Jahr: 2020

Kein Aushängeschild von Leitkultur – Was Lyrik nicht kann und nicht soll

von Irina Bondas

 

Liebe Leserinnen und Leser: die Lyrik wird uns nicht retten.

Und ich meine das jetzt nicht persönlich. „Wann wenn nicht jetzt müssen wir unsere demokratischen Werte und die Kunstfreiheit verteidigen“, höre ich die letzten zehn Jahre und gefühlt schon immer auf Festivaleröffnungen und Diskussionsveranstaltungen, als bräuchte der Kulturbetrieb eine Daseinsberechtigung. Natürlich glaube ich auch, dass wir für  Demokratie und Freiheit unbedingt kämpfen müssen, aber bestimmt nicht, weil ich Lyrik lese, sondern weil ich es als zivilgesellschaftliche Verantwortung sehe und der Meinung bin, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, wie furchtbar das auch ist.

Die Kultur ist kein Pfandbrief der Zivilisation. Studien weisen keine Korrelation zwischen Analphabetismus und Wahlverhalten auf. Die Fähigkeit, Literatur zu lesen, reduziert nicht nachweislich das Risiko, rechts zu werden. Woher die Grundannahme, dass wir mit einem Bildungskanon auch Werte teilen? Dass Kunstfreiheit und Menschenwürde Hand in Hand gehen? Der Bildungsauftrag ist kein Glaubenssatz und Lyrik kein Aushängeschild von Leitkultur. Eine Person mit rechter Gesinnung kann vegan leben oder gerne Klassik hören, höflich und liebevoll sein, tierlieb, schwul und/oder gläubig, warum also keine ausgewiesene Lyrikkenner*in? Es gibt vielleicht “gute” Lyrik, aber keine “richtige”. Denn gerade die Erwartung, dass Menschen mit bestimmten Vorstellungen über die Gesellschaftsorganisation auch im individuellen ästhetischen Ausdruck bestimmte und bestimmbare Merkmale zu eigen sind, ist totalitaristisch.

Lyrik kann zum Leitmotiv gesellschaftlicher Prozesse werden, aber sie ist kein Instrument politischer Teilhabe. Der Vers hat uns noch nie befreit, die Rote Armee schon. Das macht Trotzki nicht zu einem besseren Literaten, einen, der tötet, nicht weniger zum Mörder, den Kommunismus nicht gerecht. Ganz zu schweigen davon, wie viele Diktatoren Künstler waren. Und wenn schon gescheiterte. Wer weiß, wie viele Künstler gescheiterte Diktatoren sind.

Deutschlands erfolgreichste HipHop-Künstler, wie Kollegah und dutzende andere, glauben an Kreationismus und verbreiten Verschwörungstheorien, was sich auch in der Corona-Pandemie wieder einmal gezeigt, wenn nicht gar verstärkt hat. Dabei können sie nicht unbedingt gut rappen. Aber das liegt nicht an ihren Überzeugungen. Und ihre Überzeugungen nicht an ihrem Bildungsgrad. Natürlich dient Provokation auch der Selbstinszenierung für bessere Vermarktung, aber das Publikum will es für bare Münze nehmen. Den Hunderttausenden, die sie feiern, fehlt es nicht an Zugang zu Alternativen. Und es fehlt ihnen auch nicht an Mündigkeit. Das ist eine bewusste Entscheidung. Wie jede bewusste Entscheidung für eine Form des Ausdrucks, der Kunst, der Aussage. Und wer sagt, dass es bei Lyrik ganz anders sei, muss mir erst einmal erklären, warum. Zumindest kommen wir bei Hip-Hop auf soziologisch repräsentative Zahlen.

Für die Verfasstheit der Gesellschaft gibt es das Grundgesetz, und nicht George oder Grass. „Das menschliche Gefühl ist kein Geburtsort der Gerechtigkeit”, schreibt Juli Zeh. Die Literatur ist es auch nicht. Lyrik muss nicht sagen, was gesagt werden muss. Und wenn sie es tut, muss keiner zuhören. Vielleicht brauchen Nationen eigene Dichter, aber Dichter brauchen keine Nationen. Nationaldichter sind keine Leistungsindikatoren, sie führen keine Stellvertreterkriege. Selbst wenn es ein Joseph Brodsky ist, der in seinem Gedicht Auf die Unabhängigkeit der Ukraine Alexander Puschkin gegen Taras Schewtschenko ausspielt, ist es weder politisch noch poetologisch ernst zu nehmen. Es braucht auch keine posthume Konfrontation zwischen Walter Benjamin und Ezra Pound, wie sie der Architekt Hans Kollhoff auf dem Walter-Benjamin-Platz mit einem Zitat aus Cantos über das „zinstreibende Wuchertum” beabsichtigte. Und Ezra Pound wird auch nicht weniger zum Antisemit, wenn er kurz vor seinem Tod in einem Gespräch den Judenhass als „schwersten Fehler” seines Lebens bezeichnete. Vielleicht ist der Anteil an Künstlern mit NS-Affiliation relativ gering, zumindest soweit wir es bis heute wissen. Aber Überzeugungen lassen sich nicht anhand von NSDAP-Parteikarten bestimmen. Es muss nicht als Missverständnis gerechtfertigt werden, wenn Dichter Krieg, Gewalt oder totalitäre Systeme befürworten. Gottfried Benn wird an seine Kulturpolitik im „neuen Staat“ genauso geglaubt haben wie an den Hippokratischen Eid. Und der Antifaschist Bertolt Brecht wird von den stalinistischen Säuberungen genauso gewusst haben wie von den KZs.

Die Wechselwirkung von Hochzivilisation und Unmenschlichkeit war ein zentraler Topos in George Steiners Werk, unter anderem auch der Gedanke, ob der Konsum von Kultur die Manifestation von Grausamkeit nicht auch begünstigen könne, anstatt ihr vorzubeugen. In der Nazizeit finden sich zahlreiche Beispiele für die Vereinbarkeit, die Frage nach dem Verhältnis bleibt bis heute offen. In seinem Essay Der Dichter und das Schweigen steckt Steiner das Schweigen, das Ungeschriebene ab und weist auf das gefährliche, hybride Potential des dichterischen Sprechens hin, zu dem unter barbarischen Bedingungen nur das Verstummen eine Alternative ist. Wer schweigt, wird schuldig. Wer spricht, auch.

Die Absichten zum Preis anderer Gedanken und Leben lassen sich nie ganz eindeutig bestimmen und bewerten. Bei Fragen nach Bewusstheit, Motiven und Reue steht immer der Beschuldigte im Zentrum, aber sie ändern nichts an dem verursachten Schaden, am Verbrechen selbst. Bis heute lässt sich aus der Geschichte keine Hierarchie der Handlungslegitimierung ableiten. Selbst, wenn es eine Banalität des Bösen gibt, ist das Böse nicht banal, sondern genauso vielfältig wie jede Gesellschaft, und vielleicht hatte Hannah Arendt persönliche Gründe, sich dahingehend irren zu wollen. Die Suche nach Gründen geschieht unweigerlich immer auch aus der Täterperspektive. Doch das alles hat nichts mit Lyrik zu tun. Lyrik kann eine Perspektive einnehmen, aber eine Perspektive nicht die Lyrik. Keine Bedeutung spricht für eine andere, Lyrik ist nicht statisch, Worte löschen sich nicht gegenseitig aus, ein Gedicht kann die Kraft eines anderen nicht aufheben.

Repressive Regime deformieren das Individuum, sie unterdrücken und vernichten Autoren und Publikum, deswegen der kulturelle Niedergang. Nicht, weil regimetreue Künstler minderwertig sind. Im Umkehrschluss machen Verfolgte nicht unbedingt gute Kunst und sind auch nicht zwangsläufig Menschenrechts-Apologeten oder Widerstandskämpfer. Urheber bedeutender Lyrik sind vielleicht Orakel, aber keine philanthropischen Visionäre, sie werden den Vakuumzerfall nicht vorhersehen geschweige denn aufhalten können – und ihre Leser*innen auch nicht. Von Lyrik sind keine konkreten Handlungsvorschläge zur Radikalisierungsprävention zu erwarten, genauso wenig wie von meinem Wasserkocher Währungsprognosen, obwohl er Ziffern anzeigt. Es gibt Zufälle, aber keine Zusammenhänge.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden diskursiven Radikalisierung stellt sich die Frage nach grundsätzlichen Positionierungen zu Texten mit Positionen. Dass das Feld offen rechtsgesinnter Lyriker*innen heute relativ überschaubar ist, kann als glücklicher Umstand gesehen werden, aber bei weitem nicht als Selbstverständlichkeit. Müssen wir dann rechte Lyrik lesen? Nein, müssen wir nicht. Erst recht, wenn sie zentrale Fragen, die unsere unmittelbare Existenz betreffen, ein-deutig vorschreibt. Wenn sie in Sein und Nichtsein unterteilt. Wenn der Text keinen Widerstand aufweist, keine Reibungsfläche bietet zwischen Subjekt und Außenwelt, ist es Propaganda. Das lässt sich über jede Form radikalisierter ästhetischer Sprache sagen. Oder mit Monika Rincks MERKSATZ: „Wenn es runtergeht wie Butter, ist es vermutlich Propaganda.”

In seiner Erforschung totalitärer Sprache grenzt Michał Głowiński zwar das ästhetische Schreiben vom agitatorischen ab, doch zeigen sich auch immer wieder Überschneidungen, wie in den unheilvollen Protokollen der Weisen von Zion, einer Fälschung, die literarischen Vorbildern nachgeschrieben wurde und bis heute im kollektiven Bewusstsein Wirkung zeigt. Bemerkenswert sind bei seiner Analyse unter anderem die Merkmale der Spektrum übergreifenden Generalisierung und des Universalitätsanspruchs, der dichotomischen Spaltung und konspirativen Wahrnehmung der Welt. Aber das dichterische Wort wird nicht bedeutsamer dadurch, dass es auf der richtigen Seite steht, höchstens lauter.

Lyrik kann ein Grundbedürfnis sein, aber sie macht uns nicht zu besseren Menschen. Das müssen wir schon irgendwie anders hinkriegen. Menschlichkeit bedeutet auch Ambivalenz und Komplexität aushalten. Lyrik macht es nicht einfacher, aber erträglich. Sie bietet Raum für Fehler und Funktionsstörungen. Lyrik ist nicht binär. Gedichte sind keine Globuli. Wer heilt, hat noch lange nicht Recht.

Ich spreche von den zwischenformen der mitteilung
den zwischenstadien des gedankens
spreche von den zwischenkulturen des gefühls
Warum sollte das nicht die einzige Welt sein

heißt es in Inger Christensens in det/das in Übersetzung von Hanns Grössel. Selbst wenn es weh tut: Wenn wir von Vorannahmen ausgehen, anstatt Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, nach Ver-Antwortung zu suchen, ist der Kampf schon verloren. Wir müssen in unserer Sprache Platz machen für das persönliche Irren. Wann, wenn nicht jetzt.

 

Eine frühere Fassung des Textes war ursprünglich Bestandteil eines Pecha Kuchas im Rahmen der Lyrikkritikakademie von lyrikkritik.de und dem Haus für Poesie. Das Pecha Kucha findet man auf der Seite lyrikkritik.de.

Für die schriftliche Publikation auf 54books wurde der Text erweitert und redaktionell bearbeitet.

 

Photo by Evelyn Clement on Unsplash

Kanon-Wrestling bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur #tddlKanon

von Daniel Stähr

 

Vieles war anders, vieles war neu bei den 44. (digitalen) Tagen der deutschsprachigen Literatur, aber eine Sache hat sich auch 2020 nicht verändert: Auch dieses Jahr griff die Jury in der Diskussion auf einen impliziten „Bachmannpreis-Kanon“ zurück, der die vorgetragenen Texte in einen Bezugsrahmen setzt. Nachdem Berit Glanz im letzten Jahr angeregt  hatte, diesen Kanon festzuhalten und somit abzubilden, welche Werke, Künstler*innen, Schriftsteller*innen und generell kulturellen Erzeugnisse als Referenzen verwendet werden, haben wir auch beim diesjährigen Bachmannpreis auf Twitter unter #tddlkanon die Bezüge der Juror*innen gesammelt.

Dabei bleibt eine Sache deutlich: Der #tddlkanon ist vor allem weiß und cis männlich. Ein Drittel der explizit genannten Personen waren Frauen, zwei Drittel Männer. Werden davon noch die über ein Dutzend Autor*innen und Herausgeber*innen abgezogen, die Sharon Dodua Otoo in ihrer Rede Dürfen Schwarze Blumen Malen? nannte, sieht es noch dürftiger aus.

Auffällig war auch, wie Marcel Inhoff (@sibaerisch) auf Twitter festgestellt hat, dass 2019 die Rede von Clemens Setz noch allgegenwärtig war in der Diskussion über die Texte, jene von Sharon Dodua Otoo aber von der Jury vollständig ignoriert wurde.

 

 

Bei allen Streitigkeiten innerhalb der Jury, wer denn jetzt ein konservatives Bild von Literatur(-kritik) und dem Feuilleton habe und wer nicht, kann festgehalten werden: Alle sieben Juror*innen bewegen sich in denselben, eng gesteckten Vorstellungen von relevanter Literatur und Kultur und die sind eben selbst Weiß. Das ist unter anderem der Hintergrund, vor dem die Preise verhandelt werden, ob das ausreichend oder angemessen ist, darf zumindest hinterfragt werden. Eine Abbildung der gesellschaftlich existierenden Diversität findet im Sprechen über die Texte jedenfalls nicht statt. Wie das behoben werden kann, dafür gibt Otoos Rede die Antwort. Bei der nächsten Neubesetzung der Jury könnte die gesellschaftliche Vielfalt auch in die Jury gebracht werden. Denn eins zeigt Dürfen Schwarze Blumen Malen? ganz eindeutig: Representation matters und macht einen realen Unterschied.

(Hinweise auf Korrekturen und Ergänzungen können gerne kommentiert werden, auch unter dem Hashtag #tddlkanon.)

 

Tag 1: Mittwoch, 17. Juni 2020

Autor*innen literarischer Werke:

Charles Dickens, Homer, Geoffrey Chaucer, Heinrich Böll, Bertolt Brecht, Michael Götting, Chinua Achebe, Walter Jens

Jackie Thomae, May Ayim, Olivia Wenzel, Zoe Hagen, Melanie Raabe, SchwarzRund, Noah Sow, Toni Morrison

Autor*innen nicht literarische Werke:

Achille Mbembe, Ludwig Wittgenstein

Nivedita Prasad, Chris Lange, Ika Hügel-Marshall

Politische Organisationen:

Bla*Sh, ADEFRA, ISD, Pamoja

Sonstiges:

Michel Friedman, Marcel Reich-Ranicki, Waldorf und Statler, Albert Einstein, Arnold Schönberg, Philippa Ebéné

Tag 2: Donnerstag, 18. Juni 2020

Filme & Serien:

Magische Tierwesen und wo sie zu finden sind (Hubert Winkels bezieht sich explizit auf die Filme), Der Blaue Engel, Blade Runner, Systemsprenger

Literarische Quellen und ihre Autor*innen:

Don Juan (Gedicht von Lord Byron), Manhattan Transfer (John Don Passos), Metamorphosen (Ovid), Unruhig Bleiben, Cyborg Manifesto (beide Donna Haraway), Ultraromantik (Leonhard Hieronymi), Die Letzte Welt (Christoph Ransmayr), Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus (Christine Lavant), Die Gänsemagd (Märchen)

Autor*innen literarischer Werke:

Ingeborg Bachmann, J.K. Rowling,

Franz Kafka, Arthur Schnitzler, Thomas Mann,Thomas Bernhard, Peter Handke, Hermann Hesse, Hubert Fichte oder Gottlieb Fichte (Insa Wilke und Hubert Winkels sprachen wahrscheinlich über verschiedene Fichtes als sie den Bezug aus Leonhard Hieronymis Text diskutierten, was die Verwirrung um den Ort seines Grabes erklären könnte), Hans Henny Jahnn, Mircea Dinescu

Fiktive Figuren:

Linus und Charlie Brown (Peanuts), Leila und Madschnun, Robin Hood, Medusa, Pegasus

Sonstiges:

Marlene Dietrich

Peter Sellers, Donald Tusk, Diogenes, Theodor W. Adorno, das Ü-Ei, The Last of Us (Spiel), The Who – Quadrophenia, Nora Gomringer nennt einen US-Präsidenten, der mit Hilfe von Bots eine Wahl gewonnen hat, Hubert Winkels verweist auf die Historie des Psychatrietexts beim Bachmannpreis

 

Tag 3: Freitag, 19. Juni 2020

Figuren Literarischer Werke:

Yoda (Star Wars), Scheherazade, Eulenspiegel

Literarische Quellen:

Drehtür (Katja Lange-Müller), Die Wand (Marlen Haushofer)

Karl und das 20. Jahrhundert (Rudolf Brunngraber), avenidas (Eugen Gomringer, Nora Gomringer erwähnt bei der Lesung von Levin Westermann den Admirador des Gedichts in ihrer Kritik) Peri hypsous („Über das Erhabene“, Pseudo-Longinos), Statistischer Roman (Gert Zeising)

Autor*innen literarischer Werke:

Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Arno Geiger, David Wagner, Werner Liersch, Jorge Semprún, Johann Wolfgang von Goethe, Leonhard Hieronymi und Jörg Piringer (immer wieder nutzt die Jury Verweise zu vorherigen Texten)

Katja Petrowskaja, Emily Dickinson, Natascha Wodin

Autor*innen nicht literarischer Werke:

