in ist eine, die einen profanen Lebensalltag hat, der geplant werden möchte und zu dem auch Windeln und Milchflecken gehören. Das nächtliche Schreiben sei hier nicht ausgeschlossen. Es könnte entgegnet werden, dass Eltern – egal welchem Beruf sie nachgehen – doch immer vor dieselbe Problematik gestellt werden: dass es an Zeit fehlt.

Auch eine Bäcker*in oder eine Postbote*in mit Kindern sehe sich schließlich damit konfrontiert, Beruf und Familienalltag unter einen Hut zu bekommen. Diesen Punkt macht auch die US-amerikanische Autorin Rufi Thorpe in ihrem Aufsatz über Elternschaft und Schreiben, Mother, Writer, Monster, Maid: »Time is the issue, not some metaphysical conflict between art and motherhood.« Allerdings wendet sie auch ein: »But another part of me worries that being a writer isn’t exactly like being a factory worker or a nurse.« 

 

II.

Neben dem Idealtypus eines unabhängigen, durch Leiden getriebenen Autors gibt es eine Analogie zwischen Schreiben und Gebären, die in unserem Denken und Sprechen über Autor*innenschaft weit verbreitet ist. Antje Schmidt macht darauf in ihrem Essay Weibliche Empfindsamkeit vs. Männliches Genie – Die Fiktion zärtlicher Autorinnenschaft aufmerksam:

Man könnte also meinen, so wie die bis heute gesellschaftlich glorifizierte Mutter fürsorglich, mitfühlend und bedingungslos wohlwollend ist, ist die zärtliche Autorin – oder der Autor – sanft zu ihrem oder seinem Text. Genährt wird dieser Mythos auch von Schriftsteller*innen selbst. Der Vergleich zwischen dem Verfassen eines Buches und dem Gebären eines Kindes gehört zum tradierten Inventar des Sprechens über Autor*innenschaft.

Auch ich war dieser Analogie aufgesessen: In meiner Verlagsarbeit war mein erstes Lektoratsprojekt der Debütroman eines Autors. Unsere intensivste Arbeitsphase war davon geprägt, dass der Autor und ich ein (nicht gemeinsames) Kind erwarteten. Wenngleich wir beide nicht die Gebärenden waren, setzte sich in der Kommunikation über unsere Arbeit eine Metaphorik durch und fort: Das erste Buch. Das erste Kind. Ich wurde schnell zur Hebamme, die ihm, dem Buch-Gebärenden, half, sein Baby, zur Welt zu bringen, seinen Text in zwei Buchdeckel und damit in die Öffentlichkeit zu entlassen.

Der Text war die Schöpfung, der Autor der Schöpfer, die Mutter. Es war die zeitliche Kongruenz, die uns diese Metaphorik vor die Füße legte: Sein Kind kam zwei Tage nach Abgabe des überarbeiteten Manuskripts zur Welt, meines zwei Tage nach der Kollationierung der korrigierten Fahnen. Damals half uns der Vergleich, die beiden Welten, und damit auch die Aufregung um sie, miteinander zu verbinden und zu relativieren. Wer ein Buch auf die Welt bringen konnte, sollte doch wohl auch ein Kind auf die Welt bringen können. Oder andersherum?

Heute denke ich, dass dieser Vergleich einer ist, der allzu leichtfertig gezogen wird. Denn schnell wird daraus auch ein Strick für schreibende Eltern gedreht. Mitunter wird er von Autor*innen nämlich derart verinnerlicht, dass sie sich fragen, ob es nicht nur eines im Leben geben könne, Schreiben oder Kinder. Zwei semantische Felder, die sich aufgrund ihrer Analogien derart überdecken, bis nur noch eines sichtbar sein kann.

Denken wir über das Verhältnis von Autor*innenschaft und Elternschaft nach, müssen wir also von einem Spannungsfeld ausgehen, das durch das profane Alltagsproblem der Zeit sowie durch eine Metaphorik, in der das schöpferische Ich mit dem gebärenden Ich in Konflikt gerät, erzeugt wird. In der internationalen Gegenwartsliteratur lässt sich ein vermehrtes Auftreten von Texten feststellen, in denen dieses Spannungsfeld produktiv gemacht wird. Schriftsteller*innen beginnen, die »Schreibkrise als Dauerzustand«, wie die Autorin Sandra Gugić den Konflikt pointiert, in Literatur umzuwandeln. Dabei reicht das thematische Spektrum von der Frage »Kinder: ja oder nein?«, über die erlebte Schwangerschaft bis hin zu einem Alltag mit Kindern.

Dass sich Autor*innen in ihren Texten vermehrt mit diesem Verhältnis auseinandersetzen, ist neu und wirft neue Fragen auf. Wie verändern sich durch Kinder die zum Schreiben nötigen Voraussetzungen? Welchen Einfluss haben die ohnehin schon prekären Lebensbedingungen von Autor*innen auf die Entscheidung, ob sie mit Kindern leben möchten oder nicht? Wie unterscheidet sich der Beruf des Schreibens von anderen Erwerbstätigkeiten? Die Autorin Anke Stelling schreibt über diese Wechselwirkung:

Ich versuche, im Erzählen Erkenntnisse zu gewinnen über meine Gegenwart, und ich hoffe, dass das dann auch Leser*innen für ihre Gegenwart interessiert. [] Wenn zu meiner Selbstverwirklichung Kinderkriegen dazugehört, gehört halt auch die Sorge für sie dazu. Weshalb dann Windelnwechseln Einzug in mein Schreiben hält, und mein Schreiben mich vom Windelnwechseln abhält, und das wiederum auszuhalten, ist dann die nächste Stufe meiner Selbstverwirklichung. [] Die Chance, die darin liegt, zu erkennen und zu beschützen. Ich versuche es, indem ich schreibe.[ii]

Ein Leben mit Kindern wird nicht mehr als etwas verstanden, was dem Schreiben zwangsläufig hinderlich sein muss, sondern als etwas, das unmittelbaren und vor allem auch produktiven Einfluss auf das Schreiben haben kann. Auch Juli Zeh spricht  im Alles gesagt?-Interviewpodcast der ZEIT  (ab 7h 47min) darüber, wie sich ihr Schreiben und ihr Leben als Autorin verändert haben, seit sie Kinder hat. Neben dem Einfluss auf ihre Schreibzeit, die mit Kindern kürzer sei und ohne Stimulantien verlaufe,  gibt es auch einen Einfluss auf ihre ihre Figuren: »Früher hatten alle Hunde und jetzt haben alle Hunde und Kinder.«

 

III.

Es fällt auf, dass Schriftsteller*innen, die über Elternschaft und Autor*innenschaft schreiben, oftmals Erzähler*innen wählen, die ihnen selbst (vermeintlich) nahe sind, oder mit denen sie ihren Leser*innen nahe sein können. Diskussionsgrundlage wie sicherlich auch Wegbereiter, wenn es um die Literarisierung von – zunächst einmal – Mutterschaft geht, ist Rachel Cusks A Life’s Work (2001, dt. Lebenswerk. Über das Mutterwerden, 2019). In seiner radikal subjektiven Beschreibung von Mutterglück und Mutterleid wurde der Text als Provokation empfunden. Dass etwas so Privates wie die Erfahrung von Mutterschaft öffentlich gemacht wird, das war für einige Rezipient*innen nicht zumutbar. Rachel Cusk schreibt offen, mit welchen (Selbst-)Verlusten, aber auch (Selbst-)Gewinnen eine Mutterschaft einhergeht, und auch darüber, wie sie als Autorin wieder mit Schreibaufträgen zu beginnen versucht und welche Freiräume sie sich dafür schaffen muss.

In dem Artikel I was only being honest erzählt Cusk über die Reaktionen auf ihr Buch: »On and on it went, back and forth: I was accused of child-hating, of postnatal depression, of shameless greed, of irresponsibility, of pretentiousness, of selfishness, of doom-mongering and, most often, of being too intellectual.« So persönlich wie Cusks Essay geschrieben ist, so persönlich wurde er auch rezipiert: »Again and again people judged the book not as readers but as mothers, and it was judgment of a sanctimoniousness whose like I had never experienced.« Wenn schreibende Mütter an einem Idealbild von Autorschaft rütteln, so rütteln sie gleichzeitig an einem Idealbild von Mutterschaft an sich – ein Bild, das viele Mütter, wenngleich sie um seine Probleme wissen, aufrechterhalten möchten. Dass die deutsche Übersetzung 2019 nicht eine ebensolche Empörung auslöste, zeigt aber, dass sich das Bild von Mutterschaft in den letzten zwanzig Jahren doch gewandelt hat. Es ist differenzierter geworden, kann Ambivalenzen besser aushalten.

Cusk selbst bezeichnet im Vorwort der 2. Auflage der deutschen Übersetzung die von ihr gewählte literarische Form als »ehrliche Form des Schreibens«. Ihr Text sei in erster Linie ein Brief: »Er richtet sich an alle Frauen, die ihn lesen möchten, und ich habe ihn in der Hoffnung geschrieben, dass sie in meinen Erfahrungen eine Art von Begleitung finden.« Cusk hat ihre Leser*innen also direkt vor Augen: Frauen, (werdende) Mütter. Sie setzt auf eine identifikatorische Rezeption und sieht ihr Buch als »eine bescheidene Annäherung an Mutterschaft, verfasst unter dem unmittelbaren Eindruck seines Themas.

Es beschreibt eine Phase, in der die Zeit keine geordnete Abfolge von Ereignissen mehr war, sondern im Kreis zu vergehen schien.« Von der Chronologie abweichend ordnet Cusk auch ihren Text an. Ihre Kapitel sind nach Themen geordnet, Motive kehren wieder, werden neu-/umgeschrieben. Im Sinne einer Art Écriture féminine gießt sie ihren literarischen Gegenstand nicht zwanghaft in eine tradierte (männliche) Erzählweise, sondern lässt Inhalt und Form in eine Wechselwirkung treten. Damit legt die Autorin einen wichtigen Grundstein für folgende Erzählungen über Elternschaft.

Einen ähnlichen, im Ton vielleicht etwas härteren Weg wählt die Autorin Antonia Baum. Auch  ihr autobiographischer Essay Still leben (2018) handelt von  ihrer Erfahrung als werdende (und schreibende) Mutter. Dabei hatte sie sich so fest vor vorgenommen, niemals, wie es im Text heißt, über das Kinderthema zu schreiben, sei dies doch »der absolute Schriftstellerselbstmord«. In Baums Essay wird deutlich, unter welchem Druck eine schreibende Mutter steht.

Das Ich im Buch kämpft immer wieder an gegen Vorurteile und Vorschriften, internalisiert diese ähnlich wie bei Judith Hermann: »Es waren noch ein paar Wochen bis zur Geburt, und ich versuchte noch schnell einen Roman anzufangen, um meine Angst zu besiegen, dass ich, wenn das Baby da war, nicht mehr würde schreiben können oder gar wollen.« Und dann: »Der Roman, den ich, bevor das Baby kam, schnell anzufangen versuchte, damit ich, wenn es da sein würde, etwas hätte, das ich zu Ende bringen musste, wurde erwartungsgemäß nichts. (…) Die Angst, als Mutter nicht mehr schreiben zu können, erschien mir komplett lächerlich. Aber was sollte ich machen, sie war anwesend, sie war gewissermaßen eine meiner Topängste.«

Ich schreibe in diesen beiden Fällen von autobiographischen Essays, wenngleich die paratextuellen Gattungsbezeichnungen unsicher sind. Hierin liegt eine Chance. Literarische Texte über Elternschaft und Schreiben zeugen von einer Unmittelbarkeit, die, wenngleich sie so stark zu spüren ist, auch diffus (im besten Sinne) bleibt. Die erzählerische Unmittelbarkeit ist von einer gattungstheoretischen Uneindeutigkeit durchsetzt, die das Leben als schreibende Mutter, als schreibenden Vater nur allzu gut in all seinen vermeintlichen Widersprüchen fasst. Auch die Autofiktion – eine beliebte Erzählweise für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich – findet sich immer wieder als Form für literarische Texte, in denen das Verhältnis von Elternschaft und Schreiben thematisiert wird. Man denke an Sheila Hetis Motherhood (2018, dt. Mutterschaft, 2019), an Karl Ove Knausgård und sein Lebenswerk Min Kamp oder an Deborah Levys The Cost of Living (2018, dt. Was das Leben kostet, 2020).

 

IV.