Paul Gerhardt, Albrecht Schöne, Matthias Claudius, Erich Fromm, Meister Eckhart, Otto Neurath, Ernst Schubert, Oswald Spengler (Wiederstein nutzt das Zitat “Müde legt der Europäer das Buch aus der Hand”), Walter Benjamin

Sonstiges:

Pop-Literatur, Landschaft mit Eremit (Bild von Carl Blechen), Jesus, Maria Sibylla Merian

 

Tag 4: Samstag, 20. Juni 2020

Filme & Serien:

Lindenstraße (mit Bezug auf Else Kling), Hunde wollt ihr ewig leben

Regisseur*innen:

David Lynch, Éric Rohmer

Literarische Quellen:

Die Wand (Marlen Haushofer), Malina (Ingeborg Bachmann)

Insa Wilke bezieht sich wieder auf das Kafka-Zitat “Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns”, Die Blendung (Elias Canetti), Die Strudlhofstiege (Heimito von Doderer), Mann im Zoo (David Garnett), Meßmers Reisen (Martin Walser)

Autor*innen literarischer Werke:

Dorothee Elmiger, Lydia Haider, Teresa Präauer

Bov Bjerg, Ephraim Kishon

Autor*innen nicht literarischer Werke:

Theodor W. Adorno,

Sonstiges:

Joseph Goebbels, Paul Klee, Nicolas Sarkozy, Urs Fischer

Marina Abramović

Wiener Aktionismus, Schwarze Romantik, Nouvelle Vague, Monty Python,

Mehr als ‚nur symbolisch‘ – Statuensturz, Hashtag-Proteste und konnektives Erinnern

Von Tobias Gralke

 

Zwei Wochen ist es her, dass #Bristol in den Twitter-Trends stand. Am 7. Juni 2020 stürzten Aktivist*innen in der britischen Großstadt eine Statue des Kolonialverbrechers Edward Colston, rollten sie durch die Straßen und wuchteten sie jubelnd ins Becken des Hafens, der im 18. Jahrhundert ein wichtiger Ort des transatlantischen Handels mit versklavten Menschen und Kolonialwaren gewesen war. Bilder des Statuensturzes verbreiteten sich schnell in den Sozialen Netzwerken und machten die Aktion zu einem transnationalen Medienereignis, noch bevor sie in der journalistischen Berichterstattung auftauchte. Der Statuensturz von Bristol konkretisierte einen vor Ort bereits seit Längerem bestehenden Konflikt und fügte sich im Kontext der aktuellen #BlackLivesMatter-Proteste in eine Reihe vergleichbarer Akte in den USA, Neuseeland und Belgien ein. Auch in Deutschland ist aus einem Anliegen, das von der weißen Mehrheitsgesellschaft bislang ignoriert oder freundlich abmoderiert werden konnte, zumindest ansatzweise eine breitere Diskussion über den kritischen Umgang mit Kolonialdenkmälern geworden.

Eine wiederkehrende Frage in dieser Diskussion ist, welchen Sinn und Zweck solche symbolischen Akte überhaupt haben. ‚Symbolisch‘ wird dabei häufig abwertend gemeint, als Gegensatz zu ‚echten‘ politischen Maßnahmen, die bestehende Machtverhältnisse verändern anstatt ‚nur an der Oberfläche‘ zu kratzen. So schrieb beispielsweise Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung, die verschiedenen Denkmalstürze hätten das „Potenzial, mehr zu sein als ein reines Symbol – allerdings nur, wenn dem öffentlichen Akt auch wirkliche strukturelle Reformen folgen, die Rassismus als Problem ernst nehmen.“ Patrick Bahners unterschied auf Twitter, anders als „Denkmalstürze im Zuge einer Revolution“ seien „nachgeholte Denkmalstürze […]  bloß symbolisch revolutionäre Akte“. Und Jürgen Kaube meinte in der FAZ, es wirke “akademisch, wenn ernsthaft geglaubt wird, mit der Enthauptung von Kolumbus sei nun endlich mal ein Zeichen gesetzt. […] Man müsste […] Kulturwissenschaftler sein, um solche Taten für politisch zu halten.” Nun ja, so kompliziert ist es auch nicht.

Einerseits sind solche Bewertungen natürlich richtig: Ein verschwundenes Denkmal macht (noch) keine Revolution, beseitigt kein racial profiling, zahlt keine Reparationen. Andererseits blendet die Rede vom symbolischen Akt leicht den Kontext der Sozialen Bewegung samt umfassender Forderungen aus und verkennt die unmittelbare Wirkung, die Aktionen wie der Statuensturz von Bristol haben. Sie sind mehr als ‚nur symbolisch‘, weil sie die politische Vorstellungskraft erweitern und Diskussionen in Gang bringen, die andernfalls nur schleppend verlaufen oder gar nicht erst entstanden wären. Diese Wirkung wird verstärkt durch die Infrastruktur der Sozialen Netzwerke und die mit ihnen verbundene Möglichkeit Einzelner, an entfernten Protesten teilzuhaben, sie zu verbreiten und miteinander zu verknüpfen.

Wie wahrscheinlich viele nehme ich den Statuensturz von Bristol zuerst an einem Sonntagabend auf Twitter wahr. Ich sehe ein kurzes Video aus drei aneinander geschnittenen Sequenzen, die die Colston-Statue im Fallen, im Gerolltwerden und schließlich beim Aufschlagen auf das Wasser zeigen. Der User @joshbegley hat den Clip lakonisch überschrieben mit: „bristol in three acts“. Die Drei-Akt-Struktur verweist nicht zufällig auf das Theater: Es handelt sich um die zurechtgeschnittene Aufnahme einer kulturellen Aufführung, die sich über ihr Publikum vor Ort hinaus an eine transnationale Öffentlichkeit in den Sozialen Netzwerken richtet. Das Geschehen wird re-inszeniert und zu einer plattformgerechten Dramaturgie verdichtet, um Reaktionen wie Kommentare, Retweets und Favs hervorzurufen. Das funktioniert: Ich gucke mir das Video mehrfach an, retweete es und schaue es noch in den Folgetagen immer wieder. Ich will dabei sein, mitrollen, mitjubeln.

Gleichzeitig verstehe ich erst nach und nach, worum es in dem Video eigentlich geht. Die Bilder allein geben mir wenig Informationen darüber, was sie zeigen. Ihre Bedeutung erschließt sich erst im Kontext weiterer Videos und ergänzender Paratexte. Unter dem Hashtag #Bristol finden sich Smartphone-Aufnahmen von Aktivist*innen und Schaulustigen, journalistisches Bildmaterial und diverse euphorische bis wütende Bezugnahmen. Ich sehe den Statuensturz aus verschiedenen Perspektiven, sehe Demonstrierende auf dem gefallenen Edward Colston tanzen, sehe andere Hashtags, mit denen das Ereignis eingeordnet und verknüpft wird: #ColstonHasFallen, #Slavery, #GeorgeFloyd, #BlackLivesMatter.

Die Fülle der Bilder und die Art ihrer Verbreitung hat viel mit der veränderten Struktur von Protestbewegungen im digitalen Zeitalter zu tun. Die Politikwissenschaftler*innen W. Lance Bennett und Alexandra Segerberg haben bereits 2013 beschrieben, wie sich die Organisation und das Auftreten Sozialer Bewegungen durch die digitale Vernetzung wandeln. Der klassischen kollektiven Aktionslogik – d.h. hierarchisch und straff organisiert, mit verbindlichen gemeinsamen Zielen und Symbolen – stellen Bennett/Segerberg den Begriff des konnektiven Handelns („Connective Action“) zur Seite. Dieser umfasst verschiedene Formen der personalisierten Teilnahme an Protesten, die sich dadurch herausbilden, dass Einzelakteur*innen zwar in einem gemeinsamen Rahmen (z.B. #BlackLivesMatter, #OccupyWallStreet oder #metoo) lose miteinander vernetzt sind, sie sich diesen aber aneignen können und so mit individuellen Deutungen, Inszenierungen, Auftritten das Erscheinungsbild und Handlungsrepertoire einer Bewegung pluralisieren.[1] Paradigmatisch für diese Organisationsform, zwischen virtueller Gemeinschaft und Entgrenzung (bis hin zum Kontrollverlust), steht der Hashtag – als digitales Tool wie als Symbol der Vernetzung, das auch darum ein elementarer Bestandteil vieler Bewegungsnamen geworden ist.

Hashtag-Proteste bringen temporäre Teil- und Gegenöffentlichkeiten hervor und schaffen so ein kreatives, partizipatorisches Umfeld, in dem zirkulierende Bilder ständig bearbeitet und mit neuen Bedeutungen und Kontexten versehen werden können. Für den Statuensturz von Bristol und vergleichbare Ereignisse heißt das, dass es sich nicht nur um ikonoklastische Zerstörungsakte handelt, sondern um schöpferische Prozesse, die neue, wirkmächtige Bilder hervorbringen: Die Bilder des fallenden Edward Colston dürften für viele die ersten dieser Statue gewesen sein. Sie stehen neben Bildern einer geköpften und einer vom Sockel gerissenen Kolumbus-Statue, neben einem mit Staatsgewalt und Kran entthronten König Leopold II., neben Schwarzen Tänzer*innen auf dem besprühten Reiterstandbild des Konföderierten-Generals Robert E. Lee. Sie verwandeln sich in ein Twitter-Meme, in einen popkulturellen Joke auf TikTok, in von Enya besungene Zeitgeschichte, eine Grafik auf Banksys Instagram-Profil. Sie ziehen andere, absurde Bilder nach sich, wie den verpackten Winston Churchill und eine Gruppe von Sympathisanten beim Versuch, die Colston-Statue aus dem Hafenwasser zu bergen.

Die Medienwissenschaftlerin Kathrin Fahlenbrach bezeichnet Bilder wie den Statuensturz von Bristol darum als Netz-Ikonen: Bilder mit hoher Symbolkraft und emotionaler Wirkmächtigkeit, die in vielfältigen Praktiken des Teilens und Bearbeitens immer wieder re-inszeniert und mit neuen Bedeutungen versehen werden, die in konnektiven Aushandlungsprozessen kanonisiert werden und das Potential besitzen, in ein kollektives Bildgedächtnis auch jenseits der Sozialen Netzwerke überzugehen.[2] Netz-Ikonen (als Phänomene konnektiven Protesthandelns) sind damit eng verknüpft mit einer Praxis, die der Erinnerungsforscher Andrew Hoskins als konnektive Erinnerung bezeichnet. Diese zeichnet sich, im Gegensatz zur offiziellen, auf Einheitlichkeit bedachten, monumentalisierenden Erinnerung an ein Ereignis, durch Multi-Perspektivität, potentielle Widersprüchlichkeit und Veränderbarkeit aus. Konnektives Erinnern bedeutet also, dass die Frage, was auf welche Weise von einem Ereignis in Erinnerung bleibt, nicht endgültig und einheitlich – zum Beispiel in Form eines offiziellen Berichts oder eines Denkmals – beantwortet werden kann, sondern in Interaktionen zwischen Erinnernden immer wieder neu verhandelt wird.[3]

Konnektives Erinnern hat wiederum viel mit der Frage zu tun, was die aktuell kursierenden Bilder der Statuenstürze und #BlackLivesMatter-Proteste für den Umgang mit dem deutschen Kolonialerbe bedeuten. Denn die Bilder aus Bristol, Minneapolis, Boston und Antwerpen haben einen kommunikativen Raum aufgesprengt, in dem deutsche Kolonialdenkmäler und „Erinnerungsorte“[4] nicht nur in Frage gestellt, sondern teilweise überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Es werden Twitter-Threads mit abrisswürdigen Denkmälern erstellt, Listen von Bismarck-Statuen geteilt, und die Aufmerksamkeit auf antisemitische Kirchenreliefe und das Berliner Humboldt-Forum erweitert. Teilweise gibt es Bewegungen gegen kolonialrassistische Erinnerungsorte und Straßennamen – wie die Berliner M*-Straße – schon seit vielen Jahren. Aber derzeit werden sie in einem postkolonialen Gesamtzusammenhang mit erhöhter Aufmerksamkeit bedacht.

Die deutschen Kolonialdenkmäler – das kann in diesem Zusammenhang nochmal betont werden – waren nie nur Aufbewahrungsorte für Erinnerungen, sondern von ihren Anfängen in der revisionistischen Bewegung über die Instrumentalisierung im NS-Staat bis hin zu ersten Statuenstürzen im Zuge der 68er-Bewegung, Orte der aktiven Auseinandersetzung und Geschichtsdeutung.[5] Der Umgang mit diesen Denkmälern war und ist immer eine Form des praktischen, zeitgebundenen Erinnerns gewesen. Jetzt, wo die Puzzleteile des deutschen Kolonialerbes ihrer Verstreutheit in Kleinstädten, Wäldern und Museumsarchiven entrissen und digital zusammengeführt werden, fällt auf, wie omnipräsent und gleichzeitig unbewusst, wie unzeitgemäß und gewaltvoll eine offizielle Geschichtsschreibung ist, die den deutschen Kolonialismus seit Jahrzehnten aus Sicht heroisierter Täter*innen erzählt.

Vielleicht erklärt sich aus dieser historischen Perspektive auch der teilweise überdrehte (wenn auch erwartbare) Ton der aktuellen Diskussion. So twitterte die WELT-Autorin Birgit Kelle: „Wenn es in dem Tempo weiter geht, sind bis Montag auch Mutter Teresa, Bono und Jesus dran. Ich bin sicher, es finden sich Gründe. Da draußen ist ein Mob unterwegs, es wird Zeit, endlich Ordnung herzustellen, statt in die Knie zu gehen.“ Das ist natürlich selbst für WELT-Verhältnisse – der ein im Deutschlandfunk gefallener Verweis auf den Rassismus Immanuel Kants zu einem anhaltenden Wutausbruch reichte – blanker Unsinn (wenn es in diesem Tempo weitergeht, steht bald ein Zaun ums Axel-Springer-Haus). Es erzählt aber viel über die sehr realen Ängste, die die ikonischen Bilder der Statuenstürze im reaktionären Bürger*innentum wecken. Während sich die PoschardtKelleHeisterhagens der Nation nicht entscheiden können, ob sie es nun mit hypersensiblen ‚Schneeflöckchen‘ oder gemeingefährlichen Kulturrevolutionär*innen zu tun haben, hat sich über die Sozialen Netzwerke hinaus ein zaghaftes Bewusstsein dafür entwickelt, dass auch in Stein und Metall gegossene Erinnerung nicht absolut sein muss. Und während die eingeübten Reaktions- und Empörungsmuster („Cancel Culture!!!1!1!!“) in dieser Situation noch weniger greifen als sonst, könnte tatsächlich erstmals eine breitere Diskussion darüber entstehen, welchen Umgang dieses Land mit seinem kolonialen Erbe zu entwickeln bereit ist.

Gleichzeitig sollten die Erwartungen an diese Diskussion nicht allzu hoch sein. Denn sie werden bereits jetzt eingesetzt, um spürbare Konsequenzen ins Ungefähre zu verschieben. So ließ sich etwa Kulturstaatsministerin Monika Grütters mit der Aussage zitieren, einem „Bildersturm“ müsse eine gesellschaftliche Debatte vorangehen. Mit „rabiaten Spontanaktionen“ würde der Eindruck erweckt, eine inhaltliche Auseinandersetzung verhindern zu wollen. Von der irreführenden Reminiszenz an die Entfernung von Heiligenstatuen und Kirchenschmuck, von der dadurch evozierten Vorstellung fanatischer Mobs und puritanischer Schreckensherrschaft einmal abgesehen: Wie ohne entsprechende Denkanstöße eine breite, produktive und differenzierte Debatte zustande kommen soll in einem Land, das erstmal klären muss, ob es strukturellen Rassismus überhaupt gibt, das konnte bislang niemand überzeugend darlegen. Der jüngste Wiederaufbau der eigenen Vergangenheit als preußisches Disneyland mit einem vergoldeten Kreuz macht dahingehend ebenso wenig Hoffnung wie die geplante Untertunnelung des Mahnmals zur Erinnerung an die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sinti*zze. Tatsächlich wird eine Diskussion über das deutsche Kolonialerbe ja von Organisationen Schwarzer Deutscher seit Jahren gefordert. Erst durch die #BlackLivesMatter-Proteste in den USA und den Statuensturz von Bristol scheint sie aber in Gang gekommen zu sein.

Proteste wirken also. Die entscheidende Frage ist aber – im Kontext der aktuellen Proteste genau wie überhaupt im Umgang mit Protestbildern in der digitalen Öffentlichkeit: Welchen Anliegen schenken wir Aufmerksamkeit? Welche nehmen wir ernst, welchen gestehen wir das Recht zu, als politisch verstanden zu werden, welche beziehen wir auf uns? Wie und woran oder mit wem wollen wir uns erinnern?

Die Sozialen Netzwerke bieten ein mediales Umfeld für die aktive Auseinandersetzung mit marginalisierten Perspektiven und Deutungsweisen, für das Lernen über die postkoloniale Gegenwart. Sie bieten auch ein mediales Umfeld, in dem neue, netzikonische Bilder entstehen und neue Erinnerungspraktiken eingeübt werden können. Und sie schaffen so Denk- und Kommunikationsräume, plötzliche Dynamiken, die das radikal und dabei lang überfällige Neue möglich erscheinen lassen. Aber die Frage, die bei Hashtag-Protesten immer mitschwingt, ist, ob und wann sich diese kommunikativen Dynamiken auch in konkreteren Aktionen niederschlagen. Dabei sind die Ideen, die zur Umgestaltung deutscher Kolonialdenkmäler derzeit im Umlauf sind, den Bildpraktiken der Sozialen Netzwerke gar nicht unähnlich.

Der Historiker Jürgen Zimmerer schlägt zum Beispiel vor, Kolonialdenkmäler nicht einfach abzureißen, sondern so umzugestalten, dass sie radikal mit Sehgewohnheiten brechen: „Man könnte den Colston, man könnte einen Wissmann, man könnte sie alle ja zum Beispiel liegend hinstellen, man könnte sie auf den Kopf stellen, man könnte sie einfach in ein Ensemble einbetten, das eigentlich die kolonialen Verbrechen und den kolonialen Rassismus thematisiert und damit im Grunde auf diese Geschichte verweist, auf die unser Wohlstand in Europa ja zu nicht geringem Teil eigentlich beruht.“ Auch die Initiative Berlin Postkolonial fordert eine Umgestaltung kolonialer Denkmäler, die über einen Komplettabriss oder eine bloße Tafel hinausgeht. Auf Twitter kursieren Beispiele dafür, wie ein solcher Umgang aussehen kann.

Wann also überträgt sich die in den Sozialen Netzwerken entfachte Fantasie auf die Straße? Wann entstehen auch hierzulande Bilder, die zu Netz-Ikonen zu werden? Wann stehen #MStraße, #Bismarck, #BadLauterberg in den Trends? In Deutschland wird der Vorschlaghammer bislang ‚nur‘ rhetorisch geschwungen. Kürzlich flogen aufs Hamburger Bismarck-Denkmal immerhin ein paar Farbbeutel. In Berlin-Zehlendorf wurde eine rassistische Statue enthauptet. Bekennen wollte sich zu den Taten bisher niemand. Aber mal sehen, was noch passiert. Der Staatsschutz ermittelt.

[1] Bennett, W. Lance, Segerberg, A. (2013): The Logic of Connective Action. Digital Media and the Personalization of Contentious Politics. New York: Cambridge University Press.

[2] Vgl. Fahlenbrach, K. (2019): Fotografie als Protestmedium. Expressive Foto-Praktiken im Online-Aktivismus. Fotogeschichte 154, 35-40.

[3] Vgl. Hoskins, A. (2011): 7/7 and connective memory: Interactional trajectories of remembering in

post-scarcity culture. Memory Studies, 4(3), 269-280.

[4] Zimmerer, J. (Hrsg.) (2013): Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

[5] Speitkamp, W. (2013): Kolonialdenkmäler. In: Zimmerer (Hrsg.), Kein Platz an der Sonne, 409-423.

Handlungsfähigkeit – Gewalt und Schuld in Videospielen

von Maximilian John

 

Videospiele sind ein interaktives Medium – Spieler*innen handeln, auch wenn diesen Handlungen natürlich durch die  Regeln des Spiels Grenzen gesetzt sind. In Call of Duty etwa können Spieler*innen nicht desertieren, im Rennspiel Forza Horizon lässt sich nicht das Fahrzeug verlassen, um ein anderes zu stehlen. Diese Grenzen sind in verschiedenen Spielen unterschiedlich eng. Trotzdem sind auch in engeren Spielräumen die Spieler*innen immer noch aktiv. In Call of Duty mag zwar der generelle Ablauf fest vorgegeben sein, aber selbst dort müssen Spieler*innen zielen und schießen und können dafür ihre Waffe selbst auswählen. Es sind immer noch die Spieler*innen, die aktiv zielen und den Abzug betätigen. Es sind immer noch Spieler*innen, die den Tod der anderen Pixelfigur auslösen. Und das Spiel reagiert darauf.

Spiele lösen, im Gegensatz zu passiv konsumierten Medien, wie etwa Filmen oder Büchern, Gefühle und Reaktionen aus, die nur entstehen können, weil Spieler*innen in einer aktiven Position sind. Ein Beispiel  wäre das Erfolgsgefühl, das sich einstellt, wenn ein Hindernis erfolgreich überwunden oder ein Ziel erfüllt worden ist. Dieses Erfolgsgefühl steht sehr häufig in einem Zusammenhang mit vorhergehender Frustration. Emotionale Reaktionen auf Medien sind allerdings individuell. Das Überwinden eines frustrierenden Spielabschnitts kann auch zu Erleichterung führen.

Das gilt auch für eine andere Seite der Gefühle. Ich spreche hier vom Gefühl schuldig zu sein. Schuld erfordert eine Interaktion. Die empfindende Person muss für eine Situation der Auslöser sein, damit sie sich schuldig fühlen kann – sie muss in einem kausalen Sinne verantwortlich sein. Filme und Literatur können dieses Gefühl nur indirekt vermitteln – etwa in Dostojewskis Verbrechen und Strafe, das den langsamen Verfall Raskolnikows nach seinem Mord an der Pfandleiherin erzählt, der an seiner Schuld zu Grunde geht. Indirekt ist diese Darstellung insofern, als wir nicht direkt fühlen können, allenfalls nachfühlen – und in der Fähigkeit des Nachfühlens überschätzen sich Menschen gerne maßlos. 

Im Gegensatz dazu steht das Videospiel, in dem wir die Handlungen direkter erfahren können. Dieses Fühlen ist, wie bereits erwähnt, subjektiv. In diesem Fall heißt das, dass einige Menschen Schuld in Situationen empfinden, die für andere Menschen nicht einmal eine Erwähnung wert sind. Ein überfahrener Passant in Grand Theft Auto (kurz GTA) ist für viele Spieler*innen kaum ein Kollateralschaden, allenfalls eine Störung, wenn durch den überfahrenen Passant die Polizei auf die Spielfigur aufmerksam wird. Die Abstraktionsebene ist stark, denn ein Passant wird hier nicht als Passant angesehen, nicht mal unbedingt als eine virtuelle Repräsentation, sondern als ein Spielelement, ein Schalter mit Zusatzfunktion, der in manchen Fällen ein anderes Spielelement aktiviert oder eben nicht, und ansonsten nur als Kulisse dient, um die Spielwelt lebendiger erscheinen zu lassen. Diese Abstraktion setzt allerdings eine gewisse Abhärtung voraus – eine deutliche Distanzierung der gezeigten Gewalt von echter Gewalt. Und auch wenn in Diskussionen um sogenannten “Killerspiele” gerne auf eine Selbstverständlichkeit verwiesen wird, so beruht diese Abhärtung doch auch auf einer Form der Gewöhnung.

Ohne diese Gewöhnung können Menschen sich dafür schuldig fühlen, einen unschuldigen Menschen überfahren zu haben. Das Spiel ist immersiv genug, um Gefühle auszulösen, die eigentlich, aus einer rein spielerischen Sicht, nicht angebracht sind: Denn heruntergebrochen ist der überfahrene Passant weiterhin nur eine Figur aus Polygonen, die jederzeit neu hervorgerufen werden kann.Doch was heißt das? In Spielen, in denen Gewalt eine wichtige Rolle einnimmt, können Schuldgefühle immer eine Rolle spielen und es ist vom subjektiven Empfinden der Spieler*innen abhängig, ob und in welchem Umfang diese Gefühle ausgelöst werden. Allerdings gibt es neben den Spielen, die ihre Schuldgefühle eher unabsichtlich auslösen, auch solche, die in ihrer Handlung und im Gameplay augenscheinlich darauf angelegt sind.

Eines dieser Spiele ist Spec Ops: The Line, entwickelt von Yager, einem Entwicklerstudio aus Berlin. Es handelt sich nominell um den zehnten Teil der Spec-Ops-Serie, einer Reihe von Low-Budget-Taktik-Shootern, die zwischen 1998 und 2002 hauptsächlich für die erste PlayStation veröffentlicht wurden. Spec Ops: The Line steht aber, abgesehen vom Titel und der dazugehörigen Marke, nicht mit diesen Titeln in Verbindung.

Auf den ersten Blick, und auch in den ersten Spielminuten, scheint Spec Ops: The Line ein generischer Deckungsshooter in einem modernen Kriegsszenario zu sein. Damit verbindet es augenscheinlich zwei Elemente, die sehr prägend für die der Xbox 360 und PlayStation 3 waren. Das moderne Kriegsszenario wurde durch Call of Duty 4: Modern Warfare popularisiert und hat in den späten 0er Jahren den zweiten Weltkrieg als das Hauptszenario für Spiele mit Schusswaffengewalt abgelöst. Dabei war Modern Warfare nicht das erste in der Jetzt-Zeit angesiedelte Ego-Shooter. Der häufig in der “Killerspiel”-Debatte herangezogene Ego-Shooter Counter-Strike hatte fast eine Dekade zuvor bereits die moderne Kriegsführung als Szenario. Allerdings sorgte Call of Duty durch einen durchschlagenden Erfolg auf dem Massenmarkt für eine Welle an Spielen, die dieses Szenario übernahmen. Traditionsserien wie etwa Medal of Honor, das vorher ebenfalls im zweiten Weltkrieg angesiedelt war, wendeten sich nun auch der modernen Kriegsführung zu – mit unterschiedlichem Erfolg. Bereits wenige Jahr nach Modern Warfares Veröffentlichung war das Jetzt-Zeit-Szenario fast schon ein Klischee und, wie schon vorher beim zweiten Weltkrieg, wünschten sich viele Spieler*innen andere Szenarien. 

Im Gegensatz zu Modern Warfare war Spec Ops allerdings kein Ego-Shooter, sondern ein Third-Person-Shooter mit Deckungssystem. Ein Third-Person-Spiel zeichnet sich dadurch aus, dass die Kamera der Spielfigur folgt, statt deren Sichtfeld zu entsprechen. Bekannte Reihen wie Assassin’s Creed und Fortnite nutzen ebenfalls diese Kameraperspektive. Genau wie das moderne Kriegsszenario war auch das Deckungssystem einer der Aspekte, die die 7. Konsolengeneration besonders prägte. Statt wie in früheren Third-Person-Shooter in Deckung zu gehen, in dem die Spielfigur das Sichtfeld zu den Gegner*innen unterbrach, wurde in Gears of War ein System etabliert, bei dem die Spielfigur auf Tastendruck sich an die Deckung lehnt und an dieser “klebt”. Dieses System wurde schnell zu einem neuen Standard für Third-Person-Shooter und viele mittelmäßige bis schlechte Spiele mit dieser Funktion fluteten den Markt.

Spec Ops: The Line nutzt, wie bereits erwähnt, beides und wirkt auf dem ersten Blick wie ein weiterer Titel in einer langen Liste an generischen, uninteressanten und uninspirierten Spielen, die einfach nur den zu diesem Zeitpunkt aktuellen Trends hinterher rannten. Die 2012 veröffentlichte Demo, die aus zwei der frühen Abschnitte bestand, unterstrich diesen Eindruck: Eher belanglose Schusswechsel mit wenigen Umgebungsinteraktionen (so ließen sich etwa Glasscheiben einschießen, um Gegner*innen in Sand zu begraben) gepaart mit flapsigem Militärpathos. Nichts stach heraus, außer vielleicht dem Setting: Einem durch Sandstürme komplett von Sand überzogenen Dubai, in dem ein Squad aus drei Personen (Martin Walker, Alphonso Adams und John Lugo) versucht eine verschollene Militäreinheit unter der Führung von Colonel John Konrad zu retten.

Dieser Eindruck täuscht. Auch wenn es die erste Spielstunde nicht erahnen lassen: Spec Ops gilt bis heute als eines der wenigen expliziten Antikriegsspiele. Das Spiel basiert lose auf Joseph Conrads Roman Heart of Darkness und versucht im Gegensatz zu den Abenteuerkriegsspielplätzen eines Call of Duty explizit Krieg als etwas Grauenvolles darzustellen. Etwas Grauenvolles, an dem Spieler*innen als Spieler*innen dieses Spiel partizipieren. Aber Spec Ops: The Line ist auch ein Spiel, das trotz kaum zu leugnender Qualität letztendlich an seinen erzählerischen Ambitionen scheitert und damit verbunden ein Beispiel dafür, dass Schuldgefühle zu provozieren nicht leicht ist.

Am besten zeigt sich das an einer Szene in der Mitte des Spiels, für die es letztlich vor allem bekannt wurde: Das Trio setzt weißes Phosphor ein, um eine Armee, die sie glauben nicht anders überwinden zu können, zu besiegen. Per Computerbildschirm ordnet Walker die Drohnenschläge an, die von Lugo und Adams ausgeführt werden. Beim Bild handelt es sich um ein Wärmebild – es ist distanziert von der Realität und wird nur durch das Gesicht Walkers, das sich leicht auf dem Bildschirm spiegelt, ästhetisch in der Spielrealität von Spec Ops gehalten. 

Nach der “erfolgreichen” Ausführung müssen die Protagonisten das andere Ende des Schlachtfelds erreichen und dafür direkt durch das Gebiet, auf die das weiße Phosphor abgeworfen wurde. Die Grausamkeit ihrer Tat wird sehr ausführlich gezeigt: Langsamer als sonst bewegt sich die Spielfigur durch den grünlichen Rauch und sieht verstümmelte Leichen, aber auch noch lebende Soldaten, denen Gliedmaßen fehlen – untermalt von einer E-Gitarre und dem gequälten Schreien der Sterbenden. 

Die Szene endet mit einer Zwischensequenz, in der klar wird, dass neben der gegnerischen Armee auch Zivilisten befanden. Bis zu diesem Zeitpunkt gingen die Protagonisten davon aus, dass sie die Zivilist*innen vor der Armee schützen müssten. Es offenbart sich, dass dies nicht so war. Die Armee wollte die Zivilisten schützen. In einer ekelerregenden Szene wird gezeigt, dass diese Zivilisten auch Opfer des weißen Phosphor wurden. Die Folgen der Gewalt werden noch expliziter gezeigt, als es bei den Soldaten der Fall war. 

Die Situation ist abstoßend und für die Zeit auch in seiner Darstellung ungewöhnlich für ein Videospiel. Aber: Sie zeigt auch die Schwäche der Narration. Damit ist nicht gemeint, dass sie Selbstzweck wäre. Die Gewalt dient der Geschichte, die letztlich zumindest versucht einen Antigewaltstandpunkt einzunehmen. Allerdings ist die Zwischensequenz, so beklemmend sie auch ist, ein Film, also nicht Teil des aktiven Gameplays. Sie findet in einem anderen Medium statt und ist nicht interaktiv. 

Die Interaktivität ist im ganzen Ablauf sehr beschränkt. Ein Problem dieser Szene wird durch einen Dialog direkt vor Einsatz des weißen Phosphors veranschaulicht. Als Walker beschließt, das weiße Phosphor zu nutzen, protestiert Lugo dagegen und folgender Dialog entspinnt sich.

Lugo: “You’ve seen what the shit does.”

Adams: “We have no choice.”

Lugo: “There is always a choice.” 

Adams: “No there is really not.” 

And there is really not. Auch wenn es während der Entwicklung des Spiels ursprünglich geplant war – es gibt keine andere Möglichkeit in der Handlung fortzufahren, als das weiße Phosphor zu nutzen und die Gruppe der Zivilisten zu töten. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, ist das Spiel abzubrechen. Die Narration erlaubt keinen Umweg, keine Entscheidung. Spieler*innen können dem Skript folgen oder das Spiel beenden. Spieler*innen werden also in gewisser Weise zu Schauspieler*innen. Ihr Handlungsspielraum lässt nur offen, wo genau das weiße Phosphor einschlägt. 

Ein weiteres Problem ist die ludonarrative Dissonanz des Spiels, die nirgendwo in der Handlung so stark zur Geltung kommt wie hier. Ludonarrative Dissonanz meint einen Bruch zwischen der Geschichte und dem Gameplay. Als Storybegründung für den Einsatz wird die große Armee herangezogen, die anders nicht zu besiegen ist. Das beißt sich allerdings mit dem bisherigen Spielinhalt, in dem die Protagonisten schon unzählige gegnerische Soldaten erschossen haben. Warum sollte ausgerechnet hier nicht mehr möglich sein, die Gegner mit dem Einsatz von Pistolen und Sturmgewehren zu überwinden? Warum muss es gerade hier weißer Phosphor sein? Zwischen der Story “Wir haben keine andere Wahl als weißes Phosphor” und dem Gameplay “Ich habe mich bereits durch ein Armee geschossen” klafft ein Spalt, der die Wirkung der Szene mildert.

Schuld, ist wie bereits mehrfach betont, subjektiv und entsprechend wird es fast garantiert Spieler*innen geben, die sich durch diesen Abschnitt schuldig gefühlt haben. Aber kann Schuld hier provoziert sein, wenn letztendlich nicht die Spieler*innen verantwortlich für den Verlauf sind, sondern die Autor*innen und letztendlich aus einer spielerischen Sicht dieser Storybeat nicht komplett nachvollziehbar ist? Die Szene funktioniert eher wie ein Film. Die Interaktionsmöglichkeit ist beschränkt und würde kaum verlieren, wenn sie gar nicht gegeben wäre. Dies wird auch durch das Ende der Szene deutlich. Sie endet in einer Zwischensequenz, in der die Protagonisten sich ihrer eigenen Schuld bewusst werden. Aber es sind eben nur sie, nicht die Spieler*innen, die Schuld tragen. 

Im Beispiel Spec Ops zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen zwei Formen von Autor*innenschaft. Auf der einen Seite die Autor*innen des Spiels, die den Rahmen vorgeben müssen, auf der anderen Seite die gefühlte Autor*innenschaft der Spieler*innen. Für Schuldgefühle müssen Spieler*innen sich selbst als Autor*innen im Sinne einer Handlungsentscheidung fühlen, selbst wenn diese Autor*innenschaft nur auf die Auswahl einer durch die wirklichen Autor*innen vorgegeben Pfade beschränkt ist. Dies funktioniert am besten, wenn nicht direkt offensichtlich ist, dass es sich um vorgegebene Pfade handelt. 