Maggie Nelsons Memoir oder Essay oder, ja, was eigentlich (?), The Argonauts (2015, dt. Die Argonauten, 2017) ist einer der wenigen Texte, die sich mit queerer Elternschaft auseinandersetzen. Hier geht es um Transformationen, körperlich wie (identitäts-)theoretisch, um die Möglichkeiten queerer Familienplanung und auch um kulturtheoretische Vorbilder, die in das Schreiben und das Leben fließen. Maggie Nelson erschafft aus diesen Transformationen eine ganz eigene Erzählung, in der sie immer wieder ihr Schreiben befragt: »Einmal schrieb ich, dass ich die Hälfte eines Buches im betrunkenen Zustand geschrieben hätte, die andere im nüchternen. Bei diesem hier schätze ich, dass neun Zehntel der Wörter im ›freien‹ Zustand geschrieben wurden, das verbleibende Zehntel, während ich an eine Brustpumpe von Krankenhausausmaßen angeschlossen war: Wörter strömten in die eine Maschine, Milch strömte in die andere.«

Wenn Identitäten und Rollen fluid werden, lassen sich mitunter auch die Erzählstimmen nicht mehr eindeutig aufdröseln. Es kann und soll an dieser Stelle nicht um eine gattungstheoretische Analyse gehen, aber ich möchte auf etwas aufmerksam machen, das die Autorin Marguerite Andersen in Ich, eine schlechte Mutter literarisch auf den Punkt bringt und was ich für wesentlich in der Betrachtung von Texten, die sich mit dem Spannungsfeld von Autor*innenschaft und Elternschaft auseinandersetzen, erachte:

 

Gar nicht so leicht, dieses Schreiben über sich selbst

Ich, eine schlechte Mutter

setzt in Szene:

drei »Ich«

die Autorin

die Erzählerin

und die Protagonistin.

Manchmal verschmelzen sie miteinander

manchmal verbünden sie sich

manchmal ist fraglich, wer spricht.

Drei »Ich«, die in ein und demselben Buch zusammen auftreten

in unterschiedlichen Zeiten

Vergangenheit

Gegenwart

Zukunft

oje!

schon in der Schule hatte ich Schwierigkeiten mit der Zeitenfolge.

 

Ich, eine schlechte Mutter erschien erst im September dieses Jahres in einer deutschen Übersetzung (das französische Original erschien 2013 unter dem Titel La mauvaise mère). Marguerite Andersen, geboren 1924, ist Schriftstellerin und Professorin für Literatur und fragt sich am Ende ihres Lebens, ob es falsch war, dass sie, die damals jung Mutter geworden war, sich stets ihre Freiheit erkämpft hatte, auch auf Kosten ihrer Kinder. Andersen nimmt eine rückblickende Perspektive ein, die es erlaubt, die getroffenen Entscheidungen infrage zu stellen und mitunter zu bereuen. Das erklärt auch den Untertitel: Bekenntnisse.

Wer Entscheidungen trifft, muss bekennen. Doch wie lassen sich solch lebensbestimmende Entscheidungen wie die Kinderfrage überhaupt treffen? Sheila Heti verschreibt sich mit Motherhood komplett dieser Frage. Die Erzählerin, die einige Ähnlichkeiten mit der Autorin aufweist, versucht mithilfe eines Orakels, das aus dem Werfen von drei Münzen besteht und nur im binären Antwortsystem von ja und nein funktioniert, sich selbst und ihren Wünschen und Bedürfnissen näher zu kommen. Über allem steht dabei die Frage, ob die Erzählerin schwanger werden möchte oder nicht, oder wie sich mit der Entscheidung, nicht schwanger werden zu wollen, leben lässt.

Is art a living thing – while one is making it, that is? As living as anything else we call living?

yes

Is it as living as when it is bound in a book or hung on a wall?

yes

Then can a woman who makes books be let off the hook by the universe for not making the living thing we call babies?

yes

Die vermeintlich simple Frage-Antwort-Technik funktioniert natürlich nur zum Schein. Die Erzählerin erwartet nicht, dass die Münzen ihr eine so große Entscheidung abnehmen, doch helfen sie ihr, in ihrem Denken neue Wege einzuschlagen. Sie begibt sich auf eine Erkundungstour des eigenen Selbst und zieht dabei immer wieder Parallelen zwischen Kunst und Kindern und den dazugehörigen Rollen:

Yet perhaps I am not so different from such people – spreading myself over so many pages, with my dream of my pages spreading over the world. My religious cousin, who is the same age as I am, she has six kids. And I have six books. Maybe there is no great difference between us, just the slightest difference in our faith – in what parts of ourselves we feel called to spread.

Patricia Hecht schreibt in der taz: »Es ist ein Mindfuck, den Heti da aufgeschrieben hat – aber einer vom Feinsten.« Aber es ist nicht nur ein Mindfuck, sondern ebenso ein Bodyfuck. Denn es geht auch  um die Terminationen, die dem weiblichen Körper gesetzt sind, und um den Druck, der dadurch ausgeübt wird. So ist der zweite Teil des Romans nach den verschiedenen Zyklusphasen von »Vor dem Eisprung« bis zur »Blutung« angeordnet.

Eine Autorin, die das Erzählprinzip ihres Romans ebenfalls dem weiblichen Körper unterwirft, ist Isabelle Lehn. Auch in Frühlingserwachen findet sich ein Erzählen in (Menstruations-)Zyklen. Diese werden auf einer nächsten Ebene nur noch von den Jahreszeiten, den Buchmessen und der Medikamenteneinnahme der Erzählerin Isabelle Lehn zusammengehalten. Verzweifelt und mit allen Mitteln der Reproduktionsmedizin versucht die Erzählerin schwanger zu werden und zu bleiben, doch kommt sie dann doch immer wieder die Blutung. Dass sich dieser Prozess so sehr in die Länge zieht, gibt der Erzählerin genügend Zeit, ihren Kinderwunsch immer wieder infrage zu stellen und auch in Bezug zu ihrem eigenen Schreiben zu setzen. Die Isabelle Lehn im Buch ist ebenfalls Autorin und schreibt an einem Roman der Selbstentblößung. Hin- und hergerissen zwischen Leid und Mitfreude blickt sie sich um: »Es macht mir nichts aus. Es ist mir gleichgültig, ob meine Freundinnen schwanger werden oder ihre Bücher zur Welt bringen. Es macht fast keinen Unterschied. Aber eben nur fast, denn immerhin trinkt Tien noch mit ihr.«

 

V.

Anke Stelling ist eine Autorin, die sich in ihrem Werk immer wieder mit der Frage nach dem Verhältnis von Elternschaft und Autor*innenschaft auseinandersetzt. Resi, die Ich-Erzählerin im Roman Schäfchen im Trockenen (2019), ist ebenfalls eine Schriftstellerin und eine Mutter, die versucht, diese beiden Rollen in Einklang zu bringen:

Es tut mir leid, dass hier alles so zerrissen scheint. Ich hätte mehr Stringenz, eine erkennbare Einheit, einen Trost für alle, die auf der Suche sind. Doch ich bin, wer ich bin, und ich werde nicht mehr so tun, als hätte ich dieselben Voraussetzungen wie, sagen wir mal, Martin Walser.

Oder:

Keine Sorge!, ich klage nicht, ich bin selbst schuld. Warum habe ich auch all diese Kinder gekriegt? Erst, wenn sie schlafen, wird es eine Antwort darauf geben; erst, wenn ich schreibe, kann ich wieder behaupten, wer ich bin. Genau deshalb ist das hier das Gegenteil eines gut gebauten, elegant komponierten Romans.

In Stellings Roman begegnen uns immer wieder solch meta-poetologische Kommentare der Ich-Erzählerin, und allesamt zielen sie auf etwas, das bereits in den anderen genannten Titeln deutlich wurde: Wenn Autor*innen über Elternschaft schreiben und darüber, was diese Elternschaft für ihr eigenes Schreiben bedeutet, kann es nicht darum gehen, in festgefahrenen Erzählmustern zu verbleiben, sondern es muss darum gehen, neue Erzählwege einzuschlagen.

Interessant ist auch, dass einige Texte über Elternschaft und Autor*innenschaft an die Kinder, die Nachkommen adressiert sind. So erzählt Resi beispielsweise für ihre Tochter Bea. Sie hat sich vorgenommen, sie mit der gnadenlosen Wahrheit zu konfrontieren, um nicht denselben Fehler wie ihre Eltern zu begehen, das Vorenthalten von Lebenswichtigkeiten. Die norwegische Autorin Kjersti A. Skomsvold richtet ihren Roman (hier findet sich auf dem Cover der deutschen Übersetzung die Gattungsbezeichnung »Roman«, wenngleich Skomsvold auch für ihr autobiographisches Schreiben bekannt ist) Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone (2019) an ihre Tochter – die Zweitgeborene –, sie schreibt an ein »Du« und erzählt diesem »Du« alles über die beiden Schwangerschaften, die Geburten, die jeweils ersten Monate, aber auch über die Beziehung zu ihrem Mann, dem Vater der Kinder, sowie über ihr eigenes Schreiben. Die Ich-Erzählerin konnte erst wieder schreiben, als ihr zweites Kind geboren war (»Als hättest du erst kommen müssen, als hätte ich dich haben müssen, um dir all das zu erzählen, du musstest kommen und für einen Neuanfang sorgen, damit ich die vorausgegangenen Jahre, die eingetretenen Veränderungen, einigermaßen klar betrachten konnte.«).

Die Autorin Simone Hirth wiederum richtet ihren Briefroman Das Loch gleich an mehrere Adressat*innen, was auch in mir den Wunsch auslöst, mit einem Brief zu reagieren:

Göttingen, den 14. Oktober 2020

Liebe Simone Hirth, 

ein Briefroman – welch altertümliche Gattung – über eine Schriftstellerin, die Mutter wird! Ich finde sie großartig, die literarische Form, die Sie für ihren Roman Das Loch gewählt haben. Und wie praktisch, lässt sich doch das Schreiben von Briefen viel besser in einen Alltag mit Kind(ern), wenn sowieso alles fragmentarisch erscheint, integrieren als eine große teleologische Erzählung. Kennen Sie die Stelle in Antonia Baums Still leben (ich habe das Zitat gerade nicht parat), in dem die Autorin darüber schreibt, dass ihr Alltag vor der Geburt des Kindes aus vielen langen Strichen bestand, die die Erledigungen ihres Alltags darstellten, also alles linear verlaufende, an einem Stück abzuarbeitende und vor allem eben auch abgearbeitete Dinge, während ihr Leben mit Kind nur noch aus vielen Punkten besteht, aus vielen begonnenen Tätigkeiten, aber keine davon zu Ende geführt? Ihre Briefe sind wie diese Punkte. Und das meine ich weder negativ noch beleidigend. Im Gegenteil. Also im Grunde genommen sind Sie ja nicht die Briefeschreiberin, sondern Henriette Schöbel, Ihre Protagonistin. Glauben Sie, es geht vielen Autor*innen, die über das Kinderthema schreiben, so? Also, dass sie allzu voreilig mit ihren Protagonist*innen gleich gesetzt werden? Mehr als bei anderen Themen? Jedenfalls schreibt Henriette Schöbel Briefe an Jesus, aber auch an Mohammed und die Frauenministerin, an Ulrike Meinhof, Madonna und Schneewittchen, und immer wieder auch an Personen aus ihrem direkten Umfeld, an ihren Sohn oder ihren Schwiegervater. Manchmal gibt es viel zu schreiben, weil die Zeit dafür auch gerade da ist. Manchmal, wenn das Schreiben unterbrochen wird, ist so ein Brief auch mal nur einen Satz lang, wie der vom 12. März 2018: »Lieber Jesus, oha er kackt schon wieder«. Nicht mal für ein abschließendes Satzzeichen war noch Zeit. Ja, so ist das manchmal.

Ich muss jetzt los, meinen Sohn aus der Kita abholen. Danke Ihnen für diesen gelungenen Roman, liebe Simone Hirth, und schauen Sie sich um, Sie sind in bester Gesellschaft.

Herzliche Grüße,

Jennifer Sprodowsky, eine Leserin Ihres Romans

 

VI.

Mit dem Lockdown und der Verlegung der Kinderbetreuung nach Hause musste Care-Arbeit in vielen Familien noch einmal neu definiert und verhandelt werden. Gerade für Schriftsteller*innen, deren Arbeitszeit ohnehin zumeist im häuslichen oder privaten Umfeld stattfindet, verschärft sich hier der Konflikt. Einige der Autor*innen des Blogs Other Writers Need to Concentrate bringen das auch in ihren Beiträgen zum Ausdruck, wie beispielsweise Barbara Peveling am 12.09.2020: “In der Nacht liege ich wach und überlege, ob ich meine Kinder wohl auch bekommen hätte, wenn mir vorher klar gewesen wäre, dass die Gesellschaft mich bei der ersten großen Krise allein mit ihnen lässt.” 