Auch hierfür bietet Spec Ops ein Beispiel, dass ein Scheitern dieses Versuchs aufzeigt. Kurz vor Ende der Handlungen finden sich zwei der Protagonisten in einer aufgebrachten Menschenmenge wieder, die den dritten Protagonisten erhängt hat. Sie schmeißen mit Steinen nach ihnen, die jeweils Lebenspunkte abziehen. Spieler*innen müssen also agieren, wenn sie nicht sterben wollen. Es gibt zwei Möglichkeiten mit dieser Situation umzugehen. Entweder die Protagonisten eröffnen das Feuer auf die Menge, oder aber sie schießen in die Luft. Beide Handlungen sorgen dafür, dass die Menge sich auflöst. Beide Handlungen haben keine andere Konsequenzen. 

Auch diese Situation erfüllt den Zweck allerdings nur bedingt. Zum einen war Erschießen bis zu diesem Zeitpunkt die einzige wirkliche Spieloption. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass ein in die Luft schießen ausreicht um die Situation zu lösen. Wieso sollten sich Spieler*innen schuldig fühlen, wenn sie weiterhin glauben müssen, nur dem Skript zu folgen? Zum anderen erscheint die Entscheidung viel zu spät im Spiel. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine drei-, wenn nicht sogar vierstellige Anzahl an Toten im Spiel. Warum sollte ausgerechnet jetzt, in einer aggressiven Masse, Spieler*innen Schuld empfinden, wenn sie virtuell Menschen töten?

Es muss also, selbst wenn die Entscheidung nicht als Entscheidung ins Gesicht springt, doch deutlich werden, dass es Entscheidungen geben kann, verschiedene Lösungswege, die verschiedene Folgen haben. Das betrifft allerdings die Grundstruktur des Spiels. Einzelne Szenen reichen hier nicht aus. Wenn ein Spiel nicht dafür sorgt, dass die Spieler*innen sich als Mitautor*innen fühlen, ist der Effekt gering, wenn es dann doch einmal eine gefühlte Autor*innenschaft zulässt.

 

 

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Der amerikanische Deutsche – Zum Geburtstag von Carl Weissner

von Simon Sahner

 

Der deutsche Undergroundautor, Übersetzer und Literaturagent Carl Weissner (1940–2012) war kein guter Schriftsteller. Das liegt nicht zuletzt an seinem Anspruch an das eigene literarische Schreiben: „Eigentlich will ich einen permanenten Overload erzeugen, so dass man dauernd angespannt ist und denkt, jeden Augenblick fliegt die Sicherung raus.“ Man merkt Carl Weissners literarischen Texten diese Haltung an. Insbesondere die kurzen Erzählungen der 70er Jahre zeugen in erster Linie vom sprachlichen und inhaltlichen Übermut des Autors, dem alles andere aufgeopfert wird. Die Hauptsache ist, dass es knallt. Da wird „eine Bombe von einem Joint“ geschwenkt, jemand ist „schwul wie die Nacht“, ein anderer „kotzt ins Goldfischglas“ und das allein auf wenigen Seiten.

Hätte Weissner, der heute 80 Jahre alt geworden wäre, nur die wenigen experimentellen Arbeiten mit der Cut-up-Methode aus den späten 60ern (vor allem in Zeitschriften, die fast nur noch in Archiven zu finden sind), ein paar Short Stories in den 70ern und gegen Ende seines Lebens noch drei Bücher bei kleinen Verlagen veröffentlicht, er wäre vermutlich nicht mal eine Fußnote in der deutschen Literatur nach 1945 geblieben. Sein schmales Werk ist von einem literarischen Standpunkt her kaum beeindruckend, auch wenn er als Mitherausgeber im Vorwort der Zeitschrift Gasolin 23 (alle Ausgaben) das eigene Literaturverständnis zum non plus ultra erklärte. Es ist ein häufiges Missverständnis, dass diejenigen, die am lautesten verkünden, die Literatur revolutionieren und von den Fesseln der Konvention befreien zu wollen, auch tatsächlich gute Literat*innen sind. Nicht selten sind es schlicht der Furor, mit dem altes über Bord geworfen wird, die sprachliche und thematische Provokation und die demonstrative Erneuerung, die dafür sorgen, dass Rebell*innen im Literaturbetrieb und dem Feuilleton Aufmerksamkeit bekommen und auch noch Jahrzehnte später bekannte Namen sind. Das ist per se auch nicht verwerflich, der literarische (und literaturhistorische) Mehrwert eines Werkes bemisst sich nicht grundsätzlich an den Wertungsmaßstäben, die Kritiker*innen anlegen. Doch vermutlich hätte bei Carl Weissner nicht einmal der laute Widerstand gegen den Literaturbetrieb ausgereicht, um ihm Nachruhm zu sichern.

Dass er dennoch einen festen Platz in einem bestimmten Bereich des literarischen Feldes in den letzten fünfzig Jahren einnimmt, hat zwei Ursachen: Erstens hat er einen Teil des amerikanischen literarischen Undergrounds und der Beatliteratur als Herausgeber und Mitarbeiter mehrerer Zeitschriften in Deutschland und den USA (Klactoveedsesteen 1965–1967, San Francisco Earthquake 1967/68, UFO 1971/72 und Gasolin 23 1973–1978) publiziert und als erster in einer adäquaten Form übersetzt. Dabei brachte er unter anderem große Teile des Werks von William S. Burroughs ins Deutsche und machte quasi im Alleingang Charles Bukowski in Deutschland bekannt. Zweitens war Weissner vermutlich derjenige im deutschen Literaturbetrieb, dem die amerikanischen Größen der Beat- und Undergroundliteratur am meisten Respekt zollten und den sie am ehesten als einen von ihnen anerkannten. Deswegen umwehte sein Auftreten immer die Aura eines lässigen Amerikaners – ein Umstand, der ihm vermutlich selbst bewusst war und von ihm unterstützt und am Leben erhalten wurde. Weissner inszenierte sich in seinen Texten als Kenner der https://i1.wp.com/www.verlag-reiffer.de/wp-content/uploads/2020/02/9783945715673.jpg?resize=205%2C335&ssl=1amerikanischen Szene, als Insider und authentischer Berichterstatter. Unser Mann im amerikanischen Underground sozusagen. Jetzt ist anlässlich seines 80. Geburtstags der Band Aufzeichnungen über Außenseiter mit gesammelten Reportagen und Essays erschienen, die  genau das bezeugen wollen. Bereits der erste Satz im ersten Text der Anthologie, Buk Sings His Ass Off, mit dem Weissner Charles Bukowski dem deutschen Lesepublikum 1970 vorstellte, rückt nicht nur den amerikanischen Schriftsteller, sondern allen voran auch Weissner selbst ins Blickfeld:

Ich hatte mit Bukowski schon einige Jahre Kontakt, ich kannte ihn aus unzähligen Briefen, aus seinen Büchern, aus seinen Manuskripten die er mir für Klacto/23 schickte, und als ich ihn im Sommer 1968 zum ersten Mal in Los Angeles besuchte, hatte ich auch die „Bukowski-Legende“ kennengelernt.

Bevor Weissner überhaupt näher auf das eigentliche Thema seines Textes eingeht, erfahren die Leser*innen erst einmal, wie gut er Bukowski kennt; so gut nämlich, dass er Briefe und Manuskripte von ihm bekommt und ihn besucht hat. Auch in Weissners Vorwort zu Bukowskis Gedichtband Gedichte, die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang steht nicht nur der Dichter, sondern auch sein Übersetzer selbst im Zentrum des Interesses. Im Ton einer Kurzgeschichte erzählt Weissner darin von seiner ersten Begegnung mit Bukowski.

Weissners Essays und Reportagen sind ebenso wie seine kurzen Erzählungen, die oft eher wie faktuale Erlebnisberichte wirken, immer auch demonstrierte Augenzeugenschaft. In seinen Notizen aus anderthalb Jahren in den USA, die sich ebenfalls in der Anthologie finden, stößt man auf große Teile der amerikanischen Gegenkultur der 60er Jahre: Weissner besucht spontan Allen Ginsberg, der in der Nachbarschaft wohnt, schaut auf einer Lesung von Diane Di Prima im Greenwich Village vorbei und geht bei den Dichter*innen auf der Lower East Side von Manhattan ein und aus. In Last Exit to Mannheim aus der ersten Ausgabe von Gasolin 23 geht der Ich-Erzähler, der unverkennbar Weissner selbst ist, mit dem Beat-Verleger Lawrence Ferlinghetti auf eine Party, auf der unter anderem Janis Joplin und Linda Kasabian, ein Mitglied der Manson Family, anwesend sind und fährt dann noch mit Bukowski zu Ferlinghettis Haus, der neben der Band Canned Heat wohnt. In Die Eingeschlossenen von der Lower East Side lebt er mit dem Beat-Dichter Ray Bremser zusammen und in einem Interview mit einer amerikanischen Zeitschrift sagt Weissner über diese Zeit: „I was living in the neighborhood, on the Lower East Side, East 6th and Avenue C, and my roaches were the same as theirs.“[1]

Aus all dem spricht immer auch ein gewisser Stolz darüber, dass viele seiner amerikanischen Vorbilder für ihn zu guten Bekannten und Freund*innen wurden. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass Weissner das Stereotyp der amerikanischen Lockerheit mit dem der deutschen Gründlichkeit und Ordnung verband. In seinem Nachlass finden sich ordentlich geführte Notiz- und Adressbücher, unzählige offizielle Korrespondenzen mit deutschen Verlagen, in denen er Angelegenheiten seiner amerikanischen Freund*innen vertrat, detaillierte Übersetzungsmanuskripte mit Anmerkungen und Unterlagen aus fast fünfzig Jahren als Literaturagent, Übersetzer und Herausgeber. Wie sehr diese Akribie und Gründlichkeit auf der anderen Seite des Atlantik geschätzt wurde, davon zeugen etliche Briefe: Jack Kerouacs Tochter Jan bittet ihn um Hilfe, Ray Bremser gibt ihm uneingeschränktes Veröffentlichungsrecht, Allen Ginsberg besteht teilweise allein auf ihn als Übersetzer und Charles Bukowski bittet ihn um Hilfe bei der Steuererklärung und ist prinzipiell davon überzeugt, dass er ohne Weissner nicht überleben würde: „Without Carl I would be dead or near dead or mad or near mad, or driveling into a slop pail somewhere, mouthing gibberish.“[2]

Diese Aussage von Bukowski klingt vielleicht übertrieben, aber man darf nicht unterschätzen, wie viel Weissner für den amerikanischen Dichter nicht nur als enger Freund, sondern auch als Agent in beinahe ganz Europa und Südamerika und vor allem als Übersetzer ins Deutsche getan hat. Bei Weissners Übersetzungsarbeit für Bukowski etwa handelte es sich um ein annähernd symbiotisches Verhältnis zwischen den beiden. Während Weissner durch seine Übersetzungen einen deutschen Bukowski erfand und dem Amerikaner damit in Deutschland größeren Erfolg bescherte als in den USA, sorgte Bukowski mit seinem Werk dafür, dass sich Weissner einen Platz in der Literaturgeschichte sichern konnte. Entscheidend für die Popularität Bukowskis in Deutschland war nicht zuletzt der Umstand, dass Weissner alle Fäden in der Hand hielt und Bukowski ihm gleichzeitig auch freie Hand im Umgang mit seinen Texten ließ. Das führte dazu, dass Weissner eine deutsche Version des Werkes von Bukowski nach eigenen Vorstellungen schaffen konnte, die sich nicht immer ganz mit dem Original deckte, die aber in Deutschland einen außerordentlichen Erfolg hatte und immer noch hat.

Der Duktus der deutschen Übersetzungen durch Weissner erinnert gerade in den frühen Jahren manchmal an das sogenannte Schnodderdeutsch der Synchrondrehbücher von Actionkomödien mit dem Schauspieler-Duo Bud Spencer und Terence Hill, wobei Weissners Bukowski oft wie Terence Hill klingt: „Die Uhr funktionierte noch, der alte Wecker, Gott sei’s gescheppert,“ heißt es da in Weissners Übersetzung, während bei Bukowski lediglich steht „the clock was working, the old alarm clock, god bless it“. Ein anderes Mal fürchtet Bukowskis Erzähler „demands on the soul or anything like that“ von seiner Freundin; statt „Anforderungen an das Seelenleben“ hat er bei Weissner aber Angst vor „Fisimatenten von wegen Seele und so.“

Es sind diese Veränderungen im Tonfall einer fingierten Mündlichkeit, die aus einer lakonischen Erzählstimme einen schnoddrigen Jargon machen, der in den extremsten Fällen den Charakter des Originals eklatant verändert. Charles Bukowskis Erzählerfiguren sind oftmals lakonische, manchmal vulgäre Männer, die angesichts eines Lebens am Rande der Gesellschaft resignieren. Nach einem langen und harten Arbeitstag äußert einer von ihnen: „I got out of what remained of the suit and decided that I’d have to move again.“ Weissner macht aus dieser Resignation angesichts der Lebensumstände eine scheinbar sorglos übermütige Rastlosigkeit: „Ich pellte mich aus dem, was von der Klamotte noch übrig war, und beschloß, daß ich mal wieder die Tapete wechseln musste.“ Doch nicht nur der Tonfall der Erzählstimme verändert sich, sondern auch die Haltung. Nicht, dass Charles Bukowski als feministischer Autor bekannt wäre, eher im Gegenteil, aber aus „some beautiful woman“ auf Deutsch „ein elegantes Flittchen“ zu machen, verstärkt den Sexsimus noch einmal deutlich.

Angesichts dieser Beispiele kann man von einem deutschen Bukowski sprechen. Interessant ist aber, dass viele andere Übersetzungen durch Carl Weissner, beispielsweise von William S. Burroughs‘ Naked Lunch oder Allen Ginsbergs Howl tatsächlich sehr gute Übertragungen sind, die einen deutschen Soziolekt als Äquivalent für die amerikanische Szenesprache des Originals aufweisen und die Wirkung dieser Texte besser in einen anderen Sprach- und Kulturraum versetzen als es andere Übersetzer*innen geschafft haben.

Warum also bei Bukowski dieser überzogen lässige Jargon? Es bleibt Vermutung, aber vieles deutet darauf hin, dass Weissner Bukowski zu nahe war, um ihn ebenso professionell übersetzen zu können, wie er das bei Burroughs und Ginsberg tat. Auch diese beiden kannte Weissner gut, aber das Verhältnis zu Charles Bukowski überragte die unzähligen anderen Freundschaften, die Weissner in die USA pflegte. Die Korrespondenz zwischen den beiden umspannte beinahe drei Jahrzehnte und dutzende Briefe pro Jahr. Die Zuneigung und emotionale Nähe, die darin zum Ausdruck kommen, zeugen von einer engen Verbundenheit, die weit über das professionelle Verhältnis zwischen Übersetzer/Agent und Autor hinausgeht. In Das Ende des Suicide Kid, dem vielleicht besten und sicher persönlichsten Text in Aufzeichnungen über Außenseiter, beschreibt Weissner die Beerdigung Charles Bukowskis, auf der er 1994 selbst einer der Sargträger und Redner war. In diesem und anderen Texten über seinen Freund zeigt sich, wie sehr er Bukowski als Mensch und als Schriftsteller verehrte. Seine Übersetzungen können als Versuch angesehen werden, diesem übermächtigen Autor und Freund gerecht zu werden, einen Ton zu finden, der das transportieren sollte, was Weissner in Bukowski sah: Einen Mann,

der weiß, daß er auf der Kippe steht: jeder Satz kann sein letzter sein, aber der Ton bleibt cool, gelassen, konzentriert; beinahe ereignislose Stories, die mancher nicht für berichtenswert halten würde; entnervende Stories, die mancher andere lieber verdrängen würde […]: alltägliche Stories vom Leben in einer Stadt, die er einmal „die größte bewohnte Ruinenlandschaft der Welt“ genannt hat. 

Während sich dieser coole Ton bei Bukowskis aber in Lakonie und Reduktion ausdrückt, wird er bei Weissner zum schnoddrigen Plaudern. Die Lässigkeit, die daraus entsteht, ist eine andere, eine demonstrative Nonchalance, wie man sie eben in den synchronisierten Rollen eines Terence Hill findet. Der amerikanische Charles Bukowski wirkt im Original eher wie die Figuren von Bud Spencer: wortkarg, sarkastisch und manchmal lakonisch.

Vom ökonomischen Standpunkt eines Literaturagenten hat Carl Weissner dann jedoch alles richtig gemacht. Die Romane, Gedichte und Erzählbände Bukowskis haben sich in den Übersetzungen von Weissner mehrere Millionen Mal verkauft. Dass Carl Weissner heute zu seinem 80. Geburtstag, acht Jahre nach seinem Tod, Ehrungen, eine Anthologie, diesen und andere Texte erhält, hängt mit diesen Übersetzungen und den zahllosen anderen zusammen. Ambros Waibel schrieb in einem Nachruf für Weissner, es sei einfacher zu fragen, wen aus der “US-Avantgarde” er nicht übersetzt und herausgegeben habe – die Übersetzungen reichen von J. G. Ballard bis Frank Zappa. Aber auch seine Vorzeigefunktion als Deutscher unter Amerikanern ist ein Grund für die anhaltende Bekanntheit und zeigt beispielhaft, dass Nachruhm im literarischen Feld nicht immer etwas mit schriftstellerischem Können zu tun hat. Carl Weissner, das war der Amerikanistikstudent in Heidelberg, der von Burroughs in der Heidelberger Altstadt besucht wurde, der für Literaturzeitschriften in den USA arbeitete, der Bukowski Briefe schrieb und mit ihm in seiner Mannheimer Wohnung trank, Weissner war der, den Ginsberg als seinen Übersetzer wollte, der mit Janis Joplin feierte und mit Sean Penn den Sarg von Bukowski trug. Die Texte in der Anthologie Aufzeichnungen über Außenseiter zeigen daher vor allem eines: Es gibt viele Gründe, warum Carl Weissner bekannt und interessant ist, sein literarisches Werk ist nur einer davon, vermutlich der geringste.