Es ist wichtig, dass sich mit dem Blog, der als Weiterführung einer von Carolin Callies eigens zu dem Thema konzipierten poetin-Ausgabe[iii] betrachtet werden kann, ein Zusammenschluss von Autor*innen und Künstler*innen findet, der darauf aufmerksam macht, welche Rolle Care-Arbeit in unseren Leben sowie in der öffentlichen Wahrnehmung spielt, denn bislang scheint der Literaturbetrieb wenig Platz zu haben für schreibende Eltern. Wie viele Aufenthaltsstipendien sind beispielweise mit Kindern anzutreten möglich? Und wenn es dann doch erlaubt ist, Kinder oder die Familie mitzubringen, so endet das schnell, wie David Blum in seinem Beitrag »Anekdoten aus Schöppingen« vom 8. September 2020 schreibt: “Die zweite Nacht in Schöppingen endet nach drei Stunden. Der Kleine sitzt im Bett und übergibt sich. Im Schlafanzug eile ich zu den Gemeinschaftsräumen, um frische Bettwäsche zu besorgen. Auf dem Weg lerne ich die anderen Stipendiaten kennen. Sie sitzen vor dem Kamin, rauchen, trinken, unterhalten sich. Ich grüße und wühle in den Schränken nach Bezügen und Laken.”

Der Name des Blogs stammt übrigens aus eben solch einem Gespräch über ein Stipendium, wie die Redaktion auf dem Blog verrät: »›And sorry to tell you that we do not accept little kids as it really troubles other writers who need to concentrate‹, war die Antwort auf eine Anfrage an ein Künstlerhaus, ob die Möglichkeit bestehe, zu dem bereits zugesagten Aufenthaltsstipendium mit Familie anzureisen.«

Bleibt nur zu hoffen, dass sich immer weniger Autor*innen konzentrieren können, damit mehr Geschichten schreibender Eltern erzählt werden können.

 

 

[i] Hermann, Judith (im Gespräch mit Kolja Mensing und Susanne Messmer): »Ich hoffe auf Erlösung«. In: taz. die tageszeitung (31.01.2003). ‹https://taz.de/!818636/›.

[ii] Stelling, Anke (im Gespräch mit Carolin Callies): Den Engel zeitweise aussperren. In: Autorschaft und Elternschaft. poetin nr. 25. Hrsg. von Andreas Heidtmann. Leipzig 2018.

[iii] Heidtmann, Andreas (Hg.): poetin nr. 25. Autorschaft und Elternschaft. Leipzig 2018.

 

 

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Knause-Pause – Was man statt Knausgård lesen kann

von Matthias Friedrich

Dieser Tage erscheint in Deutschland ein neuer Roman von Karl Ove Knausgård. Nein, es handelt sich nicht um den in diesem Herbst im Original veröffentlichten Morgenstjernen, sondern um Ute av verden (Aus der Welt), Knausgårds Debüt, das in Norwegen bereits 1998 erschien und 2006 einen Platz auf der Dagbladet-Liste der besten Bücher aus den vorigen 25 Jahren belegte. Dieses Buch trägt bereits alle Ingredienzen des autofiktionalen Zyklus in sich, der zwischen 2009 und 2011 auf den Markt kam und den Autor dank Paul Berfs und Ulrich Sonnenbergs Übersetzungen auch in Deutschland zum bekanntesten Exponaten norwegischer Literatur machte.

Der Ich-Erzähler in Aus der Welt, ein 26-jähriger Mann namens Henrik Vankel, zieht in ein nordnorwegisches Dorf, um als Aushilfslehrer zu arbeiten – genauso wie Karl Ove in Band vier seines Monumentalprojekts mit dem deutschen Titel Leben. In seiner Einsamkeit erinnert er sich immer wieder an das gestörte Verhältnis zu seinem gewalttätigen Vater und gleitet wiederholt in surreale Traumsequenzen ab. Schließlich verliebt er sich in seine dreizehnjährige Schülerin Miriam und tut ihr sexualisierte Gewalt an.

Die Konflikte, die Knausgård in seinem Debüt beschreibt, sind auch aus seinen anderen Büchern hinreichend bekannt. Die Vater-Sohn-Geschichte, die in Sterben Thema ist, findet sich in Aus der Welt ebenso wieder wie die exzessive Bezugnahme auf hypermaskuline Erotiker wie Agnar Mykle, der in den fünfziger und sechziger Jahren das protestantische Norwegen mit zügellosen Coming-of-Age-Romanen schockierte, oder auf Dante Alighieri, dessen Höllenreise die Vorlage für Henrik Vankels Privatinferno ist, daneben aber auch Klatschgeschichten, die die Boulevardzeitung VG einmal so zusammenfasste: „In seinem neuen Buch schreibt Knausgård über heißen Sex mit jungen Mädchen.“[1] Grundsätzlich beeinflusst der männliche Blick das Schreiben dieses Autors ganz entscheidend. Das ist auch der Grund, weshalb sein Debüt 22 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung so altbacken wirkt, ja, sich geradezu liest wie eine Pädo-Schmonzette. Henrik nimmt das junge Mädchen, auf das er seine sexuellen Gelüste projiziert, nicht als Subjekt wahr, sondern als Objekt. Diese Vorstellung resultiert aus einem fatalistischen Bild von Männlichkeit und führt zu einer Literatur-Ideologie, die ethische Belange aus der Kunst heraussubtrahiert und trotz ihrer Selbstdarstellung als apolitisches Zeichensystem tief verstrickt ist in patriarchale Zusammenhänge

Einen konkreten Hinweis auf ebenjene Ideologie bietet das Coverbild der norwegischen Originalausgabe. Darauf war lange Zeit ein von hinten abgebildetes, nacktes, etwa zwölfjähriges Mädchen zu sehen, das auf einen See hinausschaut – eine Fotografie des Künstlers Jock Sturges, der schon öfters beschuldigt wurde, mit seinen Fotografien Kinder zu sexualisieren. Als Knausgårds Roman 2015 in schwedischer Übersetzung erschien und dieses Umschlagbild in dem Land, das bei seinen skandinavischen Nachbarn oft für seine angebliche politische Korrektheit ausgelacht wird, in den Fokus geriet, löste die Literaturprofessorin Ebba Witt-Brattström eine Debatte aus. Sie bezeichnete Aus der Welt als „literarische Pädophilie“ und kritisierte bei dieser Gelegenheit auch noch gleich Stig Larsson (nicht den Krimiautor, sondern den Popliteraten), in dessen Roman Höllenfahrt eine ebenso detaillierte Beschreibung eines Übergriffs zu finden ist wie im Debüt des Norwegers. (Es ist sicherlich kein Zufall, dass Larsson ein weiterer von Knausgårds Referenzautoren ist. In Kämpfen bezeichnet er ihn als „wild, begabt und furchtlos“ – eine Reverenz, die in homosozialen Männerbünden als Ritterschlag gelten kann.) Die Kunstautonomie scheint dem Autor von Min kamp über alles zu gehen. In Kein Heimspiel etwa kritisiert er den angeblichen Neopuritanismus seiner Wahlheimat Schweden. Er erzählt eine Anekdote über den norwegischen Dichter Georg Johannessen, der während eines Tanzes zu einer etwa Fünfundzwanzigjährigen sagte, er würde sie gerne auf eine einsame Insel mitnehmen. Knausgård berichtet von seiner Enttäuschung: Wie kann so ein großer Autor „etwas so Dummes“ sagen! Jahre später stellt er lakonisch fest: „Jetzt finde ich es einfach gut.“ Hiermit bringt Knausgård zum Ausdruck, dass man bestimmte Dinge in Schweden nicht mehr sagen darf, „ohne dass man sich verdächtig macht“ – nämlich so etwas wie: „romantisierend, das männliche Genie, bla bla bla“.

Erstaunliche Worte von einem, über den Teile des deutschsprachigen Feuilletons in ihrer schläfrigen Bräsigkeit gerne behaupten, er schildere Maskulinität wie noch niemand zuvor und der sich doch nur um seine Männlichkeit betrogen fühlt, weil er sich Sorgen machen muss, was andere über ihn sagen.[2] Überhaupt steht die Frage noch aus, weshalb ausgerechnet ein Schriftsteller, der seine künstlerischen und familiären Nöte sowie seine narzisstische Selbstüberhöhung als Künstler durch die Referenz auf Mein Kampf mit Hitler in Verbindung bringt, so vehement als moderner Mann gelesen wird. Letztlich tut er nämlich nichts anderes, als seine ständigen Grenzüberschreitungen mit einer fragwürdigen Wahlverwandtschaft und einem Verweis auf die Autonomie der Kunst zu rechtfertigen. Er schreibt sich selbst in eine Tradition ein, die den männlichen Künstler als Genie sieht – kurz, er ist ein zoon apoliticon (oder einfach nur ein con).

Bei all der puerilen Leidenschaft, mit der sich Knausgård in den Fallstricken der Kunstautonomie verheddert, wird also klar, dass er die Themen, die von so vielen als die seinen angesehen werden – der männliche Blick, teenage angst, Elternschaft, Transgression – oft nur unzureichend behandelt. Dass ausgerechnet er, dessen kritisches Urteil oft von Klischees, schlichter Unkenntnis oder fatalistischen Männlichkeitsgefühlen beeinträchtigt ist, so häufig als Repräsentant norwegischer Literatur herangezogen wird, liegt einerseits daran, dass alleine sein Name und ein paar provokant hingeschleuderte Thesen die Kassen klingeln lassen, andererseits aber auch an mangelnden Übersetzungen aus anderen Sprachen, die seine Sujets aus einem interessanteren Blickwinkel behandeln. Natürlich gibt es diese Bücher, und ich möchte vier von ihnen vorstellen, um dadurch Aus der Welt vielleicht an den Ort verweisen, den sein Titel andeutet. Im Idealfall entstehen dadurch einige neue Übersetzungen, die uns eine – wie man im Norwegischen so schön sagt – knause-pause gönnen.

Der männliche Blick

Inger Bråtveits Roman Siss og Unn (2008) verweist bereits im Titel auf die Protagonistinnen eines der berühmtesten Texte der norwegischen Literatur: Tarjei Vesaas‘ Das Eisschloss (1963). In diesem Klassiker geht es um die Freundinnen Siss und Unn. Nachdem Unn in einem gefrorenen Wasserfall, dem sogenannten Eisschloss zu Tode kommt, verfällt Siss in tiefe Trauer, und so handelt Vesaas‘ Roman in großen Teilen davon, wie sie lernt, mit ihrem Verlust umzugehen.

Trauer ist auch bei Bråtveit das zentrale Thema. Sie versetzt die Figuren Siss und Unn in die Gegenwart. Unn wohnt mit ihrer Mutter, nur „Mummy Big“ genannt, auf einem Bauernhof. Der Vater hat sich aus dem Staub gemacht – „was genau ihn von seinem eigenen, über Generationen weitervererbten Bauerngut vertrieb, darauf kann niemand, der seine fünf Sinne beisammenhat, eine stichhaltige Antwort geben“. Unn bekommt mit, dass ihre Mutter ihre „Essenz“ verliert und kann sich kaum noch um ihre Tochter kümmern.

Anders sieht es zunächst für Siss aus, die mit ihrer Familie jüngst aus Schweden hergezogen ist. Ihr Vater ist Betriebsingenieur in einem Kraftwerk und ein Entscheidungsträger, wie er im Buche steht. Präsent ist er aber nicht. Siss muss so mit den Konflikten ihrer Eltern zurechtkommen. Unn hingegen muss lernen, mit dem Tod umzugehen, denn Mummy Big erkrankt nicht nur an Depressionen, sondern auch an Krebs. Auch wenn Siss Unn für eine Zeit helfen kann, vermag auch sie nicht zu verhindern, dass Unn irgendwann ihr privates Eisschloss aufsuchen und sich in der siebten Kammer ihrem Schmerz stellen muss. Wer Vesaas gelesen hat, wird ahnen, wie diese Konfrontation enden wird.

Besonders an Bråtveits Roman ist insbesonere der Stil. Unn spricht Nynorsk, die Sprache Vesaas‘, Siss hingegen Schwedisch. Nynorsk ist aus älteren Dialekten hervorgegangen und ist eine Schriftsprache, der leider oft noch Provinzialität vorgehalten wird. Das Schwedische hingegen hat etwas Bürgerliches, nahezu Mondänes, und so treffen hier eine ländliche und eine weltgewandte Sichtweise aufeinander, um sich gegenseitig zu ergänzen. Zwischen englischen Einsprengseln, frommen Liedern und literarischen Anspielungen entsteht so ganz überraschend ein Raum für die Auseinandersetzung mit der eigenen familiären Herkunft. Bråtveit erweitert das Sujet der Trauer um die Perspektive der Mütter. Beide scheinen nicht allzu viel von der allseits gelobten skandinavischen Geschlechtergleichheit profitiert zu haben. Sie reiben sich in der Sorgearbeit auf, Mummy Big ist sogar noch eine Zeitlang als Pflegerin beschäftigt. „Gesund zu sein heißt, noch überschüssige Kräfte für die alltäglichen Anforderungen zu haben. Den Lohn dafür erhalte ich wohl im Himmel.“ kommentierte sie ihre Tätigkeit. Siss‘ Mutter hingegen versucht längst nicht mehr, das zurückzuhalten, was ihr „unter dem Ventildeckel“ brodelt. Beide Frauen haben den Eindruck, in ihrem Zuhause gefangen zu sein, suchen den Fehler allerdings bei sich selbst und nicht im System.

Insbesondere die Mütter in Siss og Unn scheinen einen männlichen Blick internalisiert zu haben, durch den sie sich beständig abwerten, sich auf ihre Sorgearbeit reduzieren und es ihnen als persönliche Schuld anrechnen, wenn sie daran scheitern oder einmal ausbrechen wollen – wohingegen die Männer für ihre Grenzüberschreitungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Ganz anders als beim Eisschloss lassen sich an Siss und Unn damit auch die Schattenseiten des skandinavischen Wohlfahrtsstaats beschreiben. Knausgård ist hier anders: Zwar lassen sich bei ihm Ansätze kritischen Denkens erkennen, die er allerdings oft zugunsten einer homosozialen Kumpanei mit männlichen Autoren verwischt. Bråtveit nutzt hingegen genau jene Mittel, die von Verfechtern eines vulgären Postmodernebegriffs so gerne herangezogen werden. Durch die Aneignung einer literarischen Stimme, subversive Verfremdung, intertextuelle Referenzen und die Differenz zwischen Sprechen und Schreiben ergründet sie, wie sich ihre weiblichen Figuren selbst (v)erkennen. Damit ist Bråtveits Poetologie untrennbar mit jenen Methoden produktiver Lektüre verbunden, die Knausgård noch als Puritanismus von sich weist.

Teenage angst

Oft hört man in Schreibseminaren den Ratschlag, die Figurensprache müsse dem Alter des jeweiligen Charakters entsprechen. Das gelte auch und insbesondere für Texte, deren Hauptfigur sehr jung ist. Diesen Tipp scheint Ingvild Schade glücklicherweise ignoriert zu haben, denn der vierzehnjährige Ich-Erzähler Karsten aus Bergverket (Das Bergwerk, 2019) eignet sich keineswegs als Diskursbeispiel für Jugendslang. Dieser knapp 120 Seiten lange Roman ist ein wilder Gattungsmix aus Young Adult Fiction, Coming of Age, Kriminalroman und Pikareske, dessen manisch plappernder, neunmalkluger Protagonist Opfer und Täter, Professor und Forschungsobjekt sowie Arzt und Patient in einer Person ist. „Norwegian Psycho“, stand in der Presse zu lesen, ganz so, als habe Ingvild Schade eine eigene Gattung erfunden – eine Prosa, die dem Abweichler mehr Raum zuspricht als dem Mitläufer und eher zum Widerspruch als zu logischen Schlussfolgerungen neigt. Das ist erstaunlich, denn eigentlich ist Karsten als Naturwissenschaftler angetreten, um seine Welt mit einem Metalldetektor zu erforschen.

Er hat den Eindruck, in einem unübersichtlichen Bergwerk zu leben. Unterirdische Gänge führen überallhin, nur nicht an irgendein Ziel. Und ebenso unübersichtlich wie dieses Labyrinth sind auch Karstens Leben und seine literarische Darstellung. Weite Teile des Romans beschäftigen sich mit einer großangelegten Spekulation: Karsten bildet sich ein, im Garten die Leiche eines Models zu finden, das einen Gravensteiner Apfel in der Hand hält. Bei seinen Ermittlungen verzettelt er sich und dringt niemals auf den Grund des Rätsels vor, dessen Antwort er alleine ist, in seiner Einsamkeit auf sich selbst und seine Spekulationskünste zurückgeworfen. Nicht äußere Ereignisse sind es, die die ewige Assoziationskette in Gang bringen, sondern oft bestimmen bloß einzelne Worte über den Fortlauf des Gedankenstroms:

Gravensteiner, Gravensteiner, murmelte ich, nur, um zu entdecken, dass das Wort die Speichelproduktion anregt, genau wie Vergrößerungsglas, klecksige Federtinte, Darmzotten, Waschwasserfass und trianguläre Toreinfahrten. Genau das. Hierin fand ich meine Berufung, ja, so stark will ich das formulieren, und die Jungs aus der Nachbarschaft konnten mich ruhig verhohnepiepeln, rief ich aus dem Fenster nach draußen – wohl bekomm’s! Dann zog ich die Gardinen zu, schaltete die Schreibtischlampe an, hielt die Kamera wieder vors Auge und zoomte an ein Passfoto heran, das Mama als Jugendliche zeigte, vollkommen unkenntlich. Ich prüfte das Gesicht auf die Nähte, die Linien der Haut. Verdächtig, meinte ich und seufzte leicht entnervt auf, während ich mir, so ich mich denn selber richtig kenne, mit der freien Hand die Kante meines Schlüppers aus der Kimme zupfte. Hier ist dicke Luft, sagte Papa in der Tür. Raus mit dir, erwiderte ich brüsk, doch bereute schnell, denn jetzt konnte ich ihn nicht danach fragen, Rote-Beete-Saft auf den Kies zu kippen, damit ich Blutspuren nachgehen konnte. Sakra. Ich nahm einen Notizblock aus der Schreibtischschublade, klatschte einen Haufen Vokabeln hin, die Mama mir verboten hat. Unter anderem Zauche. Z-a-u-c-h-e. Hurenbock auch. Tralala, das verbotene Ratzefummellied. Wünsche mir ein Du-weißt-schon-was, das still und leise alles wegwischt, was ich gesagt und gemeint und gedacht und überlegt und getan habe.

„Wohl bekomm’s“, „Kimme“, „Zauche“, „Sakra“ oder „Ratzefummel“ Auch wenn Karsten ein Arztsohn ist, sein Sprachduktus ist für einen Vierzehnjährigen alles andere als „authentisch“. Er ist ein (Pseudo-)Wissenschaftler, aber auch eine Schnodderschnauze und Ingvild Schade lässt ihn mit seinen Tiraden mehr über seinen seelischen Zustand zu vermitteln als Knausgård in seiner Weltschmerzprosa über seine eigenen Gefühlswelten. Zwar gibt es kaum ein Fachgebiet, dem Karsten sich nicht annähern will, nur eins mag er partout nicht ansprechen: seine Einsamkeit, die er alleine nicht überwinden kann und die ihn dazu zwingt, sich mit den wildesten Erfindungen über Wasser zu halten – ganz so, als versuchte er, sich durch sein rasendes Erzählen und Spintisieren vor dem endgültigen Untergang zu retten.

Elternschaft

In ihrer Heimat Dänemark gilt die Lyrikerin Olga Ravn als Shootingstar einer neuen, jungen, dezidiert politischen Literatur, deren bekannteste Gesichter hierzulande Yahya Hassan und Jonas Eika sind. Seit ihrem Lyrikdebüt 2009 hat sie weitere Gedichtbände, Romane und Übersetzungen veröffentlicht. In Mit arbejde (Meine Arbeit, 2020) beschreitet sie nun neue Wege. Nach Celestine, einer Art Gothic-Roman, und De ansatte (Die Angestellten), einer Science-Fiction-Erzählung über die Arbeitswelt des 22. Jahrhunderts, behandelt sie nun mit der Kindsgeburt ein Thema, das in der skandinavischen Literatur seit zwei Jahren große Aufmerksamkeit erfreut, auch wenn der Kritiker Endre Ruset diesen Trend des norwegischen Bücherherbstes 2018 als „Muttermilchtsunami“ verunglimpfte.[3] Olga Ravns Roman hingegen ist ein geglücktes literarisches Experiment über den Blick der Gesellschaft auf die werdende und sorgende Mutter.

Die Ich-Erzählerin behauptet zunächst „selbstverständlich“ sei sie es, die dieses Buch verfasst habe, um kurz darauf anzufügen: „Für den Moment einigen wir uns jetzt einmal darauf, dass es jemand anders geschrieben hat.“ Diese andere Person ist eine gewisse Anna, ebenfalls eine Ich-Erzählerin, die der fiktiven Herausgeberin einen Wust an Notizen, E-Mails und anderen Dateien überlassen haben will. Ihr obliegt es nun, dieses Material zu sortieren. Sie wird zur Herausgeberin eines unmöglichen Buches. Bald schon stellt sich nämlich heraus, dass Anna, eine Schriftstellerin, einen Konflikt mit sich selbst ausficht, den sie folgendermaßen beschreibt:

Mein Problem besteht wohl darin, dass ich der Literatur zu stark zugewandt bin, für mich ist alles Fiktion, alles ist schreibbar. Aber nicht für eine Mutter. Von einer Mutter verlangen wir, dass sie so über ihre Kinder, über ihre Mutterschaft nicht schreiben darf. Für eine Mutter kann nicht alles Fiktion sein. Man könnte sagen: Eine Mutter hat kein Recht auf Fiktion. Oder: Mutter zu werden, heißt, das Recht auf Fiktion zu verlieren.

Was heißt, dass eine Mutter „so“ nicht schreiben darf? Anna zitiert die japanische Lyrikerin Hiromi Itō, die in ihrem Gedicht Killing Kanoko den Monolog einer Kindsmörderin verfasst. Diese hat ihr sechs Monate altes Kind getötet, das genauso heißt wie die Tochter der japanischen Dichterin. Auf die Frage der schwedischen Autorin Tone Schunesson, was Mutterschaft für ihr eigenes Schreiben bedeute, antwortet Itō, sie versorge ihre Kinder mit dem, was sie zum Leben bräuchten, im Gegensatz dazu böten sie ihr das Material für ihre Gedichte. Das sei genauso wie in einer Bauersfamilie, in der der Nachwuchs auf dem Feld mithilft. Radikal zugespitzt liefert Itō eine Antwort auf Annas Problem: Selbstverständlich hat eine Mutter ein Recht auf Fiktion.

Anna indes kommt zu einer Erkenntnis, die Olga Ravn in einem Debattenartikel so zusammengefasst hat: „Die Zeit, in der wir unsere Körper und unsere Psyche opfern, um neue Kinder in die Welt zu setzen, ist vorbei“.[4] Diese Einschätzung teilen womöglich auch die rund 600 Frauen, die Ravn nach der Veröffentlichung des Textes in der Zeitung Politiken kontaktiert haben, um die Öffentlichkeit wissen zu lassen, wie der dänische Wohlfahrtsstaat Schwangere aus Zeitmangel und Unachtsamkeit mit ihren Sorgen alleine lässt.[5] Anna muss ebenfalls einsehen, dass Ideal und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Am deutlichsten wird dies in der Anordnung der Romankapitel: Der „Vorbereitungs-“Kurs, in dem die werdende Mutter nicht auf den Schmerz vorbereit wird, den sie bei der Geburt empfinden wird. Und so folgt der Arztbericht einer dramatischen Entbindung unvermittelt auf die Schilderung ebenjenes Seminars. Und wenn Anna auf ihren Schmerz hört, wird sie dafür verantwortlich gemacht, nicht so stoisch zu sein, wie man das von ihr erwartet. Ihr Schreiben wird von mehreren Faktoren beeinflusst, die ein kontinuierliches Schreiben unmöglich machen. (Die Kapitel tragen Überschriften wie „Erster Beginn“ oder „Zweite Fortsetzung“.) Anna kritzelt in Notizhefte, tippt Gedanken ins Handy und verfasst Mails. Hierarchien zwischen Medien haben für sie keinerlei Bedeutung. So entsteht ein gattungsüberschreitender Text, der kurze Erzählungen, mehrere kurze Gedichtbände und essayähnliche Interventionen miteinander verbindet. Immer wieder eingeschoben sind Briefe der Herausgeberin, die Anna ihre Gedanken über das Projekt, aber auch über die eigene Schwangerschaft mitteilt. Auch wenn Anna möglicherweise Fiktion ist, zumindest im Geiste knüpfen die beiden schwesterliche Bande.