 

Übersetzungen:

[1]„Ich lebte in der gleichen Gegend auf der Lower East Side, Ecke East 6. und Avenue C, und meine Kakerlaken waren dieselben wie ihre.“

[2] „Ohne Carl wäre ich tot oder wenigstens fast; oder verrückt oder jedenfalls beinahe verrückt; oder ich würde in irgendeinem Abwassereimer rumsabbern und unverständliches Zeug labern.“

 

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Videoentscheid – Alle Vorstellungsfilme beim Bachmannpreis 2020

von Martin Lechner

 

Ehrlich gesagt haben mich die Videoportraits beim Bachmannpreis schon immer mehr interessiert als die Lesungen. Vor allem, seit die Autorinnen und Autoren vor einigen Jahren angefangen haben, sich selbst zu filmen. Statt sich weiter dem Wettkampf zu stellen, wer das Fernsehformat der Vorstellungsfilmchen am unlädiertesten überlebt. Natürlich geht es auch bei den Selbstportraits nicht immer ohne Selbstsabotage zu. Zumal die Darstellung hier nicht in der eigenen Ausdrucksform erfolgt. Aber manchmal wirft so eine Performance auf ästhetischen Seitenpfaden ein interessantes Schlaglicht auf die Hauptkunst. Manchmal natürlich auch nicht. Aber wie dem auch sei. In jedem Fall ist es ein erhellendes Vergnügen, Nebensächlichkeiten wichtiger zu nehmen als die Hauptsache. Glotzen wir los!

Gleich die erste Autorin strapaziert unsere schnittgewohnten Flimmeraugen mit dem Minimalismus einer handlungsarmen Plansequenz. Ein Blick in einen Hinterhof. Lichtspiele auf einer Mauer. Links auf dem Tisch eine Orange. Rechts neben der Mitte ein leerer Aschenbecher. Wie lange sollen wir das aushalten, Laura Freudenthaler? Doch da, in Minute 00.25, passiert etwas. Es wird ein Glas Wasser hingestellt. Womöglich ein Hinweis auf die gleich folgende Wasserglaslesung? Zu hören ist dazu ein homöopathisch verdünntes Verkehrsströmen. Eigentlich mag ich so etwas ja. Aber Wasserglas, Aschenbecher, später noch ein Streichholz, da fehlt nur noch irgendein Schreibinstrument, um alle erwartbaren Requisiten beisammen zu haben. Vielleicht ist das wie mit den Adjektiven. Je weniger sie knistern, desto überflüssiger wirken sie. Auf ihren Text bin ich trotzdem sehr gespannt.

Klick, und weiter geht’s. Lydia Haiders Video lehrt uns die Unberechenbarkeit des Vergleichs. Denn während des knapp dreiminütigen Stroms an Lydiahaiderportraits, die auf einem bordeauxroten Pixelteppich schweben, meldet sich der ungeahnte Wunsch nach dem gesichterfreien Hinterhofminimalismus von Laura Freudenthaler. Eine Aufnahme springt heraus aus dieser Diaschau der coolen Posen mit Zigaretten oder Fackeln der Burschenschaft Hysteria. In Minute 01.20 sieht man die Autorin mit schwarzer Arbeitermütze neben einem professionell lächelnden Schlippsmännchen stehen, in den Händen eine Urkunde. Plötzlich ist der Punk wie weggeblasen. Schade eigentlich, wo ist er hin? Und wofür gab’s die Urkunde? Etwa für ihren Roman Kongregation, von dem ich schon soviel Gutes gehört habe? Niemand weiß es. Also schauen wir weiter.

Auftritt Hanna Herbst. Noch bevor das Video startet, ist schon eine Schreibmaschine zu sehen. Und daneben auch noch ein Bleistift. Etwa, damit wir nicht vergessen, dass Hanna Herbst eine Schriftstellerin ist? Klick. Hoffentlich sagt sie nicht gleich etwas Kluges über das Schreiben. Aber nein, sie singt! Wär ich doch nur eine Schriftstellerin, singt die Schriftstellerin, als wäre sie Funny van Dannen, die Republik läse mich auf dem Klo. Eigentlich gar nicht schlecht, so ein ironisches Selbstportrait. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, ich würde mehr über die Schriftstellerin Hanna Herbst erfahren, wenn es nicht darum ginge, dass sie Schriftstellerin ist. Aber vielleicht täusche ich mich auch.

Als Nächstes ragt kurz das Radission Blu in den Hamburger Himmel. Dann sehen wir eine Grünpflanze, die sich in einer leeren Lobby aus einem erbarmungslosen Blechtopf reckt und dabei heimlich die Hoffnung weckt, dass sich Leonhard Hieronymi vielleicht allein durch Bilder portraitieren wird. Menschenlose Hotelansichten, ohne etwas draufzutexten, wie wäre das? Doch schon in Minute 00.16 springt er eine Treppe herab und erklärt, dass er sich in letzter Zeit sehr für den Stunt interessiere. In der Folge sieht man ihn durch das ganze Hotel turnen. Mal macht er eine Aerobicübung auf dem Dach, mal kommt er Purzelbäume schlagend aus einem davidlynchartig dunklen Gang hervor, mal gibt er einem Glastisch, auf dem womöglich Viren wimmeln, ein lebensgefährliches Küsschen, dann macht er einen Handstand in weißer Hose und schwarzen Socken, was zumindest ein Modestunt ist. Nur was hat man sich unter den erwähnten Textstunts vorzustellen? Gar nicht leicht zu sagen. Eine Aneinanderreihung von Albernheiten vielleicht? Dem widerspricht allerdings die aus dem Hintergrund knarzende Rede von Gefahr, Mut und Verletzungen. Vielleicht Texte, die sich auf fahrenden Zügen boxen oder die mit Drachenfliegern in Schafherden landen. Dafür könnte man ihm auf jeden Fall einen Colt-Seavers-Preis verleihen, oder?

Lisa Krusche, die ein schwarzes Kleid trägt, sitzt in falloutgrünen Wastelands und erklärt, dass das Einzige, was sie mit Sicherheit sagen könne, sei, dass sie schreibe, weil sie es anders nicht aushalte. Na gut, kann ich verstehen. Wieso stört mich das meiste Schreibgerede eigentlich so schrecklich? Vielleicht, weil es oft so platt und penetrant und, huch, jetzt bricht Musik ins Bild, Midas Touch von Zaceri, und die Autorin, immer noch im Kleid, taucht sehr schnell durch einen sehr blauen Pool, spaziert durch leere Antonionilandschaften, tanzt im Nachthemd auf Betonmauern, liegt mit Hoodie und Hund auf vollgesprayten Tischtennisplatten und sagt nichts, nichts, gar nichts mehr. Umgehung aller Selbstportraitpeinlichkeiten qua Musikvideo. Na klar, eine leichte Lösung, aber sehr elegant ausgeführt.

Dass Meral Kureyshi nach dieser Popnummer mit der jugendschweren Frage „Wer ich bin?“ einsetzt – Respekt. „Deutsch ist meine Muttersprache, meine Mutter spricht kein Deutsch“, sagt sie, doch der Film zeigt nicht ihre Mutter oder Prizren im Süden des Kosovo, wo sie geboren ist, sondern abrupt hintereinander gesetzte Eindrücke, tanzende Kinder in der Küche, einen von Silvesterraketen golden zerplatzenden Nachthimmel, graugrüne, im Regen sich wiegende Baumwipfel. Diese Bilder müssen nicht wie Hündchen angeleint werden an den Text. Sie dürfen streunen. Wie Katzen, die die Berührung von alleine suchen. In Videos bin ich mir fremd, sagt sie und zeigt bloß einen Fuß. In der Folge sieht sie tanzen, vorlesen, lachen. Vor diesen gleichberechtigten Bildern werden sogar die Schriftstellerinnenworte (schreiben, Einsamkeit) erträglich, gelegentlich sogar schön: Manchmal beobachte ich so lange, bis ich glaube, unsichtbar zu sein, ich bewege mich nicht. Auch wenn sich Vergleiche an den Hals hängen können wie Mühlsteine, fühle ich mich von Ferne an das Erzählen aus Sans Soleil erinnert: If they don’t see happiness in the picture, unleast they’ll see the black. Und dann ist es schon wieder vorbei: Ich will nicht, dass die Zeit schnell vergeht, sagt sie zum Schluss. Ich auch nicht, rufe ich und will sofort eins ihrer Bücher lesen. Geht aber nicht, denn es gibt noch weitere Videos zu schauen.

Also los, Herr Leitner. Vorstellen soll ich mich, hören wir die Stimme des Autors heiser aus dem Off, sollten Sie das wirklich wünschen, dann hiermit wie folgt. Ausweisdokument sei sein Sozialstaatsroman, was aber nicht als Werbung zu verstehen sei. Nun, wenn er meint. Aber was sehen wir eigentlich? Den Wichtltreff, Egon Christian Leitners bärtiges Kinn, ermüdete Rosen, ermüdete Menschen, den schlafenden Autor, der noch dazu erklärt, er schlafe gern und gut. Da muss man aufpassen, dass man nicht selbst gleich einschläft. Zu Bildern von wippenden Gräsern erzählt der schlummernde Leitner jetzt einen vom Pferd, nein, Quatsch, Klee, vom Maler Paul Klee, den der Krieg innerlich nichts angegangen sei. Es ist vielleicht gar nicht so uninteressant, was er sagt, aber diese Mischung aus schlurfender Stimme und achselzuckend an die Worte gehängten Bildern, verdünnt allen Text über Aristoteles, Hühnereier und Menschenherzen zu einem bewusstseinsdrosselnden Rauschen. Als Ursinn den Tastsinn als Hauptsinn, höre ich ihn abschließend sagen. Ziemlich viel Sinn. Nur fehlt da nicht der Unsinn? Am Ende geht er die müde grüne Wiese hinab, und ich reibe meine Ohren wach für Jörg Piringer.

Beim ersten Bild muss ich mich leider am Stuhl festhalten, um nicht davonzurennen. Gezeigt wird nämlich ein weißer Buchstabenurknall auf einer weltallschwarzen Fläche. Aber das ist dem Autor zum Glück selbst zu viel, und er nimmt es wieder zurück. Im zweiten Anlauf zeigt er uns sein Portrait, zusammengesetzt aus unterschiedlich eingefärbten Buchstaben, seinen genetischen Code als Buchstabenkette, vom oberen Bildrand herunterrieselnde Buchstaben, zusammenbrechende Buchstabentürme. Wir lernen: Buchstaben sind sehr wichtig für diesen Schriftsteller. Und was noch? Der richtige Satz, gut durchgestrichen, verbessert die Welt, heißt es nun. Ein kleines Paradox, das den Zuschauer kurz aus dem Staunen über die graphische Kunstfertigkeit befreit. Denn gelingt nicht die Weltverbesserung im Gegenteil durch das Stehenlassen des richtigen Satzes? Oder gibt es vielleicht gar keine richtigen Sätze? Mensch, Herr Piringer, ich glaube, Sie haben recht! Wie schade, dass in der Folge wieder nur dienende Bilder zu sehen sind, Veranschaulichungen seiner Rede über Zeichen, Körper, Abstraktionen. Im O-Ton klingt das so: Ich strebe danach, Problemfelder im Kontinuum zwischen Text, Schrift, Laut, Form und Inhalt zu erschließen. Zitiert er da aus seiner Magisterarbeit?

Fast könnte man meinen, Jasmin Ramadan hätte meine Frage gehört. Sie lässt nämlich alles erklärende Off-Gerede weg und will uns, wie der kurz aufblitzende Titel lautet, Die Anatomie des Schreibens rein mit Bildern zeigen. Zunächst sieht man sie als erkennungsdienstlich behandelte Comicfigur, die das übliche Schildchen hochhält. Geburtsort und Geburtsjahr steht da, aber auch Verbrechen/Ermittlung wg.: Ü. Verweist der geheimnisvolle Umlaut womöglich auf einen Überfall? Doch statt Pistolenkugeln, die in Zeitlupe die Luft durchfauchen, zeigt sie uns einen von bunten Buchstaben umflirrten Kopf mit mechanisch auf einer Tastatur stochernden Forkenhänden. Die Eindrücke der Außenwelt werden in Form von Pfeilen, Kreisen und Punkten visualisiert, die von allen Seiten auf die Sinne einsausen. Einmal meldet sich das neben der Tastatur liegende Telefon. Sogleich verebbt die fröhlich fiedelnde Fahrstuhlmusik und ein bedrohlicher Klingelton erobert das Bild. Doch die Störung aus der Außenwelt, vielleicht war es die Polizei oder der Partner in crime, wird weggedrückt und weiter geht es mit der graphischen Reise ins Ich. Umrahmt wird das abstrakte Inspirationstheater vom Schneegestöber einer alten Fernsehkiste, das einmal eingangs und am Ende gleich mehrfach zu sehen ist. Leider, ohne dass sich daraus die schönen drei Buchstaben HBO erheben und eine neue Serie von David Simon ankündigen.

Apropos, kann ich schon Feierabend machen? Nein, kannst du nicht. Also weiter mit Matthias Senkel, dem ersten von dreien bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur, der noch mutig oder mutlos auf das Fernsehformat vertraut. Früher hat den Wettbewerb ja immer auch die Frage begleitet, wer durch die professionelle Portraitierung am wenigsten lächerlich gemacht wird. Doch Senkel hat sich nicht etwa in ein Aquarium locken lassen, um sich dort etwas zur Ähnlichkeit von Fischen und Schreiben aus der Nase ziehen zu lassen, er sitzt auch nicht mit kompliziert zerknitterter Stirn vor der hauseigenen Bücherwand, stattdessen lässt er sich zeichnen. Stephanie Dost, die bei Neo Rauch studiert hat, zeichnet mit Kohle und Bleistift einen relativ wiedererkennbaren Senkelkopf. Verglichen mit anderen Bildern von ihr, die auf ihrer Homepage zu sehen sind, wirkt das Autorenportrait ein bisschen, sagen wir, technisch. Aber noch etwas anderes: Wer hat eigentlich gesagt, dass Portraits ähnlich sein müssen? Lewis Trondheim, an den ich gerade denken muss, weil, ach, weil gern mal wieder Approximate Continuum Comics lesen würde, stellt sich ja oft als dickschnabligen Vogel mit Anspruchslosigkeitsneurose dar. Übrigens, über Matthias Senkel erfahren wir in dem Portraitfilm, in dem er sich portraitieren lässt, fast nichts. Was im Grunde ja wunderbar ist.

Um Zeit zu sparen, schaue ich das nächste Video, das gleichfalls nicht von der Autorin selbst gestaltet wurde, unterwegs auf dem Handy. Der Einstieg, ein schläfriges Entenpärchen am Ufer, wirkt gleich sehr fernsehformatig. Jetzt kommt Katja Schönherr über den Steg. Der See bedeutet ihr, sagt sie, doch da hupt es neben mir. Ich verstehe gar nichts mehr und konzentriere mich auf das Bild. Der Zürichsee schimmert wirklich betörend. Wenn das überhaupt der Zürichsee ist. Anschließend wird eine besprühte Industrieruine gezeigt. An einem Stahlträger stehen die Worte Uwe und Atmo. Einsamkeit innerhalb von Zweisamkeiten, ist die Autorin wieder zu hören, weil man doch so selten einen Seelenverwandten tritt. Hat sie wirklich tritt gesagt? Mein Gott, ist das laut hier. Noch mal zurück. Ach so, nein, trifft, natürlich hat sie trifft gesagt. Schade eigentlich. Im Bild sind zwei gemeinsam einsame Enten zu sehen. Die Entendame schmachtet den Bürzel des Enterichs an, der maulfaul den Schnabel ins Gefieder schiebt. Vermutlich ein Fall von fortgeschrittener Uwe-Atmo. Die Autorin, der es wichtig ist, zu zeigen, dass am Ende jeder mit sich alleine kämpft, setzt einen Plastik-Orang-Utan an den See, und ich starte, obwohl mich bereits eine affenartige Müdigkeit beschleicht, das nächste Video.

Film ab für das dritte Fernsehformat: Helga Schubert kommt aus ihrem Haus und erklärt, dass sie die geschätzten Zuschauer mit ihrem Alter überraschen werde. Weil sie doch schon Achtzig ist. Was danach kommt, ist aber viel interessanter. Wie Matthias Senkel ist Helga Schubert Wiederholungstäterin. Anders als der junge Mann jedoch konnte die aus der DDR stammende Autorin beim ersten Mal 1980 nicht teilnehmen, da ihr Ausreiseantrag abgewiesen wurde. Während sie das erzählt, wechselt das Bild in die subjektive Kamera. Was damit gesagt werden soll, ist mir nicht ganz klar, aber das von Lichttupfern blinkende Grün, in dem ihr Blick hin und herschweift, wirkt, als hätte Martin Šulík hier Der Garten gedreht. Ich kann da einfach mitmachen, sagt Helga Schubert jetzt, und das ist wirklich für mich, zumal alle, die mir das verboten haben, schon tot sind, ein kleiner Sieg über die Diktatur. Von mir aus kann sie den Bachmannpreis sehr gerne gewinnen.