Stellenweise wirkt Mit arbejde wie eine äußerst zeitgemäße Aktualisierung romantischer Motive. Die anonyme Herausgeberin schafft sich mit Anna eine Doppelgängerin, um das Leid, das ihr während der Geburt ihres Kindes widerfahren ist, auf Distanz zu halten. Anna ist ein Gegenüber, in das sich die Herausgeberin einfühlen kann, um ihre eigenen widersprüchlichen Gefühle zu verstehen. Die Bandbreite der Gattungen wiederum erinnert an die formale Wandelfähigkeit des romantischen Romans, der Briefkonvolute mit längeren erzählerischen Passagen und anderen künstlerischen Mitteln zu kombinieren weiß.

Die literarische Versatilität in Ravns Buch ist vor allem aber auch eine Folge mangelnder Arbeitszeit. Sie hat ein Buch verfasst, das im Sinne Mallarmés unmöglich ist und sterilen Debatten über Kunstautonomie einen zeitgenössischen Anstrich verpasst. Denn an Mit arbejde lässt sich ein weiteres Mal erarbeiten, wieso ästhetische und politische Fragestellungen nicht voneinander zu trennen sind.

Transgression

Nach drei Beispielen aus Nordeuropa kommen wir nun mit Katalonien zu einem ganz anderen Punkt auf der literarischen Landkarte, und mit Bonaventura Claveguera Claveguera zu einem Autor, der Transgression als politisch-subversive Kraft und nicht im Dienste einer reaktionären Genieästhetik à la Knausgård nutzt. Er interessierte sich sowohl für die Kunst als auch für die Naturwissenschaften, arbeitete als Tierarzt, malte und musizierte, schrieb Gedichte und philosophische Traktate, und verfasste einen antifaschistischen, surrealen Roman über den Spanischen Bürgerkrieg aus Sicht eines kleinen Kindes: die Summa kaòtica (1986), oder, wie es der Schriftsteller Rafael Vallbona formulierte: „Dalí, übersetzt in Worte.“[6] Dabei trug er nicht immer diesen langen, komplizierten Namen, sondern verkürzte ihn auf Anraten seines Freundes Salvador Espriu zu Ventura Ametller – ein Pseudonym, das ihm, so behauptete es zumindest Espriu, eine Chance im Literaturbetrieb geben sollte. Nun könnte diese Prognose falscher nicht sein, denn Ametller ist alles andere als bekannt; vermutlich hat er in der falschen Sprache, im falschen Land und zur falschen Zeit geschrieben. So sieht es auch der Schriftsteller Miquel de Palol in einer Kritik der Summa: „Mit seinen Eigenheiten ist dieser Autor im Großpanorama der europäischen Literatur keine Sondererscheinung. Damit ein Romanautor dieses Formats und hohen, in erster Linie stilistischen Ansprüchen eine angemessene Sichtbarkeit erhält, braucht es jedoch eine kulturelle Öffentlichkeit, in der klar abgesteckt ist, wie eng definiert und wie mächtig die offizielle Meinung ist, um daraufhin abweichenden Ansichten medialen und akademischen Raum zu verschaffen.“[7] Katalonien fehlte also schlicht das Publikum für ein solches Buch, und außer der posthum veröffentlichten Resta kaòtica, einer Art Appendix zur Summa, hat es keine von Ametllers anscheinend zahlreichen literarischen Arbeiten auf den Markt geschafft. Senyor Espriu hat die gnadenlosen Mühlen des Literaturbetriebs wohl unterschätzt.

Ironischerweise ist die Mühle ein zentrales Symbol für das Verständnis des vorliegenden Romans. Wie einer der vielen Charaktere es beiläufig formuliert, ist sie „das ganze Universum, das wir zum Fortschritt hin weiterdrehen. Deshalb achten wir mit großer Sorge darauf, dass sie sich nicht in die umgekehrte Richtung bewegt. Wenn wir das tun, dann gewinnen die rückwärtsgerichteten, kapitalistischen Kräfte … Und die Völker und das Proletariat dieser Welt begeben sich erneut auf den Weg der Sklaverei und des Elends.“ Nun handelt der ganze Roman davon, die Mühle wieder in Richtung des Fortschritts zu wenden – und dieser Kampf wird aus der Sicht eines Kindes geschildert, das in den Phasen der Handlung unter verschiedenen Namen auftaucht: Proto-, Ana- und Metamorphus. Den Protragonisten lernen die Leser*innen zunächst als Spermium auf dem Weg in die Eizelle kennen und folgen ihm nach seiner Geburt über den Bürgerkrieg bis zur Diktatur und der darauffolgenden Übergangszeit in die Demokratie. Doch es geht hier nicht um den Helden und dessen persönliche Entwicklung bis er als Metamorphus die Handlung verlässt, sondern um eine dem Publikum aufgezwungene, verzerrte Perspektive.

Bei einer Anamorphose lässt sich ein Bild nur aus einem bestimmten Blickwinkel erkennen. So ist es auch bei Ventura Ametller, der gleich im Vorwort zu seinem Roman schreibt: „Die Namen werden ausgetauscht, die Breiten- und Längengrade verschoben, Landschaften und Entfernungen ausgedehnt oder verkürzt … Alles wird sein, wie es ist, und zur selben Zeit ganz anders.“

Anamorphus‘ Heimatstadt Pals wird zu Poel, Katalonien zur „República Dissident“, das Katalanische zum „Bacanard“ – was nicht nur “begriffsstutzig” bedeutet, sondern auch “Einwohner der Stadt Begur”. Wir müssen wir diese Wortspielereien und die seltsame Welt aus den Augen eines Kindes sehen und es ganz beim Wort nehmen. Poel ist bevölkert von Riesen, in Waldhöhlen verstecken sich Zauberer, und es ziehen merkwürdige Zeiten herauf, denn was Anamorphus von seiner kommunistischen Lehrerin, der „Roten Lia“, erfährt, deckt sich nicht mit dem, was er auf der Straße hört:

So eignete [er] sich sein Wissen über diese seltsame Materie an, neue Worte wie: Massen, Ökonomie, Mehrwert, Revolution, Proletariat (Industrie-, Bauern-), Kapital, sozial, Arbeit, Arbeiterstaat, Klassen, Kampf etc. Die Rote Lia hoffte, wenn [Anamorphus] sie bloß aussprach, würden sie sich schon irgendwo erfüllen. Auf der Straße hingegen lernte er andere: Krieg, Schlacht, Gewehr, Pistole, Panzer, Flugzeug, Liquidation, Tscheka, Mobilisation, Hinterhalt, Gefängnis, Deserteure, etc., etc.

Bald schon ist es mit der Chance auf Utopie allerdings vorbei. Der Krieg kommt, ohne, dass groß gesagt wird, wieso eigentlich. Die fehlende Erklärung intensiviert den Schrecken nur noch: Flugzeuge werfen Bomben ab, Attentate werden begangen, die Gesellschaft versinkt im Schlamm. Eine Hungersnot bricht aus, Anamorphus und seine Familie müssen fliehen und ständig fürchten, dass sie festgenommen und umgebracht werden. Ein gewisser Nemesius, Ametllers Version von Franco, betritt die Bildfläche und dreht die Zeit rückwärts. Er sieht sich als ausgleichende, strafende Gerechtigkeit (daher auch der Name) und will alle revolutionären Bestrebungen zunichtemachen. Nemesius ist die personifizierte faschistische Dreifaltigkeit aus Kirche, Staat und Vaterland. Selbst die kleinsten Abweichungen bestraft er mit Folter und Mord. Aber es ist klar, dass diese Gewaltherrschaft nicht ewig halten wird. Und auch wenn die subversiven Aktionen von Anamorphus & Co. irgendwann zu einem Ende der Diktatur führen, stellt sich die Frage, wie lange der Frieden anhält – und wie man ihn dauerhaft sichern kann.

Ametller erzählt seine Geschichte nicht als realistischen Kriegsroman, sondern als surreale Farce. Oft erinnert der Text an spätmittelalterliche Höllen-und Paradiesdarstellungen. Er ist ein gigantisches Wimmelbild, auf dem Anamorphus selbst nur ein Tüpfelchen ist. Doch selbst die willkürlichsten Entwicklungen haben einen gemeinsamen Nenner: Sie überschreiten die Realität, um sie in etwas Neues zu verwandeln. Anders als bei Knausgård ist die Transgression bei Ametller kein Selbstzweck, mit dem er seinen Status als genialer Künstler bekräftigen will, sondern eine politisch-transformative Kraft, mit der er die bestehenden, reaktionären Verhältnisse wieder in Richtung Fortschritt umkehrt.

Übersetzungen der Romanzitate von Matthias Friedrich. Zu drei der besprochenen Bücher liegen Exposés und Textproben vor.

Matthias Friedrich, geboren 1992, ist Übersetzer. Zuletzt: Thure Erik Lund, Das Grabenereignismysterium (Droschl 2019). In Vorbereitung: Svein Jarvoll, Die Melbourne-Vorlesungen (Urs Engeler, voraussichtlich 2020), Leif Høghaug, Der Kälberich (die brotsuppe, voraussichtlich 2021).

[1] https://www.vg.no/rampelys/bok/i/RkazA/knausgaard-skildrer-sin-dragning-mot-ung-elev

[2] https://www.freitag.de/autoren/mikael-krogerus/brutal-ehrlich

[3] https://www.dagbladet.no/kultur/barselbok-debatten—dette-er-billig-og-nedlatende-retorikk/70084829

[4] https://politiken.dk/debat/debatindlaeg/art7943049/Den-tid-er-forbi-hvor-vores-kroppe-og-psyker-skal-ofres-for-at-bringe-nye-b%C3%B8rn-til-verden

[5] https://www.femina.dk/dit-liv/flere-end-600-kvinder-har-skrevet-til-olga-ravn-om-moderskabet-glansbilledet-er-meget

[6] http://casavbn.blogspot.com.es/2008/06/dal-en-paraules.html

[7] http://proallibrespremia-ed.blogspot.com/2008/06/lescriptor-miquel-de-palol-parla-sobre.html

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Homeoffice im Altkanzleramt – Eine Bildbetrachtung

von Benedikt Wintgens

 

Soyeon Schröder-Kim hat einen erfolgreichen Auftritt bei Instagram. Es ist dort zwar keiner der ganz großen Accounts, aber immerhin 16.000 Follower warten derzeit auf die neuesten Posts. Wie bei Instagram üblich wirft Schröder-Kim Schlaglichter vor allem auf die schönen, glänzenden Seiten des Lebens. Wer ihr folgt, sieht Äpfel, Tomaten und immer wieder Blumen. Gezeigt werden aber auch Fotos aus Konferenzräumen und Kongresshotels, wenn die in Seoul geborene Dolmetscherin und Übersetzerin Einblicke in ihr Berufsleben gibt. In der Corona-Pandemie gehören natürlich Screenshots aus dem Zoom-Universum dazu. An anderen Tagen steht Schröder-Kim zuhause am Induktionsherd und brät Gemüse. Mit ihren zweisprachigen Beiträgen schlägt sie auf Instagram nicht nur eine Brücke zwischen Südkorea und Deutschland, es zerfließen auch die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen dem Anschein von Authentizität und Selbstdarstellung.

Leitmotivisch steht Schröder-Kims Account unter #Hasosul, wofür sie als Übersetzung vorschlägt: „Eine kleine Freude an einem Tag“. Unter den makellosen Oberflächen sind ihre Beiträge allerdings keineswegs unpolitisch – dem pandemiebedingten Rückzug in die eigenen vier Wände und der Inszenierung dieser Häuslichkeit zum Trotz. Schon im Frühjahr gab es Schnittmuster für Mund-Nasen-Schutz und regelmäßige Plädoyers fürs Maskentragen, als diese Kulturpraxis in Deutschland noch ungeübt war. Darüber hinaus bezieht Schröder-Kim Stellung für eine Statue, die in Berlin-Moabit an die sexuelle Gewalt erinnert, die koreanische Frauen während der japanischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg erlitten haben.