Schaffen wir noch eins? Oder ist Schluss? Na gut, ein letztes. Es beginnt mit einer Kamerafahrt durch Bäume hindurch. Man fragt sich: Wohin geht die Reise? Was für ein Geheimnis birgt dieser funkelnde Wald? Doch dann müssen wir sehen, wie Carolina Schutti auf einer braunen Bank sitzt und zu elegischen Trompetentönen auf ihrem Laptop herumtippt. Im nächsten Bild sitzt sie auf einer grünen Bank und schreibt schon wieder, diesmal auf Papier. Nach einer weiteren Kamerafahrt sitzt sie auf einer dritten Bank und schreibt immer noch. Da fällt mir wieder dieses schöne Bild von Shostakovich ein, das ich leider nicht mehr finden kann. Er sitzt auch auf einer Bank. Er hat die Ellenbogen über die Lehne geschoben und lächelnd ein Bein über das andere gelegt. Shostakovich beim Komponieren der fünften Sinfonie, lautete die Unterzeile. Warum hat mir dieses Bild nur so gut gefallen? Vielleicht, weil es zeigt, dass man nicht nur beim Schreiben schreibt? Sondern auch beim Sitzen und Lächeln auf Bänken? In einer Haltung, die keine Arbeitshaltung ist? Muss ich noch mal drüber nachdenken. Meinen Sie nicht, dass jetzt genug ist?, so lautet die Frage, die wir die Autorin zum Schluss notieren sehen. Nun, besser spät als nie. Und da ist das Video auch schon vorbei und ich kann endlich den Computer zuklappen.

Nein, verflixt, eins fehlt noch. Auch der letzte Beitrag beginnt mit der Kamerafahrt durch einen Wald. Allerdings scheinen wir uns nun im Süden zu befinden. Der swimmingpoolfarbene Himmel, das sizilianische Licht und die knorrige Pflanzenwelt, alles deutet darauf hin. Der Autor selbst bleibt unsichtbar. Wir hören das Knirschen seiner Schritte im Kies. Er geht einen dürren Pfad hinab, über verfallene Steintreppen, bis schließlich neben einer Feuerstelle – eine Bank auftaucht, nein, sogar zwei! Setzt sich etwa auch Levin Westermann  gleich hin und führt uns vor, wie er – schreibt? Nein, er zeigt den verlockenden Bänken die kalte Schulter und geht vorbei. Dann, genau nach der Hälfte, beginnt der Film rückwärts zu laufen. Wo immer der Weg hingeführt haben mochte, das Ziel wird nicht erreicht. Oder nicht verraten. Die Idee ist einfach, aber der Effekt charmant. Vor allem das Geräusch der rückwärts schlürfenden Schritte schmiegt sich schön in die Ohren. Zum Schluss ist abrupt ein in einen Stamm geschnitzter Waldschrat zu sehen. Das gibt Abzug in der B-Note. Welcher B-Note? Ach, was weiß ich. Jetzt ist wirklich Feierabend.

Und wer hat gewonnen? Oder muss überhaupt niemand gewinnen? Vielleicht sind ja Siege und Niederlagen gar nicht das richtige Maß für die Güte von Portraits von Literatinnen und Literaten. Oder überhaupt von Literatur? Vielleicht wäre der Bachmannpreis viel schöner, wenn nur gelesen und diskutiert würde, aber niemand gekürt. Andererseits, ganz ohne geht’s halt auch wieder nicht. Also machen wir es kurz, the Gewinnerin is: Meral Kureyshi! Aber, Überraschung, Lisa Krusche auch!  Fünfundzwanzigtausend Euro, das muss ich noch schnell sagen, habe ich leider nicht. Aber ich lade euch gern mal auf ein kompliziertes Triumphgetränk ein.

 

 

Martin Lechner ist Autor. 2014 erschien sein Debütroman Kleine Kassa zu dem es hier ein Video gibt, an dem man sich schadlos halten kann.

Der unterschiedliche Verwitterungsgrad der Bauelemente

Eine literarische Erzählung von Jochen Veit in der Reihe 54stories

 

Das Haus stand allein gegen eine Architektur im Übergang zum Industriegebiet. Wenn man auf dem Balkon stand und über die Nachbarschaft blickte, konnte man nicht wissen, in welchen Gebäuden ein Mensch lebte und in welchen Chemie. Sie wohnten im einzigen Altbau der Gegend, die erste gemeinsame Wohnung, irgendwie waren sie oder war das Haus der Zeit entkommen. Richtig hatte er sich nicht gewöhnt an die hohen Decken, den Erker, die klimatischen Bedingungen, die ein rigoroses Lüftungs- und Heizregime nötig machten, um den Ausbruch des Schimmels an die Oberfläche zu verhindern.

Vor einigen Wochen fing eine Frau an, nachts zu weinen. Sie schluchzte, unterbrach sich selbst, ihre eigene durchweinte Stimme. Sie redete, aber niemand antwortete. Offenbar telefonierte sie.

Er konnte nie richtig bestimmen, woher das Weinen kam, weil die Akustik des Gebäudes durch den unterschiedlichen Verwitterungsgrad der Bauelemente völlig verzerrt war. Er war sich nicht einmal sicher, ob es ihre Wohnungstür war, die ins Schloss fiel, oder eine andere. Es kam immer wieder vor, dass er in den Flur lief, weil er glaubte, sie sei nach Hause gekommen, aber dann war da niemand.

Es klopfte an irgendeinem Morgen an der Tür, er wankte aus dem Bett, öffnete, und das Treppenhaus war leer (aber es roch noch nach Anwesenheit und die Schuhe standen so herum, als hätten sie gerade noch jemanden gesehen oder als sähen sie noch immer). Dann ging er zurück und küsste sie wach. Durch die großen Fenster schien die Sonne ins Bett und sie öffneten sie und legten sich nackt in die Strahlen (sie glaubten, dass niemand sie sehen konnte). Das Weinen war nicht zu hören – und überhaupt war es sehr still an diesem Sonntagmorgen (War es dieser Sonntagmorgen? Schlief er nicht längst im Wohnzimmer?), der sich unweigerlich in einen Mittag verwandeln würde, bis sie aufstanden.

Nachdem sie aufgestanden waren, ging sie Mittagessen besorgen. Während sie fort war, lief er nackt in der Wohnung herum, putzte seine Zähne, setzte den Tee auf, starrte das Werkzeug auf der Anrichte an. Hatte sie es wieder dorthin gelegt, während er bei der Arbeit gewesen war? Der Bohrmaschinenkoffer, die Nägel, der Hammer. Alles lag dort. Es klingelte.

„Bin gleich da!“, rief er, doch selbst das Klingeln konnte er nicht mit letzter Sicherheit ihrer Wohnung zuordnen. Kurz stellte er sich vor, wie die Person, die vielleicht vor der Tür stand, sich fragte, von wo seine Stimme kam. Er zog sich eine Jogginghose an und öffnete die Tür. Für einen Moment glaubte er, dort stünde tatsächlich niemand, obwohl doch direkt vor ihm eine Frau stand.

„Ja?“, fragte er und sie antwortete mit einer Stimme, die seine Aufmerksamkeit einfing wie ein tropfender Wasserhahn, gegen dessen Tropfen er nichts tun konnte, weil er nicht wusste, wie, die war wie der Moment, bevor er einen anderen Fahrgast bitten musste, ihn herauszulassen, und dann lieber seine Haltestelle verpasste, und auch diese Haltestelle war ihre Stimme: „Ich wollte fragen, ob ich mir einen Schuss Milch leihen kann. Für meinen Kaffee.“ Ob das ein Vorwand war, fragte er sich, und vielleicht war das in seinem Gesicht zu sehen.

„Ich kann den wirklich nicht schwarz trinken.“ Er trat zur Seite und machte diese alberne Armbewegung, um sie hereinzubitten. Sie lief sofort auf die Küche zu. Woher sie wusste, wo die Küche war? „Unsere Wohnung ist genau gleich geschnitten wie eure.“ Während sie das sagte, zeigte sie auf den Boden. Als er ihr die Kühlschranktür aufhielt, wurde ihm unangenehm bewusst, dass er kein T-Shirt trug und gleichzeitig, dass die Frau bereits eine Kaffeetasse in der Hand hielt, die wegen der Kleinheit ihrer Hände riesenhaft wirkte. Nachdem sie sich Milch eingeschenkt hatte, griff er nach der Tasse in ihrer Hand und nahm, ohne darauf zu achten, wie sie reagierte, einen großen Schluck.

„Wer war das?“ „Wer?“ „Die Frau, die mir gerade entgegengekommen ist. Ich dachte, sie wäre aus unserer Wohnung gekommen.“ „Nicht, dass ich wüsste.“ „Okay.“ Sie stellte die Nudel-Boxen auf den Tisch. Die beiden aßen. Danach gingen sie spazieren, zum alten Industriehafen, der gerade in ein Wohnquartier umgebaut wurde, und von dort aus ein bisschen den Fluss entlang. „Man kann kaum sehen, in welche Richtung der Fluss fließt.“ „Das stimmt.“ „Hm.“

In der Nacht lag sie auf seiner Brust und strich mit einer Hand über seinen Oberkörper, aber er bemerkte es kaum. Er hörte das Schluchzen wieder und war sich sicher, dass sie es auch hören musste. Aber als er sich zu ihr umdrehte und sie darauf ansprechen wollte, war sie schon eingeschlafen. Kurz versuchte er, sie durch Streicheln zu wecken, aber sie grummelte nur ein bisschen, da gab er auf. Die Frau redete jetzt wieder und er hörte sie, die vor Trauer eigentlich nicht mehr sprechen konnte oder die gegen eine Trauer ansprach, die eigentlich schon Wortlosigkeit war. Er blieb liegen und versuchte, sich überhaupt nicht zu bewegen, weil er das Gefühl hatte, etwas zu hören, das er nicht hören durfte. Er lächelte. Er lag auf der Couch im Wohnzimmer. Er schlief ein.

Am nächsten Morgen begannen Bauarbeiter, ein Gerüst aufzustellen. Für die nächsten Wochen mussten sie das Sonnenbaden aufgeben (falls sie das nicht längst schon hatten). Beim Frühstück sprach er das Weinen an. Sie hatte es nicht bemerkt. „Ich hoffe, es hört bald wieder auf.“ Sie nickte, lächelte, berührte seine Wange und nannte ihn sensibel. Sie kannten sich fast seit einem Jahrzehnt, waren seit Jahren ein Paar. Und trotzdem kennt sie mich überhaupt nicht, dachte er. Er sagte nichts darüber.

Sie ging immer früher aus dem Haus als er, weil sie arbeitete und studierte, während er nur arbeitete, aber heute ging er überhaupt nicht. Er rief im Büro an und sagte, er würde heute, und am liebsten auch morgen, von Zuhause aus arbeiten. Das wurde bewilligt. Also trug er seinen Laptop und die wenigen Arbeitsmaterialien, die er brauchte, in die Küche und schaute aus der Tür hinaus über den Balkon in die Industrie. Das Homeoffice entsprach in seiner Firma einem Bereitschaftsdienst. Bei eventuellen Störfällen musste er mit den Filialen telefonieren, Hilfe bei der Problemlösung bieten. Er spielte ein bisschen mit dem Tacker und einer Büroklammer herum. Schließlich ging er einkaufen.

Als er zurückkam, war die Tür angelehnt. Hatte er sie nicht hinter sich geschlossen? Die Schuhe standen schon wieder herum und bildeten sich wahrscheinlich etwas darauf ein, schon mehr zu wissen als er. Er drückte gegen die Tür. Sie schwang auf. Gleichzeitig war da ein Geräusch: Das Quietschen einer sich öffnenden Tür.

Er nahm den Hammer von der Ablage und drehte ihn in seiner Hand so, dass seine Spitze nach vorn zeigte. Einen Eindringling hoffte er so einzuschüchtern. Auch wenn er nicht hätte zuschlagen können. Als Erstes ging er durch den engen Gang zum Bad. Gab der Tür einen Stoß. Es war leer. Er ging hinein. Sah hinter der Tür nach. Nichts. Er drehte sich um. Ging in die Küche. Er warf sogar einen Blick auf den Balkon, die Industrie starrte, aber da war niemand. Das Wohnzimmer: leer. Erst jetzt ging er ins Schlafzimmer. Auf den ersten Blick schien es leer. Aber erst nach Minuten, in denen er regungslos im Zimmer stand, war er sich sicher. Niemand war hier.

Nur die Bauarbeiter mussten an den Fenstern vorbeigekommen sein, denn das Gerüst stand bereits da. Nichts regte sich mehr darauf. Es war ihm kaum aufgefallen, aber es war Abend geworden. Er ging nah ans Fenster, um sich das Gerüst anzusehen. Als er sich gegen die Wand lehnte, bemerkte er, wie kalt sie war.

Er erschrak. Ging zurück zur Tür und machte Licht. Die Wände blieben dunkel. Das Licht der Energiesparleuchte reichte noch nicht aus, sie wirklich sehen zu können. Auch von draußen kann man mich noch nicht sehen, dachte er. Er zuckte mit den Schultern, ging aus dem Schlafzimmer in den Flur, erschrak ein weiteres Mal, da die Wohnungstür immer noch offen stand. Er hob den Hammer, er schien ihm jetzt fast eine Verlängerung seines Arms, und ging auf die Tür zu. Draußen war niemand, nur die Schuhe und die Einkäufe. Er nahm alles, ging in die Küche und räumte es ein. Dann kontrollierte er die Räume erneut. Als er im Schlafzimmer ankam, war es dort hell. Er ging auf die kalte Wand zu und starrte. Schimmel. Ganz sicher. Kleine graue Flecken, die sich fast die ganze Fläche entlangzogen, noch nicht eigentlich sporig, sondern als würden sie langsam durch die Tapete eindringen. Er trat etwas weiter zurück, nahm sein Smartphone aus der Tasche, aktivierte die Lampenfunktion, um die Seitenwand mit der Außenwand vergleichen zu können. Eindeutig. Die Vormieter hatten nur überstrichen. Die Tapete darunter musste vollkommen verschimmelt sein, vielleicht die ganze Wand. Es gab keinen Zweifel, beschloss er (obwohl er eigentlich nichts von diesen Dingen verstand). Trotzdem kniete er sich hin, um die Fugen an den Fußleisten zu kontrollieren. Hier war nichts zu erkennen, aber als seine Hände das Fischgräten-Parkett berührten, bemerkte er, dass es genauso kalt war wie die Wand. Wenn tatsächlich jemand unter uns wohnt, dann kann der Boden nicht so kalt sein. Die Wohnung musste leer stehen. Das dachte er.

„Warum hast du so viel Milch gekauft?“ „Bitte?“ „Vier Liter? Warum hast du vier Liter Milch gekauft?“ „Ich glaube, die Wand in unserem Schlafzimmer schimmelt.“

Sie lief an ihm vorbei ins Schlafzimmer und machte Licht. Er warf sich aufs Bett und wartete, bis sie etwas erkennen konnte. Die Kälte des Bodens hatte sich in die Matratze hineingefressen und überall, wo sein Körper sie berührte, wurde es kalt und für einen Moment dachte er, feucht. Sie legte prüfend ihre Hand auf die Wand. „Die ist ziemlich kalt. Aber nicht feucht.“ „Okay.“ „Also dürfte es eigentlich nur etwas Oberflächliches sein. Dann müssen wir einfach besser lüften. Aber eigentlich glaube ich nicht, dass das Schimmel ist. Das sind einfach Flecken.“ Während sie all das sagte, schielte sie die Wand rauf und runter. „Das sieht eher so aus, als hätte sich irgendjemand an der Wand gerieben.“ „Vielleicht hast du recht.“ Sie drehte sich um und küsste ihn. „Du schmeckst nach Kaffee. Ist noch was da?“ „Nein, aber ich setz dir gern einen auf. Und dann fang ich an zu kochen, ja?“ „Gern“, sagte sie, setzte sich auf das Bett und schaute irgendetwas auf ihrem Laptop an.

Nach dem Essen startete er die Waschmaschine, und da sie beide ihr Geräusch nicht ertragen konnten, beschlossen sie, noch zu spazieren. Er zog seine Jacke an und sie ihren Trenchcoat und den Schal, da erinnerte er sich kurz daran, dass sie schön war. Zum Fluss konnten sie nicht, weil die Gerüstbauer den Fußweg, den fast niemand nutzte, mit ihrem Material versperrt hatten.