Seinen besonderen Reiz gewinnt Schröder-Kims Account durch die regelmäßigen Auftritte des Ehemanns. Der ist deutlich älter als seine Frau und in Deutschland nicht unbekannt. Gerhard Schröder war von 1998 bis 2005 – getragen von einer rot-grünen Parlamentsmehrheit – der siebte Bundeskanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, zunächst ein paar Monate noch in Bonn, dann für sechs politisch turbulente Jahre in Berlin. Heute ist der Altkanzler als Anwalt und Lobbyist tätig, insbesondere für russische Energiekonzerne, die zur Gazprom-Gesellschaft gehören; unter anderem ist er Aufsichtsratsvorsitzender von Rosneft. Wegen dieser Verbindungen steht Schröder öffentlich immer wieder stark in der Kritik. Zuletzt bezeichnete ihn etwa der russische Oppositionelle Alexej Nawalny als einen „Laufburschen“ von Präsident Putin. Für den langjährigen SPD-Außenpolitiker Gernot Erler verbindet Schröder mit Putin eine „Männerfreundschaft ohne Rücksicht auf Verluste“.

Zuhause aber, jedenfalls bei Instagram, erscheint Schröder als liebender Ehemann. Er bringt seiner Frau Blumen, um ihr eine Freude zu machen, und in Pantoffeln erntet er auf der Terrasse gezogene Tomaten. Alles in allem entsteht so der Eindruck, als wäre es nicht zuletzt sein Werk, dass es privat in Hannover richtig hyggelig zugeht, äußerst entspannt. Höchstpersönlich steht der Altkanzler am Herd und macht Bratkartoffeln, lässig-nachlässig trägt er dazu eine blaue Steppweste, darunter sichtbar die nackten Oberarme. Großes Kino ist das Instagram-Video, in dem Schröder an einem Spätsommerabend auf dem Balkon sitzt und – aus dem Gedächtnis sowie mit seiner sonoren Stimme – Rilkes berühmtes „Herbsttag“-Gedicht rezitiert, einen Teller Suppe, Rotwein und einen Sonnenblumenstrauß vor sich auf dem Tisch: „Herr: es ist Zeit.“

Es soll Charme und Selbstironie zum Ausdruck bringen, wenn der inzwischen Sechsundsiebzigjährige Hagebuttenzweige in einer Vase trägt und dabei ins Smartphone erzählt, wie er als kleiner Junge die Mädchen mit Juckpulver aus Hagebutten getriezt hat. Gleichzeitig regt sich beim Zuschauen oft eine Art Schamgefühl, stellt sich Frage, ob man das wirklich sehen möchte, ob man nicht unversehens voyeuristisch wird – und ob es möglicherweise ein Nebeneffekt dieses anscheinend privaten Accounts sein könnte, Schröders umstrittene Verbindungen vergessen zu machen. „Andere Aufsichtsratsvorsitzende russischer Energieriesen wohnen vermutlich anders“, bemerkte dazu süffisant der Publizist Arno Frank.

Eine Mischung aus Staunen und Faszination stellt sich auch beim Betrachten jenes Fotos ein, das die Eheleute Schröder im Arbeitszimmer zeigt (und das offensichtlich von einer dritten Person fotografiert wurde). Nebeneinandersitzend signieren die beiden Autogrammkarten – seine schwarz-weiß, ihre in Farbe, etwas kleiner im Format allerdings. Die Autogrammkarten sind eine Dankeschön-Aktion des Paars für die Unterstützung des Vereins HeRo, dessen Schirmherrin Soyeon Schröder-Kim ist und der sich um kultursensible Altenhilfe für Koreaner*innen kümmert, die in den 1960er Jahren nach Westdeutschland gekommen waren.

 

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Über die Köpfe der beiden wandert der Blick beim Betrachten des Bildes hinaus in den Raum, der mit Parkettboden, weißen Wänden sowie hochwertigen Büromöbeln eine aufgeräumt-elegante, aber nicht unpersönliche Arbeitsatmosphäre ausstrahlt. In halbhohen Regalen stehen Bücher (ohne dass der Eindruck einer überladenen Bibliothek entstehen würde); die Buchtitel sind nicht genau zu identifizieren, gut zur Hälfte handelt es sich um großformatige Kataloge, viel Kunst also, eine bekannte Leidenschaft Schröders. Dazwischen stehen allerlei kleinere Gegenstände, Souvenirs vielleicht, hinter denen sich wohl weitere Geschichten verbergen. Die rotweiße Blechtrommel etwa ganz wie auf dem Buchcover des gleichnamigen Romans: Hat Schröder sie von Günter Grass geschenkt bekommen, dem streitbaren Freund der „EsPeDe“, oder vom Regisseur Volker Schlöndorff, der für die Verfilmung der „Blechtrommel“ mit einem Oscar geehrt wurde? Als Schröder Bundeskanzler war, haben sich beide öffentlich für ihn stark gemacht.

Rätsel gibt auch ein großes Bismarck-Porträt auf – Bismarck, ernsthaft? Der „eiserne Kanzler“, dessen Sozialistengesetz Linke und Arbeiterbewegung als „Reichsfeinde“ polizeilich bekämpft hatte? Vielleicht steht sein Bild bei Schröder in Hannover für Durchsetzungskraft, historische Größe und politischen Erfolg. Bismarck regierte mit sprichwörtlich harter Hand, doch die Sozialdemokraten haben die Zeit der Unterdrückung überstanden – und 100 Jahre nach Bismarcks Tod wurde der aus kleinen Verhältnissen stammende Gerhard Schröder Kanzler. Besonders auffällig in seinem Zimmer sind da noch zwei Bronzeplastiken, die nur von der Seite zu sehen sind. Trägt die eine Büste wirklich Schröders Gesichtszüge? Hat er sich sein also eigenes Herrschaftszeichen ins Zimmer geholt? Und wen repräsentiert der Frauenkopf an seiner Seite, ist das Soyeon Kim?

Klarer liegen die Dinge bei der weiträumigen Bildergalerie der Bundeskanzler, die in der chronologischen Reihenfolge gehängt wurden, ohne Hinweis auf Parteizughörigkeit oder unterschiedlich lange Amtszeiten: zuerst der greise Patriarch Adenauer zivil-distanziert mit Hut, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger, dann Willy Brandt und Helmut Schmidt, die beiden Sozialdemokraten (zu deren Zeit Schröders politische Karriere begann), Helmut Kohl – und endlich Schröder selbst. Die Porträts stammen alle von Konrad R. Müller, einem der großen Porträtfotofrafen der kleinen Bonner Republik.* Die Serie hängt auch in mehreren Museen. Es sind Fotografien in schwarz-weiß, als Porträts weder Herrschergemälde noch Karikatur, mit Passepartouts in schlichten, aber eleganten Holzrahmen, die perfekt zum sachlich-bescheidenen Stil der alten Bundesrepublik zu passen scheinen.

Bis auf Kohl, der sich verschmitzt ins Fäustchen lächelt, schauen alle Kanzler ernst und konzentriert drein, nachdenklich oder besorgt – fast so, als gelte es, die besondere Würde, Schwere, Gravitas ihres Amtes ins Bild zu setzen. Schröders Büro-Fotos stellen eine historische Kontinuität bundesrepublikanisch-deutscher Staatlichkeit her (damit korrespondiert sogar der verblassende Bismarck), und sie knüpfen an die Selbstdarstellung klassischer Herrschaftslegitimation an: Schröder reiht sich im Wortsinn ein in die Linie derer, die es nach ganz oben geschafft haben – und die ihrem Land dann (dem Eigenbild nach) gedient haben.

Die „Ahnengalerie“ des Altkanzlers ist auch eine Anspielung auf die „offizielle“ Porträtfolge, die heute im Bundeskanzleramt hängt. Diese Galerie befand sich zunächst im 70er-Jahre-Bau des Bundeskanzleramts in Bonn, genau jenem Gebäude also, an dessen Zaun der junge Abgeordnete Schröder in den 80er Jahren nach einem fröhlichen Abend in der „Provinz“-Kneipe gerüttelt haben soll: „Ich will hier rein.“ Die Galerie geht auf eine Idee von Helmut Schmidt zurück, dessen Vorliebe für die deutschen Expressionisten, namentlich den nationalsozialistisch belasteten Emil Nolde zuletzt historisch aufgearbeitet wurde. Schmidt wollte mit seinem Kunstprogramm die Bonner Regierungszentrale, deren Architektur ganz aufs Praktische und Funktionale ausgerichtet war und die Schmidt nicht leiden konnte, bildsprachlich konterkarieren. Neben einem nach Nolde benannten Arbeitszimmer und einem Worpswede-Salon entstand stückweise eine Ahnengalerie, für welche die noch lebenden Altkanzler ihren Maler selbst vorschlagen durften. Helmut Schmidt etwa entschied sich für den ostdeutschen Maler Bernhard Heisig; Kohls Wahl fiel später auf den Leipziger Albrecht Gehse. Da Adenauer nicht mehr lebte, behalf man sich mit einem Bild, das Hans Jürgen Kallmann 1963 gemalt hatte, während das künstlerisch weitaus interessantere Adenauer-Porträt von Oskar Kokoschka damals nicht verfügbar war und heute über Angela Merkels Schreibtisch hängt.

Der gemeinsame Nenner dieser sechs „amtlichen“ Kanzleramtsbilder von Adenauer bis Kohl ist, dass sie zwar dem Anschein nach an das Genre klassischer Herrscherporträts zitieren, aber allesamt Politiker zeigen, die nicht mehr aktiv sind und ihre Macht abgegeben haben. Wie die Kunsthistorikerin Merle Ziegler in ihrer Studie über das Bonner Amtsgebäude hervorhebt, erscheinen die Kanzler „im Gestus des bürgerlichen Privatmannes“ – ein bisschen so wie Schröder heute bei Instagram. Dessen Porträt in der Kanzlergalerie, gemalt von Jörg Immendorff, fällt demgegenüber aus dem Rahmen. Hier sitzt kein Ruheständler, sondern es ist eine goldene Büste mit entschlossenem Blick. Auf diesem Bild strahlt Schröder als Medienkanzler wie als Machtmensch, ironisch flankiert von mehreren Maleraffen. Seine Anmutung ist cäsarenhaft oder erinnert an einen Renaissancefürsten. Eine freilich fehlt in dieser Reihe: Angela Merkel, Bundeskanzlerin seit 2005. Sie hat auch in Schröders Arbeitszimmer in Hannover kein Bild – zumindest im Bundeskanzleramt wird sich das wohl eines Tages ändern. Schröder schreibt derweil Autogramme, und Soyeon Schröder-Kim wird weiter auf Instagram posten. Nicht alles geht glatt auf, nicht alles wirkt stimmig. So ist das Leben, lächelt heute das Ehepaar Schröder-Kim bei Instagram. Heiter und gelassen.

 

* Für den Hinweis danke ich Wolfgang Ullrich

 

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[Atelier NRW] Leben, um zu schreiben – schreiben, um (davon) zu leben?

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch
Nabelschau von Yannic Han Biao Federer
Ans Ende schreiben von Gunther Geltinger

Von Juliana Kálnay

1.

Wie muss ich leben, um schreiben zu können? Ob bewusst oder unbewusst haben sich die meisten Schriftsteller:innen mit dieser Frage auseinandergesetzt oder mit jenen, die ihr verwandt sind: Welche Rahmenbedingungen brauche ich für mein Schreiben? Wie muss ich dafür meinen Alltag strukturieren? Und je nachdem, wie es die aktuellen Lebensumstände erlauben, beeinflussen die Antworten wichtige Entscheidungen, wird Alltag und Leben danach ausgerichtet.

2.

1929 schrieb Virginia Woolf in ihrem berühmten Essay A Room of One’s Own: „(…) eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können (…).“[1] Das ‚Geld‘ in diesem Zitat lässt sich auf finanzielle Einnahmen (oder sich im eigenen Besitz befindendes Vermögen) beziehen, die das Auskommen sichern und unabhängig machen: von der Last des Broterwerbs, von der Last der Armut und unabhängig auch von der finanziellen Unterstützung durch die Familie oder einen Partner. Woolf selbst beschreibt, wie sie durch den Tod ihrer Tante Mary Beton zu finanzieller (und in der Konsequenz auch zu künstlerischer) Freiheit gelangte: Diese vererbte ihr nämlich auf Lebenszeit 500 Pfund im Jahr, die es ihr erlaubten, die Broterwerbstätigkeiten, deren Ausübung sie verbittert hatte, aufzugeben. Woolf musste von da an nicht mehr für die Zeitung über Eselsschauen und Hochzeiten berichten, älteren Damen vorlesen, Umschläge addressieren oder Kleinkindern das Alphabet beibringen.[2] Die zweite zum Schreiben benötigte Ressource, die Virginia Woolf nennt, ist das eigene Zimmer. Dieses steht für einen Raum, in dem ein Rückzug und damit ein möglichst ungestörtertes und konzentriertes Arbeiten möglich ist. Etwas allgemeiner formuliert ließe sich sagen, das ‚Zimmer‘ steht für Raum zum Schreiben und das nicht nur in einem wörtlich-räumlichen Sinne, sondern auch in einem zeitlich-räumlichen: Man benötigt ausreichend Zeit, um sich zurückzuziehen und sie ungestört dem Schreiben widmen zu können.[3]

3.

Hinter einem Roman stecken oft mehrere Jahre Arbeit. Dazu zählt nicht nur die Zeit, die es braucht, um den Text zu verfassen. Man benötigt auch Zeit, um sich konzeptionell mit dem Vorhaben auseinanderzusetzen und um Dinge wieder verwerfen und neu ansetzen zu können, wenn sie einmal nicht gelungen sind. Das Schreiben ist per se eine Arbeit mit dem Ungewissen. Wenn man beginnt, weiß man noch nicht, wie das Ergebnis aussehen wird, und auch das Scheitern ist nicht ausgeschlossen. Doch um sich die Zeit zum Schreiben, Denken und Scheitern nehmen zu können, braucht es ein gesichertes Auskommen. Desto mehr Zeit nämlich in eine andere Quelle des Gelderwerbs aufgewendet werden muss, desto weniger Zeit bleibt für das Schreiben selbst. Der Wert von ökonomischen Kapital liegt also für den Schreibenden in der Schreibzeit, die damit einhergeht. Für Schriftsteller:innen gilt demnach in der Regel weniger das bekannte Prinzip nach dem Zeit gleich Geld ist, sondern vielmehr – und das ist nicht dasselbe –, dass Geld gleich Zeit ist.

4.

Kürzlich veröffentlichte die US-amerikanische Autorin Lynn Steger Strong einen Artikel in The Guardian, in dem sie eine vermeintlich banale Wahrheit konstatierte, nämlich die, dass man sich das Schreiben erstmal leisten können muss:

I would argue that there is nothing more sustaining to long-term creative work than time and space – these things cost money – and the fact that some people have access to it for reasons that are often outside of their control continues to create an ecosystem in which the tenor of the voices that we hear from most often remains similar.[4]

Steger Strong rät ihren Studierenden, sich einen Job zu suchen, der ihnen Zeit und Raum zum Schreiben verschafft und kritisiert Kolleg:innen, die öffentlich behaupten, vom Schreiben zu leben, und dabei verheimlichen, dass sie über weitere Einkünfte verfügen – etwa, wie Steger Strong selbst, durch Tätigkeiten in der Lehre, durch Auftrags- und Werbetexte oder weil Familie und Partner:innen mit regelmäßigem Einkommen für finanzielle Sicherheit sorgen.[5] Ich lese Steger Strongs Text vor allem als Plädoyer, die ökonomischen Rahmenbedingungen des Schreibens transparent zu machen, anstatt diese unter dem Nimbus einer professionellen Schriftsteller:innentätigkeit zu verklären. Wir sollten über Geld sprechen, obwohl oder gerade wenn es um die Produktion von Kunst geht.[6] Denn auch wenn ihr Motor zumeist ein intrinsischer ist, wird die künstlerische Arbeit von ihren Rahmenbedingungen beeinflusst. Das Klischee des „armen Poeten“, der in einer klammen Dachkammer hockt,[7] hält sich hartnäckig und hat immer wieder auch zu einer Romantisierung des künstlerischen Prekariats geführt. Doch wir sollten uns bewusst machen, dass ein Leben unter präkeren Voraussetzungen unter Umständen zwar die Konsequenz, aber niemals die Bedingung für künstlerische Arbeit sein kann. Und auch wenn die Not einer bekannten Redewendung nach erfinderisch macht, sind es in der Regel eher die besseren finanziellen Voraussetzungen, die ein freies und unabhängiges Schaffen und damit auch literarische Vielfalt begünstigen.

5.

„Die geistige Freiheit hängt von materiellen Dingen ab. Die Dichtkunst hängt von der geistigen Freiheit ab“[8], stellt Virginia Woolf fest, und ich frage mich, wie man sich diese geistige Freiheit bewahren soll, wenn das Schreiben zum Beruf geworden ist. Wenn also die Quelle des ökonomischen Kapitals, das nicht nur die Währung ist, mit der man sich die für das Schreiben notwendige Zeit erkauft, sondern auch jene, welche die für das Schreiben ebenso benötigte Freiheit ermöglicht, wenn jene Quelle also das Schreiben selbst ist? Wie sich beim Schreiben von dem Gedanken befreien, dass man vom Ergebnis dieser Arbeit finanziell abhängig ist? Wie tatsächlich künstlerisch frei sein und sich nicht von Fragen der ökonomischen Verwertbarkeit beeinflussen lassen? Fragen wie: Wird das Buch, an dem ich gerade schreibe, ausreichend Leser:innen und damit Käufer:innen finden? Werde ich damit zu Lesungen eingeladen? Bekomme ich Stipendien? Und muss ich das Manuskript möglichst früh verkaufen, weil der Vorschuss dringend benötigt wird? Oder kann ich es mir leisten, mehr Zeit in ein Projekt zu stecken, wenn ich denke, dass es das braucht? Doch wie der Schreibprozess an sich eine Arbeit mit dem Ungewissen ist, sind auch die Einkünfte von Schriftsteller:innen – meist eine Mischkalkulation aus Buchverkäufen, Lesungshonoraren, Preis- und Stipendiengeldern – nicht planbar. Es gibt keine Garantie darauf, ob ein Buch besser oder schlechter laufen wird, als das vorherige. Die Unwägbarkeit und die darin liegende Labilität dieses Finanzierungsmodells offenbart sich während ich dies schreibe (Anm.: im März 2020) in einem beispiellosen Ausmaß, wenn nämlich aufgrund einer Pandemie auf einen Schlag alle Lesungen ausfallen und Buchhandlungen ihre Türen schließen müssen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die solidarischen Initiativen und staatlichen Schutzschirme ausreichen werden, um die vielfältige Literaturlandschaft zu erhalten.

6.

Vermutlich setzt eine absolute künstlerische Freiheit auch eine ökonomische Freiheit von der Kunst voraus. Nicht zuletzt deshalb glaube ich, dass das Schreiben des Debüts von einer Autonomie begleitet wird, die sich in dieser Form nicht wieder einstellt, wenn die professionelle literarische Bühne erstmal betreten ist. Mit der Publikation geht die Unschuld des Schreibens um seiner selbst willen verloren. Aus der Leidenschaft wird ein Beruf und das ist durchaus ein Privileg, beinhaltet aber auch eine andere Herangehensweise, ein anderes Verhältnis zum Schreiben.

7.

Der argentinische Autor Ricardo Piglia erklärte einst in einem Interview, es wäre doch einmal interessant, die Literaturgeschichte dahingehend zu untersuchen, wie Schriftsteller ihr Geld verdienen.[9] Piglia gehörte ebenfalls zu jenen Stimmen, die die materiellen Bedingungen der literarischen Produktion sichtbar machen wollten und das nicht nur in seinen öffentlichen Äußerungen, sondern auch innerhalb seines literarisches Werkes.[10] So legt er etwa in seinem Roman Falscher Name der Figur des Schriftstellers Roberto Arlt, die an den echten Schriftsteller Arlt angelehnt ist, folgende Zeilen in den Mund:

Um ein Meisterwerk hervorzubringen, um einen Anzug zu weben, der ein Jahrhundert hält, muss man fühlen, denken und schreiben. Wir können nicht denken, wenn wir keine Zeit haben zu lesen, nicht fühlen, wenn wir emotional ausgelaugt sind, und wir können nicht schreiben, wenn wir keine freie Zeit haben (das heißt: Geld, um die freie Zeit zu finanzieren).[11]

Um an das für die Zeit zum Schreiben benötigte Geld zu kommen, arbeitet die Schriftstellerfigur Roberto Arlt im Roman an der Entwicklung eines Herstellungsverfahrens für Damenstrümpfe ohne Laufmaschen. Der echte Roberto Arlt meldete übrigens – wie der Arlt in Piglias Roman – ein Patent für gummierte Damenstrümpfe an, er fand jedoch keinen Investor, der sie produzieren und vertreiben wollte. Der Reichtum blieb aus und er verstarb wenige Monate später.

8.

Während sich für Virginia Woolf jede Tätigkeit, die dem Gelderwerb diente und nicht das Schreiben selbst war, wie eine Zumutung anfühlte, und während Roberto Arlt das Reichwerden mit literaturfernen Geschäften als einen Weg sah, sich eine zukünftige Schreibzeit zu sichern, empfinde ich es als große Entlastung für mein Schreiben, dass ich daneben noch einer anderen Erwerbsarbeit nachgehe. Aus dem Schreiben-müssen wird ein Schreiben-können und ich bilde mir ein, dadurch zumindest einen Teil der Autonomie, die ich beim Schreiben meines Debüts verspürte, bewahren zu können. Und doch erlebe ich den Konflikt, dass mir durch den Gewinn der Freiheit allzu häufig eine andere für das Schreiben benötigte Ressource abhanden kommt: die Zeit.

9.

Für den französischen Soziologen Pierre Bourdieu sichert Geld „immer noch am besten die Freiheit von Geld. (…) Sie erspart den ‚reinen‘ Schriftstellern die Kompromisse, zu denen fehlende Einkünfte aus Kapital und Besitz sie sonst zwingen würden.“[12] In seiner Theorie des literarischen Feldes typisiert er Autor:innen nach ihrem Autonomiegrad und den Kapitalsorten[13], über die sie verfügen. Vereinfach dargestellt, unterscheidet dieses Modell zwischen jenen, die den Geschmack eines breiten Publikums bedienen und durch den Publikumserfolg monetäre Verdienste erzielen und jenen, die symbolisches Kapital in Form von Aufmerksamkeit und Anerkennung durch die Fachwelt genießen. Im Literaturbetrieb äußert sich symbolisches Kapital etwa in Form von Besprechungen im Feuilleton oder Auszeichnungen, es kann also durchaus mit ökonomischem Kapital einhergehen. Darüber hinaus gibt es im literarischen Feld eine noch nicht arrivierte Avantgarde, die nur eine kleine Gruppe von Interessierten erreicht, dafür aber eine hohe künstlerische Autonomie genießt.[14]

10.

Es steckt eine gewisse Freiheit in der Nische, denn wenn man vorrangig literarische Formen bedient, die sich nicht dazu eignen ein breites Publikum anzusprechen, wird der Druck, damit Geld verdienen zu müssen von vornherein klein gehalten. In diesem Fall ist den Autor:innen jedoch ebenfalls von Anfang an bewusst, dass das Schreiben aus anderen Mitteln finanziert werden muss, und dass diese unter Umständen zulasten der Zeit gehen. Einige literarische Formen, die auf dem Markt ein Nischendasein fristen, wie die Kurzprosa oder die Lyrik, haben aber auch den Vorteil, dass sie von dem Schreibenden oft weniger lange Konzentrationszeiträume einfordern als beispielsweise der Roman.

11.

Manch eine:r mag während der Lektüre dieses Essays der Gedanke gekommen sein, ob nicht gerade aus der finanziellen Not auch Literatur entstünde, in der ein existenzieller Antrieb zu erkennen sei. Ich halte es für einen Mythos, dass ein wirtschaftlicher Mangel in irgendeiner Weise der Entstehung von Literatur förderlich wäre.[15] Es ist zudem ein gefährlicher Mythos, weil er in letzter Konsequenz dazu verwendet werden kann, Förderprogramme zusammenzustreichen, Ausbeutung zu rechtfertigen und prekäre Bedingungen dort, wo sie bereits vorhanden sind, zu zementieren und zu zelebrieren.

12.

Von dem russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewskij ist bekannt, dass er sich als Berufsschriftsteller verstand, dem Literatur zunächst als Erwerbsquelle dienen sollte. Seine schriftstellerische Arbeit sollte demnach angemessen und am besten schon im Voraus honoriert werden. Er schien keinen Widerspruch darin zu sehen, kapitalismuskritische Romane zu schreiben und gleichzeitig davon zu träumen, durch den Erfolg derselben zu Reichtum zu kommen. Obwohl Dostojewkijs schriftstellerische Karriere mit dem Erfolg des Romans Arme Leute (1846) auch in ökonomischer Hinsicht vielversprechend begann, war sein Schreiben aufgrund hoher Spielschulden sowie eines temporären Publikationsverbots nach seiner Zeit im Gefangenenlager über weite Strecken seines Lebens von finanzieller Not geprägt, bevor sich die Verhältnisse in den letzten Jahren seines Lebens stabilisierten.[16] Vor diesem Hintergrund erscheint es interessant, dass die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Geld und Freiheit auch in Dostojewskijs Literatur auftaucht. So hat der Protagonist seines 1875 veröffentlichten Romans Der Jüngling das Ziel, reich zu werden, jedoch nicht um das Geld selbst, sondern weil er sich dadurch Freiheit und Autonomie verspricht.[17] Aus Dostojewkijs Erzählung Aufzeichnungen aus einem Totenhaus bzw. Aufzeichnungen aus einem toten Haus (1862), dessen Handlung in einem sibirischen Gefangenenlager angesiedelt ist, in dem die Häftlinge untereinander heimlich Waren und Dienstleistungen austauschen, stammt dagegen das Zitat „Geld ist geprägte Freiheit“[18].