Also hinein in das Gebiet, in dem sich monolithische Blöcke mit Fenstern wie Gitter und futuristische Firmensitze abwechselten. Obwohl kein Sportereignis bevorstand, hingen von vielen der Balkone Fahnen, die meisten deutsch, ein paar türkische, aber auch eine portugiesische, eine schweizerische und so weiter. Die Sonne ging gerade im Smog des Horizonts unter. Als sie eine Weile gegangen waren, sahen sie eine Gruppe von Menschen, Hundert vielleicht, die in Kreisen herumstanden, als würden sie nur noch warten, bis irgendetwas begann. Sie waren dunkel gekleidet, hatten aber keine Transparente oder Fahnen dabei. Als sie näher kamen, lösten sich zwei Männer aus der Gruppe und kamen auf sie zu. „Ihr könnt hier nicht lang.“ Der andere baute sich nur auf und machte einen Schritt auf die beiden zu. Ihr Körper kämpfte schon. Man sah es, ihre ganze Haltung. „Komm“, sagte er. Sie bogen in eine andere Straße ein. Nach einer halben Stunde waren sie wieder in ihrer Wohnung. Während sie ins Bad ging, stellte er sich auf den Balkon und hängte die Wäsche auf. So hörte er sie nicht. „Warum hängst du das draußen auf? Das wird doch ganz nass über Nacht.“ „Lass mich das einfach machen.“

Es war gut, dass sie nicht herausgekommen war. Er sah es längst, aber es ging an ihm vorbei. Durch die Straße zog sich der Marsch. Einige trugen Fackeln. Ihre Schatten auf den Wänden der Wohnhäuser wirkten riesenhaft. Es war schwer zu sagen, wie viele es waren. Sicher Tausend, eher mehr. Kurz fragte er sich, ob er nicht noch einmal hinunter gehen sollte. Er ging hinein. Sie saß im Wohnzimmer und schaute sich eine Dokumentation auf ihrem Laptop an. Auf einmal war er froh, dass das Gerüst um sie herumstand.

Heute Mittag hatte er zufälligerweise den Vermieter im Treppenhaus getroffen und gefragt, was für Arbeiten durchgeführt würden. „Die Fassade wird restauriert. Das ist gar nicht so einfach bei diesen Altbauten. Wir müssen vernünftig dämmen und den Denkmalschutz wahren. Diese verdammte Behörde. Es gibt zu viele Wärmebrücken. Ein paar Mieter hatten Probleme mit Schimmel, Sie doch nicht etwa auch?“ „Nein, nein, alles bestens.“ „Na, immerhin das. Ich hoffe, es stört sie nicht, dass das ganze Haus eingerüstet ist. Aber es ging nicht anders. Nicht, dass Sie sich fühlen wie in einem Gefängnis.“ „Na ja, wir wohnen ja freiwillig hier.“ Sie lachten.

Und jetzt saß er also neben ihr und glotzte auf diese Doku. Seine Füße auf dem Boden wurden langsam kalt. Er beschloss, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war und sprach es an. „Niemand weint hier. Ich habe es dir doch schon erklärt, die Leute unter uns machen ständig Partys und da schluchzt niemand, die sind einfach komisch und machen komische Geräusche.“ „Ja sicher, aber drauß-“ „Sei jetzt bitte still, du siehst doch, dass ich mir das anschauen will!“

Im Schlafzimmer warf er sich aufs Bett. Draußen stand das Gerüst, und die Nacht hatte einen rötlichen Schimmer, die Rufe wie von fern, aber das hieß nichts, sie konnten längst im Haus sein, sie konnten längst im Haus sein, und der Wind rüttelte an allen Verbindungsstücken des Gerüsts und den Bäumen davor, und er konnte nicht so tun, als wäre er nicht müde und sogar existentiell erschöpft.

„Wo ich Sie schon treffe“, er war bereits drei Stufen nach oben gegangen, drehte sich aber noch einmal zum Vermieter um, „wer wohnt eigentlich in der Wohnung unter uns?“ „Das kommt darauf an, in welchem Stock Sie wohnen.“ „Im vierten.“ „Dann steht sie leer.“ Um sich nichts anmerken zu lassen, ging er ein paar Schritte weiter. „Oder, warten Sie. Ich glaube, dort wohnen irgendwelche Studenten. Ja, ja, dritter Stock links, eine WG. Ziemlich sicher. Die im vierten Stock steht leer, jetzt erinnere ich mich.“ „Alles klar.“ Wieder lachten sie.

Er bekam wenig Luft. Es musste an den Sporen liegen. Seine Luftröhre fühlte sich an wie ein Metallrohr. „Was zur Hölle ist das da draußen?“ Sie stand im Zimmer, an die kalte Wand gedrückt und schaute durch das Fenster, durch die Stäbe ihres Gerüsts auf den Marsch hinab. „Ich weiß es nicht.“ „Wollen die irgendwas von uns?“ „Von uns? Warum denn von uns?“ „Ja, stimmt. Aber irgendwie macht mir das Angst.“ „Okay. Du … ich kann hier drinnen nicht richtig atmen. Ich glaube, ich schlafe heute Nacht wieder im Wohnzimmer.“ Er stand auf und setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch. Er machte Licht. Während es langsam stärker wurde, hörte er die Geräusche. Er öffnete das Fenster, sie schrien herein, er schloss es sofort wieder. Unter dem Sofa gab es Bettzeug für Gäste. Er suchte danach, da bemerkte er, dass das Sofa schon bezogen war. Natürlich, dachte er, und ging noch ein letztes Mal ans Fenster.

Die Welt hatte aufgehört, sich zu zerreißen. Die Straße war leer. Als er die Wand berührte, zuckte er zurück. Auch sie war kalt und er war sich sicher, auch feucht. Er nahm die Lampe vom Schreibtisch, steckte sie ein und strahlte gegen die Wand. (Das war von draußen zu sehen.) Da war kein Schimmel. Er schaute fester hin. Nichts. Nachdem er die Lichter gelöscht, alle Fenster geöffnet hatte, zog er sich aus und legte sich hin. Kurz war er sich nicht sicher, ob er da war, dann lächelte er und schlief ein.

Ein paar Stunden später wachte er auf. Das Geheule war unerträglich geworden. Erst dachte er, es wäre das selbe, zarte Geräusch, das ihm die Existenz einer Außenwelt bewies, dann aber bemerkte er, dass es ein profanes, ein krankhaftes Geschrei war, guttural, tierisch, und er verstand einfach nicht, wie man als Mensch heute noch so erschüttert sein konnte, denn seit Jahren machte doch alles höchstens noch dröge und irgendwie morsch, und unter dem Parkett und hinter der Tapete war alles verschimmelt, und es stank, ein unerträglicher Gestank und eine unerträgliche Feuchtigkeit zogen herein oder waren schon drinnen, und auf einmal schreckte er aus diesem Traum auf und wusste zum ersten Mal, woher die Geräusche kamen.

(c) Vera Thielen

Jochen Veit wurde 1992 geboren. Er studierte Philosophie und Komparatistik in Mainz und Wien. Im Jahr 2016 war er Stipendiat der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung in Edenkoben und 2018 nahm er am Literaturkurs in Klagenfurt teil. Seine Texte erschienen in mehreren Literaturzeitschriften und Anthologien, u.a. in KRACHKULTUR und STILL. Sein Debütroman „Mein Bruder, mein Herz“ erschien am 22. März 2019 im Arche Literatur Verlag. Er lebt in München.

Beitragsbild von MattSmart

Mehr Trend als Thema – Buchmarkt und “trans”

Von Linus Giese

 

Sind Geschichten über das Thema trans ein zunehmender Trend in der Buchwelt? Oder täuscht dieser Eindruck? Ich habe mir in den letzten Tagen die Herbst-Vorschauen angeschaut.

Seit Jahren werden wir überhäuft mit Büchern zur Bedeutung des Waldes für Kultur und Umwelt. Das geht vom Heilsamen Waldbaden (dazu könnte ich gleich 5 Titel verlinken) über die Gebrauchsanweisung für den Wald bis zu der Frage, wie der Wald uns heilen kann – wenn ein erfolgreich laufendes Thema entdeckt wird, wird es immer wieder bespielt. Das sehen wir auch bei diesem Twitter-Thread von Marion Rave (@schiefgelesen), in dem sie eine Collage aus unzähligen Covern, zusammengestellt hat, die alle dem gleichen Schema folgen. Bei einer solchen Menge sind wir im Bereich trans natürlich noch längst nicht. Doch ich habe den Eindruck, dass deutschsprachige Verlage das Thema zunehmend für sich entdecken.

Auf einige Titel freue ich mich schon sehr: zum Beispiel auf die beiden Graphic Novels Küsse für Jet und Hattest du schon die Operation?, die in dem Berliner jaja-Verlag erschienen sind. Ich freue mich auch auf die Autobiographie von Thomas Page McBee – das Buch Amateur erscheint im Blumenbar Verlag und erzählt die Geschichte seiner Transition und davon, wie er zu einem Amateurboxer wurde.

Wenn neue Themen in Angriff genommen werden, geht aber naturgemäß aber auch einiges schief: Das Buch How to be gay von Juno Dawson, die 2015 ihr Coming-Out als trans Frau hatte, erscheint im August in einer aktualisierten Auflage im S. Fischer Verlag. In der Vorschau – die in den meisten Fällen zum Glück nur Buchhändler*innen, Journalist*innen und Blogger*innen durchblättern – wird Juno Dawson über dem Foto als Autor statt Autorin bezeichnet und die Kurzbiographie daneben ist so alt, dass sie darin noch als Lehrer nicht als Lehrerin bezeichnet wird. Der Verlag erklärte diesen Fall von Misgendern damit, dass fälschlicherweise eine alte Kurzbiographie in die Vorschau hineinkopiert wurde. Klar, kann passieren – aber warum fällt das niemandem auf? Es ist auch kein Einzelfall: Akwaeke Emezi hat sich mittlerweile als nicht-binäre trans Person geoutet, doch der deutscher Verlag nutzt weiterhin die alten Pronomen.

Ich habe mir die fehlerhafte Ankündigung der neuen Ausgabe von Juno Dawsons Buch zum Anlass genommen, einen Blick in die alte Ausgabe zu werfen: dort wird zwar richtig gegendert, aber es wird ihr alter Name erwähnt. Viele trans Menschen gehen ganz unterschiedlich mit ihrem sogenannten Deadname um, aber die Frage danach, wie lange es nach einem Coming-Out immer noch den Zusatz „Juno Dawson, geboren als …“ oder „Juno Dawson, ehemals …“ braucht, sollte erlaubt sein.

Auch die Kurzbeschreibung von How to be gay ist mehr als unglücklich

“Wie fühlt es sich an, zum ersten Mal in ein Mädchen verliebt zu sein, wenn man selbst ein Mädchen ist? Und was passiert dann? Wie findet man andere schwule Jungs? Und warum fühlen sich manche Menschen im falschen Körper gefangen? Mit über hundert Originalbeiträgen von lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Jugendlichen, die ein unendliches Spektrum sexueller Identitäten repräsentieren. Das ultimative Aufklärungsbuch zu Sex und sexueller Identität.” (Hervorhebungen von mir)

Die Probleme mit dieser Beschreibung sind vielfältig:

1.) Nicht alle trans Menschen fühlen sich im falschen Körper gefangen, diese Formulierung ist oftmals ein Stereotyp, über das ich in Büchern und Medienberichten stolpere.

2.) Transsexuell ist eine veraltete Bezeichnung, die heutzutage noch als Selbstbezeichnung verwendet wird, aber nicht als Fremdbezeichnung verwenden werden sollte.

3.) Das Wort transsexuell legt nahe, dass es sich um eine sexuelle Identität handelt – tut es aber nicht, wenn wir über das Thema trans sprechen, sprechen wir vor allem über die Geschlechtsidentität.

Wenn wir über missglückte Klappentexte sprechen, müssen wir leider auch über Rätsel: Bericht einer Wandlung von Jan Morris sprechen, das in diesem Herbst im Dörlemann Verlag erscheinen wird.

“Als James Morris geboren, zeichnete er sich im britischen Militär aus, wurde ein erfolgreicher und mutiger Reporter, erklomm Berge und durchquerte Wüsten. Er war glücklich verheiratet, hatte vier Kinder und war allem Anschein nach das, was man als einen männlichen Mann bezeichnet. Bis er sich zu einer Geschlechtsumwandlung entschloss. In »Rätsel« erzählt Jan Morris offen darüber. Es ist einer der frühesten und schonungslosesten Berichte.”

Hier geht leider fast alles schief: der Deadname wird genauso verwendet wie das falsche Pronomen – es gelingt sogar das Kunststück nicht ein einziges Mal die richtigen Pronomen für Jan Morris zu verwenden. Und auch der Begriff Geschlechtsumwandlung ist schon längst nicht mehr zeitgemäß.

Vielleicht fragen sich manche jetzt, wie solche Fehler in Zukunft verhindert werden könnten – die Antwort ist erschreckend kurz und erschreckend einfach: durch Recherche. Wer damit beginnt zu recherchieren, findet im Internet relativ schnell den einen oder anderen Sprachleitfaden – es gibt zum Beispiel einen Leitfaden, der Trans* in den Medien (PDF) heißt, herausgegeben von TransInterQueer. Direkt auf Seite 6 steht dort Folgendes:

“Gleich vorneweg: Wählen Sie „Geschlechtsangleichung“ statt          „Geschlechtsumwandlung“, falls Sie über medizinische Transition berichten. Am Besten, Sie streichen „Geschlechtsumwandlung“ einfach aus Ihrem Wortschatz.”

Ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig eine solche Recherche ist, ist auch das Jugendbuch Mein Bruder heißt Jessica von John Boyne. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Sam erzählt – Sam ist der Bruder von Jessica, die sich als trans Mädchen outet. Das Buch wurde bereits kurz nachdem es auf Englisch erschienen ist, von vielen trans Menschen kritisiert. Interessanterweise geht es bei der Kritik gar nicht so sehr darum, dass es John Boyne als cis Mann nicht zustehen würde eine Geschichte über ein trans Mädchen zu schreiben – ich halte auch nichts von der Idee, dass Menschen nur über ihre eigenen Erfahrungen schreiben dürfen. Doch wenn sie sich entscheiden, über die Erfahrungen marginalisierter Menschen zu schreiben, dann müssen sie vernünftig recherchieren. Und eben diese fehlende Recherche und die Tatsache, dass durch seine Geschichte transfeindliche Klischee verbreitet werden, werden John Boyne vorgeworfen. Das fängt schon beim Titel an – wäre es nicht auch ein starkes Signal gewesen, das Buch Meine Schwester Jessica zu nennen? Stattdessen ist es immer wieder eine Geschichte der Umwandlung und Verwandlung, die erzählt wird. Es spiegelt sich aber auch im Inhalt wieder: Die Geschichte des Buches wird am Ende von Jessica gerettet, die sich ihre langen Haare wieder kurz schneidet, ihre Bartstoppeln stehen lässt, ein Fußballtrikot anzieht und die Bühne, auf der ihre Mutter als Premierministerin ausgezeichnet wird, „als Junge“ betritt. Das klingt dann doch ein bisschen gefährlich klischeehaft, oder? Statt sich der Kritik zu stellen, löschte John Boyne seinen Twitteraccount – mittlerweile ist er wieder zurück und konnte dabei beobachtet werden, wie er sich ganz unbefangen mit Fred Sargeant austauschte, der in den letzten Wochen mit zahlreichen transfeindlichen Tweets auffiel. Wenn man all dies weiß, erscheint es mir fast zynisch dieses Buch mit den Worten „Ein Thema, das polarisiert“ zu bewerben. Wer glaubt, dass die Existenz von trans Menschen polarisiert, der möchte tatsächlich nur ein Thema verkaufen, aber selbst keine inhaltliche Auseinandersetzung leisten.

Ich weiß – würde ich mich hinstellen und sagen, dass das Buch von John Boyne transfeindlich ist, würden mir viele antworten: „Das war bestimmt keine Absicht, nur weil ein Buch schlecht ist, muss es nicht gleich transfeindlich sein.“ Das ist ein großes Missverständnis, das im Umgang mit dem Begriff transfeindlich weitverbreitet ist: Ein Buch ist nicht nur dann transfeindlich, wenn Autor*innen absichtlich trans Menschen schaden möchten oder sie diskriminieren wollen. Transfeindlichkeit interessiert sich nicht dafür, ob dahinter Absicht oder ein Versehen steckt – in Mein Bruder heißt Jessica stecken auf jeden Fall transfeindliche Klischees und Stereotype.

Doch wie kann so etwas passieren? Wie kann ein solches Buch durch alle Kontrollinstanzen laufen, ohne dass so etwas auffällt? Ich glaube, der Grund dafür ist relativ einfach: an keiner Stelle dieser sogenannten Kontrollinstanzen sitzen trans Menschen. Das wurde auch kürzlich deutlich, als Judith Vogt auf Twitter darauf aufmerksam machte, dass eine nicht-binäre Figur von Chuck Wendig in der deutschen Übersetzung plötzlich nicht mehr nicht-binär war. Erschienen war das Buch Nachspiel im deutschsprachigen Blanvalet Verlag. Der Autor veröffentlichte kurze Zeit später eine Mail seines Lektors, der ihm versuchte zu erklären, warum für seine nicht-binäre Figur sie/ihr Pronomen verwendet wurden. Die Begründung: im Deutschen gäbe es noch keine Entsprechung für das Pronomen they – der Übersetzer entschied sich deshalb (unter anderem aufgrund der angeblich besseren Lesbarkeit) die Pronomen zu ändern, auch weil der Name der Figur so „weiblich klingen“ würde. Auf diesem Weg verschwindet einfach eine nicht-binäre Figur und wird durch eine mangelnde und wenig inklusive Übersetzung ausgelöscht und unsichtbar gemacht.