13.

Im letzten Kapitel von A Room of One’s Own zitiert Virginia Woolf einen Zeitgenossen, den Literaturprofessor und Schriftsteller Arthur Quiller-Couch, der 1916 – immerhin 76 Jahre vor Pierre Bourdieu – einen Zusammenhang zwischen Bildung, ökonomischem Kapital sowie schriftstellerischer Schaffenskraft feststellte: Quiller-Couch zählt die Namen der Schriftsteller:innen auf, die er für die größten der englischsprachigen Literatur im 19. Jahrhundert hält – „(…) Coleridge, Wordsworth, Byron, Shelley, Landor, Keats, Tennyson, Browning, Arnold, Morris, Rossetti, Swinburne (…)“ – und bemerkt: „Von diesen waren alle bis auf Keats, Browning und Rossetti Akademiker; und von diesen drei war Keats, der jung starb, in der Blüte seiner Jahre dahingerafft, der einzige, der nicht leidlich wohlhabend war.“[19]

14.

In der Literaturgeschichte lassen sich ohne Zweifel Beispiele für Schriftsteller:innen finden, die, wie Keats und Dostojewskij, trotz finanzieller Widrigkeiten herausragende Werke schufen. Die Frage, welche Werke diese Autor:innen unter besseren Rahmenbedingungen darüber hinaus hervorgebracht hätten und welche Texte allgemein nie geschrieben wurden, weil Geld und ein eigenes Zimmer fehlten, drängt sich auf – und dennoch werden wir die Antwort niemals gänzlich erfahren. Auf der anderen Seite kommt es auch vor, dass Autor:innen trotz großzügigem Stipendium an einem Schreibvorhaben scheitern. Diese Möglichkeit ist – wir erinnern uns – in keinem Schreibprozess ausgeschlossen. Als prominentes Beispiel für einen Schriftsteller, der trotz gesicherter Projektfinanzierung scheiterte, gilt Wolfgang Koeppen, der ab 1961 für Jahrzehnte ein monatliches Honorar vom Suhrkamp-Verlag erhielt. Der Verlag hoffte auf den von Koeppen angekündigten großen Roman, dessen Vollendung jedoch nie erfolgte.[20] Sicherlich schafft die Freiheit von Geld- und anderen Sorgen nicht automatisch gute Literatur. Aber sie schafft Freiraum im Kopf, der für zielloses Denken wie für die Konzeption und Weiterentwicklung von literarischen Stoffen genutzt werden kann. Und sie schafft zeitlichen Freiraum und damit die Möglichkeit, sich überhaupt erst an den Schreibtisch zu setzen und die Projekte, die einen umtreiben, realisieren zu können.

15.

Bourdieu selbst betrachtete die objektive finanzielle Unabhängigkeit nicht als „(…)notwendige und schon gar nicht hinreichende Voraussetzung“ für die gefühlte künstlerische Autonomie, sondern „(…) allein die uneingenschränkte affektive, emotionale Besetzung eines wirklichen intellektuellen Projekts“.[21] Und doch wirken materielle wie auch andere Sorgen auf unser Schreiben, denn Literatur – und hier zitiere ich wieder Virginia Woolf:

(…) ist wie ein Spinnennetz, vielleicht nur ganz lose, aber dennoch an allen vier Ecken mit dem Leben verknüpft. Oft ist die Verknüpfung kaum wahrnehmbar (…) Aber wenn das Netz verzogen wird, am Rand verhakt, in der Mitte zerrissen, bedenkt man wieder, dass diese Netze nicht mitten in der Luft von körperlosen Wesen gewebt werden, sondern das Werk leidender Menschen sind, verknüpft mit grob materiellen Dingen wie Gesundheit und Geld und den Häusern, in denen wir wohnen.[22]

16.

„Weder Schreiben noch Publizieren lassen sich restlos in ökonomischen Gesetzmäßigkeiten fassen.“, schreibt Philipp Schönthaler in seinem sehr lesenswerten Essay Schreiben im Zeichen des Geldes, „Dennoch produziert die Verflechtung mit dem Markt sehr wohl eine Kette von Widersprüchen, die sich weder theoretisch noch strukturell auflösen lassen. Allein deshalb kann es für Autorinnen keine konfliktfreie Beziehung zum Geld geben.“[23] Auch der Konflikt zwischen den für das Schreiben benötigten Ressourcen der Zeit und des Geldes wird sich nicht mit einem Universalrezept lösen lassen. Es gilt ein für die eigene Lebenssituation passendes Modell zu finden, mit dem sich die individuell richtige Balance beider Ressourcen realisieren lässt, sich unter Kolleg:innen darüber auszutauschen wie wir vom Schreiben leben und bei Bedarf daran zu erinnern, dass der Schriftsteller:innenberuf nicht allein auf die Berufung reduzierbar ist.

[1] Woolf, Virginia: Ein eigenes Zimmer, dt. von Heidi Zerning, Frankfurt am Main, 2001, S.7.

[2] Vgl. ebd., S.39f.

[3] Den nötigen Raum und das nötige Geld zum Schreiben sind zwei der wichtigsten Ressourcen für eine schriftstellerische Tätigkeit – m.E. unabhängig vom Geschlecht des Schreibenden. Allerdings – und darum geht es auch in Virginia Woolfs Essay – haben Frauen aus strukturellen Gründen häufig größere Hindernisse zu überwinden, um an diese Ressourcen zu gelangen. Das war 1929 so und gilt in vieler Hinsicht auch heute noch – z.B. weil Frauen überdurchnittlich oft unbezahlte Care-Arbeit leisten. Um diese strukturellen Unterschiede zu vertiefen, wäre allerdings ein eigener Essay angebracht.

[4] Steger Strong, Lynn: A dirty secret: You can only be a writer if you can afford it. In: The Guardian, 27.02.2020 <https://www.theguardian.com/us-news/2020/feb/27/a-dirty-secret-you-can-only-be-a-writer-if-you-can-afford-it>, zugegriffen am 10.02.2020. Was diese Feststellung für Konsequenzen auf die soziale Diversität von Schriftsteller:innen bzw. dem schriftstellerischen Nachwuchs an den Literaturinstituten hat, wurde im deutschsprachigen Feuilleton vor einigen Jahren in Reaktion auf eine Polemik von Florian Kessler diskutiert (s. ders.: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! In: DIE ZEIT, 16.04.2014 <https://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteratur-brav-konformistisch>, zugegriffen am 10.02.2020).

[5] Vgl. Steger Strong: A dirty secret, a.a.O.

[6] Mein subjektiver Eindruck ist, dass es momentan auch auf internationaler Ebene vermehrt Vorstöße in diese Richtung gibt. So hat im vergangenen Jahr der argentinische Autor Patricio Pron eine Diskussion zur finanziellen Wertschätzung schriftstellerischer Tätigkeit angestoßen, die er für die Sicherung einer vielfältigen und und künstlerisch interessanten Literaturlandschaft für unabdingar hält (vgl.: Patricio Pron: Escritores urgidos de dinero. In: Letras Libres, 01.11.2019 <https://www.letraslibres.com/espana-mexico/revista/escritores-urgidos-dinero>, zugegriffen am 10.03.2020). Und auf dem Portal Medium führte Mike Gardner Interviews mit zwölf US-amerikanischen Autor:innen zur Frage „How I paid the bills while I wrote the book“. Gardner, der selbst ein Doppelleben als Schriftsteller und Rettungssanitäter führt, interessierte sich besonders dafür, wie die Broterwerbstätigkeiten Schreibprozess und -vorgehensweisen beeinflussen und wie die einzelnen Autor:innen es schafften „den Teil ihres Gehirns, der für Sprache und Vorstellungskraft zuständig ist“ während dieser Tätigkeit zu schützen (vgl.: Gardner, Mike: How the Interviewer Pays the Bills While He Writes the Book. In: Medium, 19.02.2019, <https://medium.com/s/day-job/mike-gardner-day-job-interviews-introduction-81ce0d17fcc6>, zugegriffen am 15.03.2020. Zur vollständigen Interviewsammlung siehe: <https://medium.com/s/day-job>, zugegriffen am 10.03.2020).

[7] Wie er auch vom Maler Carl Spitzweg in seinem Gemälde Der arme Poet (1839) dargestellt wurde.

[8] Woolf: Ein eigenes Zimmer, a.a.O., S.106.

[9] Vgl.: Solanes, Ana: Ricardo Piglia: “Uno escribe para saber qué es la literatura”. In: Cuadernos Hispanoamericanos, núm. 681 (03/2007), S. 133-144.

[10] Zum Motiv des Geldes in Piglias Werk siehe auch: Becerra, Eduardo: Ricardo Piglia: literatura, dinero, propiedad. In: Cuadernos LIRICO, Hors-série 2019, 16.02.2019, <http://journals.openedition.org/lirico/7926>, zugegriffen am 11.03.2020.

[11] Piglia, Ricardo: Falscher Name, dt. von Sabine Giersberg, Berlin, 2003, S.35.

[12] Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, dt. von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt am Main, 2001, S. 138.

[13] Bourdieu unterscheidet vier Sorten von Kapital: das ökonomische Kapital, das Geld bzw. materiellem Besitzvermögen entspricht, das kulturelle Kapital, das sich in etwa mit Bildung übersetzen lässt, das soziale Kapital, das für Beziehungen und Netzwerke steht, sowie das symbolische Kapital, zu dem die Reputation und die Anerkennung durch die Fachwelt zählt. Dabei begünstigt das Verfügen einzelner Kapitalsorten häufig auch den Erwerb anderer.

[14] Vgl. ebd., S. 198ff.

[15] Siehe hierzu auch Abschnitt 4. dieses Essays.

[16] Zum komplexen Verhältnis von Dostojewskij zu Geld vgl. Guski, Andreas: „Geld ist geprägte Freiheit“ – Paradoxien des Geldes bei Dostoevskij. In: Dostoevsky Studies. Bd. 16 2012, S. 7-57.

[17] „Ich brauche das Geld nicht, oder, richtiger gesagt, ich brauche nicht das Geld und nicht einmal die Macht, sondern nur das, was man durch die Macht erlangt und was man ohne Macht auf keine Weise erlangen kann: das ist einsames, ruhiges Kraftbewusstsein! Das ist die erschöpfendste Definition der Freiheit, diese Definition, mit der sich die Welt so herumschlägt.“ (Dostojewskij, F.M.: Der Jüngling, dt. von H. Röhl, Berlin und Weimar 1971, S.120).

[18] Zit. n. Guski: „Geld ist geprägte Freiheit“, a.a.O., S. 19.

[19] Quiller-Couch, Arthur: On the Art of Writing (1916) zit. n. Woolf: Ein eigenes Zimmer, a.a.O., S.105.

[20] Vgl. Fellinger, Raimund: „Komm‘ bei mir vorbei“. Wolfgang Koeppen und der Suhrkamp Verlag. In: TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur 34 – Wolfgang Koeppen. Hrsg. von Eckhard Schumacher und Katharina Krüger. 2. Aufl./Neufassung. München 2014, S. 89-95. In dem dort zitierten Briefwechsel von Wolfgang Koeppen mit dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld gibt Koeppen immer wieder neue Probleme an, welche die Fertigstellung des Manuskripts In Staub mit allen Feinden Brandenburgs verzögern. 1976 gelang es Koeppen immerhin den Prosatitel Jugend bei Suhrkamp herauszubringen. Ansonsten musste sich der Verlag mit Neu- und Werkausgaben seiner älteren Bücher begnügen (vgl. ebd.).

[21] Ebd. S. 139.

[22] Woolf: Ein eigenes Zimmer, a.a.O., S.43.

[23] Schönthaler, Philipp: Schreiben im Zeichen des Geldes. In: Volltext, 10.04.2019, <https://volltext.net/texte/philipp-schoenthaler-schreiben-im-zeichen-des-geldes/>, zugegriffen am 17.03.2020.