Mein Bruder Jessica und How to be gay erscheinen beide im S. Fischer Verlag und werden beide mit folgenden Floskeln beworben: „Aktuelles Thema, das polarisiert“„Plädoyer für Verständnis und Toleranz“ – „Gleichberechtigung! Diversity! Powerthemen für Generationen Z!“

Ich habe schon jetzt ein bisschen Angst davor, dass mir Menschen das Buch von John Boyne mit den Worten in die Hand drücken werden: „Lies das mal, das ist so berührend!“ Ich gebe zu, ich bin ein bisschen frustriert. Ich bin auch frustriert über die Rolle, die ich einnehmen muss: mir bleibt oft nur die Rolle desjenigen, der Kritik übt, wenn bereits alles zu spät ist. Nur in einem einzigen Fall wurde ich in das Korrektorat der Biographie eines trans Mannes involviert. Doch die Vorschautexte aller anderen Bücher sind gedruckt, genauso wie die Buchumschläge. Warum fragen Verlage vorher nicht nach Hilfe? Warum holen sie sich keine Experten*innen ins Haus? Warum nehmen sie kein Sensitivity Reading in Anspruch? Warum haben fast alle Verlage eine Stelle für die Blogger*innenbetreuung geschaffen, aber kein Verlag eine Stelle für Diversität?

Mich beschleicht nach der Durchsicht der Vorschauen das Gefühl, dass trans bei Verlagen ein Trend ist – interessanterweise ist es aber mehr Trend als Thema, denn es bleibt bei oberflächlichen Schlagworten (Powerthema!). Ich glaube, dass das nicht reicht. Ich habe ein bisschen Angst davor zu schreiben, was ich mir wünsche, weil es so naiv und utopisch klingt, aber ich bin von einer Tatsache überzeugt: wenn Bücher (und Themen) diverser werden sollen, dann müssen auch Verlage diverser werden: Dann müssen die Stellen von Übersetzer*innen diverser werden, von Korrektor*innen, Lektor*innen und Social-Media-Mitarbeiter*innen.

Ich weiß, dass es noch ein weiter Weg dahin sein wird, aber anders wird es nicht funktionieren. Ansonsten werden Verlage weiterhin ihr Geld mit den Geschichten marginalisierter Menschen verdienen, ohne, dass sich etwas an den Strukturen ändert. Ich habe auch meine eigene Geschichte für einen Verlag aufgeschrieben, aber das reicht mir nicht – ich möchte nicht meine eigenen Erfahrungen hergeben müssen, um einen Platz in diesem Literaturbetrieb zu bekommen. Ich möchte für uns alle mehr, ich möchte, dass wir an Prozessen und Entscheidungen beteiligt werden.

 

Beitragsbild von Kyle

Privilegien und Effekthascherei – Der Zeitgeistjournalismus des Magazins “Tempo”

von Simon Sahner

 

Ende des Jahres 2006 berichtete der Spiegel unter dem Titel Das Ich-ich-ich-Magazin über eine ungewöhnlich umfangreiche (fast 400 Seiten) Sonderausgabe des Magazins Tempo, das es zu diesem Zeitpunkt seit bereits zehn Jahren nicht mehr gab. Auf dem Cover dieser Sonderausgabe prangte ein Porträt von Kate Moss, auf dem sie mit laszivem Blick über die nackte Schulter in die Kamera schaut, eine Zigarette hängt zwischen den Lippen. Die langen Haare sind zerzaust. Der Titel kündigt an: “Endlich! Die Wahrheit”. Ich erinnere mich sehr genau an dieses Cover, zudem an eine kontrastreiche Fotostrecke von einem oberkörperfreien Lukas Podolski; außerdem an ein Bild, das über hunderttausend Zigaretten zeigte, die Helmut Schmidt in den letzten Jahren geraucht haben soll, und an eine aufsehenerregende Aktion, die zahlreiche Prominente hinters Licht führte.

Mit 17 Jahren fand ich das damals alles sehr spannend, es entsprach mehr oder weniger dem, was mich interessierte. Keine Ahnung hatte ich allerdings davon, dass es sich bei dem Heft um eine verspätete Sonderausgabe einer der legendärsten Zeitschriften der vergangenen Jahrzehnte handelte: Tempo, das Magazin, das von 1986 an für zehn Jahre den Zeitgeist der Bundesrepublik journalistisch nicht nur prägen, sondern bestimmen wollte. Es war das Magazin, bei dem nicht wenige heute bekannte Medienmacher*innen ihre Karriere begannen und bei dem Autor*innen, die heute für einen Teil der Gegenwartsliteratur prägend sind, ihre ersten Schritte machten: Christian Kracht, Sibylle Berg, Moritz von Uslar, Eckhart Nickel, Maxim Biller und Tom Kummer.

Die inhaltliche und stilistische Schlagrichtung des selbsterklärten Zeitgeist-Magazins Tempo lässt sich gut in den Worten des damals 27 Jahre alten ersten Chefredakteurs Markus Peichl erklären, der 1985 die Notwendigkeit einer Publikation wie Tempo zu begründen versuchte:

Weil der Wiener so schön war, aber nicht schön genug, Weil der Spiegel beeindruckend viel Gehirn hat, aber beängstigend wenig Gefühl. Weil der Stern mal toll war, es aber anscheinend nicht mehr sein will. Weil Cosmopolitan viel Sex hat, aber nicht genug Erotik.

Damit ist auch die Ausrichtung des Magazins grob benannt. Die Menschen, die diese Zeitschrift vorwiegend machten, und diejenigen, die sie lasen, dürften ungefähr der gleichen sozialen Gruppe angehört haben: junge Männer, meist ledig, mit gutem Schulabschluss und überdurchschnittlichem Einkommen, urban und viel auf Reisen, politisch eher nicht engagiert und vor allem auf den eigenen materiellen und sozialen Erfolg bedacht. Ihre Interessen lassen sich zusammenfassen mit: „private Zufriedenheit, beruflichen Erfolg, Freizeit, Fitness, soziales Umfeld und Konsum.“

So umreißt Kristin Steenbock die Tempo-Redaktion und ihr Publikum in ihrem Buch Zeitgeistjournalismus, das sich der Vorgeschichte deutscher Popliteratur widmet und insbesondere das Magazin Tempo, seine Leser*innenschaft und seinen Anspruch, eine Generation abzubilden, näher betrachtet. Das entscheidende Attribut lautet dabei postheroisch. Während der Popkultur der 60er/70er Jahre ein heroischer Selbstanspruch im Sinne eines Widerstands attestiert werden kann, zeichneten sich Tempo und die Popliteratur der 90er Jahre durch eine postheroische Haltung aus, die durch einen zunehmenden Bedeutungsverlust von Subkulturen und eine Verbindung von Popkultur und Konsum entstanden war. Dabei kam es zu einer „Lösung des Popdiskurses vom linksalternativen Deutungsmonopol“ und zu einer Ablehnung des linken ebenso wie des konservativen Kulturverständnisses. Daraus entstand ein Generationsgefühl, das nicht mehr durch das gemeinsame Erleben politischer Ereignisse erzeugt wurde, sondern durch kollektive Konsum- und Freizeiterfahrungen. Anhand der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum zeigt Steenbock auf, wie Tempo durch Stil, Themensetzung und Darstellungsweise vor allem in Bezug zu den vier Bereichen einen Zeitgeist affirmierte und gleichzeitig erzeugte.

Nähert man sich diesem Zeitgeist über diese vier Kategorien, dringt man in ein Umfeld vor, das aus der Perspektive aktueller Diskurse anmutet wie der dunstig unangenehme Locker Room des Journalismus. Hier findet auch Steenbock das Kernproblem des verallgemeinernden Begriffs Zeitgeist mit Blick auf Magazine wie Tempo, die zwar für sich in Anspruch nehmen, die Grundhaltung einer Generation zu repräsentieren, und dabei auch vorgeben, wie man zu leben habe, aber eben in Wahrheit nur einen kleinen Teil dieser Generation repräsentieren können und vor allem auch wollen. Die Autorin stellt  fest: „[D]as Zeitgeistkonzept dient dazu, kulturelle Ausdrucksweisen eines Teils der westdeutschen Jugend als generationsspezifisch zu inszenieren.“

Dass die grundlegende Haltung, die durch Tempo vermittelt wurde, in der zweite Hälfte der 80er Jahre eben nicht repräsentativ für die Generation der damals 20- bis 40-jährigen war, machte 1989 Willi Winkler in der Zeit deutlich, der selbst nach Alter und Bildungsstand genau das Umfeld vertrat, über das Tempo eine Deutungshoheit beanspruchte:

Nichts kann so kompliziert sein, als daß es sich nicht im feinen Layout abbilden ließe, nichts zu kostbar, als daß man es nicht sofort zum letzten Schrei ausrufen konnte. Tempozeigt, wie lustig es ist, jung und dumm zu sein.

Winklers Kritik ist nicht zuletzt auch eine Abgrenzung von dem Generationsgefühl, das Tempo konstruieren wollte. Und das ist durchaus verständlich. Was nämlich angesichts der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum sehr schnell deutlich wird, sind die Sicherheit und das unerschütterliche Selbstverständnis als Diskursbeherrscher, mit denen eine Gruppe junger Redakteur*innen hier eine äußerst privilegierte Lebensweise bewusst in Textform und Ästhetik gegossen hatte. Dabei steht eine perspektivische Norm im Mittelpunkt, die davon ausgeht, dass der Leser, der die Generation repräsentieren soll, männlich, heterosexuell, normschön und von der eigenen Intelligenz überzeugt ist. Das Andere, das die Ausnahme bilden soll, offenbart sich in den Titelzeilen, die auch Steenbock zitiert: „»Leben Schwule besser?« (August 1994), »Ficken Dumme besser?« (Juli 1986), »Warum Mädchen schlauer sind« (Juni 1995), »Dicke sind schärfer« (Oktober 1986).“ Was eine wissenschaftliche Arbeit nicht so deutlich sagen kann, lässt sich in Steenbocks Buch zwischen den Zeilen lesen: In diesen Formulierungen drücken sich nicht einfach eine andere Zeit und Gesellschaft aus, sondern vor allem ein grundsätzliches Überlegenheitsgefühl des weißen, gut situierten, heterosexuellen Mannes. Die meisten anderen Perspektiven werden vernachlässigt. Noch 2006 stellte Reinhard Mohr angesichts der Jubiläumsausgabe im Spiegel fest, das Team aus 63 Personen (davon 8 Frauen) hinter der Sondernummer wirke wie ein „einziger großer Männnerfreundeskreis.“ Es verwundert daher auch wenig, dass man über Journalismuskreise hinaus außer Sibylle Berg kaum eine Autorin des Magazins heute noch beim Namen kennt.

Kein Bock auf Konsequenzen

Diese Sicherheit über die eigene Diskursmacht lässt sich an die postheroische Haltung, die Steenbock in diesem Generationsverständnis ausmacht, zurückbinden. Der entscheidende Faktor dieser Haltung ist vor allem eine grundlegende Abkehr von allem, was sich die 68er-Bewegung auf die Fahnen geschrieben hatte. Das Resultat dieser Entwicklung zeigte sich schließlich in Florian Illies’ Generation Golf, seinem retrospektiven Manifest der 80er/90er Jahre: „Es wirkte befreiend, dass man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern befand, auch öffentlich albern nennen konnte.” Dabei ging es tatsächlich weniger darum, dass man die Ziele der vorangegangenen Student*innenbewegung prinzipiell abgelehnt hätte, sondern darum, dass man, salopp gesagt, keinen Bock mehr auf die damit verbundenen Konsequenzen hatte. Ein gutes Beispiel, um das zu illustrieren, ist die Haltung zum Feminismus, die sich nicht nur in der 1994 von Johanna Adorján, Rebecca Casati, Christian Kracht und Eckhart Nickel verantworteten Liste der „97 nettesten Mädchen Deutschlands” und Ratschlägen „wie man sie (vielleicht) kriegt”, ausdrückt.

Vor allem in einem Persönlichkeitstest in der Tempo-Ausgabe vom Mai 1987, den Steenbock mit Blick auf das darin vermittelte Frauenbild analysiert, offenbart sich eine problematische Perspektive auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit. Unter der Ausgangsfrage „Müssen Sie Ihr Leben ändern?“ kommen die nicht genannten Testentwickler*innen zu dem Schluss, dass alle Frauen, die sich weniger Softies wünschen, Pornographie toll finden, sich in erotischer Unterwäsche nicht lächerlich finden und Kinder wollen, ihr Leben möglichst nicht ändern sollten. Den anderen hingegen wird gesagt: „Der Feminismus ist ein Durchlauferhitzer. Wer ihn wirklich verstanden hat, braucht ihn nicht mehr.“ Der perfide Twist dieser Erkenntnis steckt in dem impliziten Vorwurf an Frauen, den Feminismus nicht verstanden zu haben, wenn sie der Ansicht sind, die Gleichberechtigung sei noch nicht erreicht. Die Haltung, die hier Ausdruck findet, ist also kein offener Antifeminismus, sondern vielmehr eine implizit antifeministische Unlust, die eigenen Privilegien infrage zu stellen, was unter anderem hieße, von einem bestimmten Frauenbild Abschied zu nehmen. Deswegen erklärt man die feministischen Ziele kurzerhand für erreicht.

In diesem vorauseilend erklärten Postfeminismus spiegelt sich auch die grundsätzliche Problematik einer postheroischen Haltung, die Steenbocks Arbeit leider nicht ganz auf den Punkt bringt, obgleich diese Erkenntnis durchaus erkennbar wird. Wenn man generell davon ausgeht, dass gesellschaftliche und politische Probleme überwunden sind, muss man sich auch nicht mehr damit aufhalten, die eigenen Privilegien kritisch zu betrachten und Konsequenzen daraus zu ziehen. Der Postheroismus führte in Tempo zu einem Grundtenor, in dem man grundsätzlich mit jedem Thema Spaß haben oder, wie Steenbock es in ihrem Fazit ausdrückt, alle Verbindlichkeiten vermeiden kann.

Das ist auch genau das Problem des New Journalism in der Ausformung, auf die sich auch große Teile der Tempo-Redaktion beriefen und die Bernhard Pörksen wie folgt beschreibt: „radikale Subjektivität, notfalls unter Verzicht auf thematische Relevanz, ein Aktualitätsbegriff, der sich nicht allein über die Zeitdimension definiert, die dominante Präsenz des Autors, des journalistischen Ichs.“ (Pörksen, 308) Der New Journalism hat nun durchaus die journalistische Landschaft bereichert, allerdings  legitimiert er auch eine Schreibweise, die sich vor allem aus Privilegien speist und Effekthascherei erzeugt. Gerade in der Tempo konnte man feststellen, wie schnell diese journalistische Vorgehensweise in Selbststilisierung kippen kann und dem meist männlichen Reporter vor allem die Möglichkeit bietet, eigene Devianz und Wagemut zur Schau zu stellen.

Überstolze Selbstauskünfte – New Journalism in der Tempo

So auch in der Tempo-Reportage Ballern wie blöd von Christian Kracht, für die er 1995 ins afghanisch-pakistanische Grenzland reist, dort in einer Waffenfabrik verschiedene Schusswaffen und Granaten ausprobiert und schließlich zu dem Fazit kommt, Schießen sei wie Kartoffelchips essen, man bekomme nicht genug davon (Dezember-Ausgabe 1995). Nicht allein der Titel des Textes offenbart, dass es hierbei weniger um eine informative Reportage aus einem volatilen Umfeld geht, sondern vor allem darum zu zeigen, wie mutig und spektakulär der Reporter des Magazins ist. Dafür spricht auch die Bildunterschrift, die stolz verkündet: „Der TEMPO-Reporter bläst alles weg.“ Eine ähnliche Fremdscham erzeugt die Begeisterung des Tempo-Reporters Helge Timmerberg für den Gonzo-Journalismus und dessen berühmtesten Vertreter Hunter S. Thompson (der zeitweise selbst für Tempo schrieb). Ein Gonzo-Journalist, schreibt Timmerberg 1987 in der Tempo, zeichne sich dadurch aus, dass er es ablehne so „zu tun […], als habe er noch nie ‘ne Nutte gefickt, wenn Prostitution sein Thema ist, als habe er noch nie seiner kleinen Schwester die Schokolade weggenommen, wenn er über Gewalt gegen Frauen berichtet.“ In seiner Autobiographie Die rote Olivetti (2016) berichtet Timmerberg dann unter anderem davon, dass er in den 90er Jahren von der Bunten 30.000 Mark für Reportagen bekam, die er unter Drogeneinfluss schrieb, und irgendwann wie sein Vorbild Thompson in Havannah im Hotel wohnte und dort weiter für die Bunte arbeitete. Neben einem ethisch auf mehreren Ebenen problematischen Verständnis von Journalismus, offenbart sich in diesen Beispielen auch das unangenehme Pathos, das mit einem Teil des New Journalism einhergeht. Dabei wird weniger einer subjektiv-teilnehmenden Beobachtung Ausdruck verliehen, sondern der Reporter ergeht sich vor allem in der Inszenierung eines bestimmten Männlichkeitskitsches.

Man könnte angesichts dieser Reportagen und überstolzen Selbstauskünfte auch sagen, dass junge, privilegierte Männer viel Geld dafür bekamen, dass sie unter dem Deckmantel des Journalismus über den eigenen Drogenkonsum und verantwortungsloses Verhalten schrieben und dafür auch noch zu Helden verklärt wurden. Dieser Eindruck verfestigt sich auch bei den Schilderungen der ehemaligen Tempo-Reporterin Bettina Röhl, die rückblickend berichtet, wie junge Reporter und Redakteure extra nach Hamburg eingeflogen und wie „kleine Stars“ behandelt wurden. Unter ihnen befand sich unter anderem Maxim Biller, dem man in Tempo regelmäßig Platz für 100 Zeilen Hass gewährte. Über Hunter S. Thompsons Arbeit für Tempo weiß Röhl zudem zu erzählen, dass manchmal Redakteurinnen in die USA fliegen mussten, um dem vermeintlich genialen Journalisten im Kokainrausch die Hand zu halten, damit er seine Kolumne schreiben konnte.

Der Weg von Tempo zu Popliteratur

All das findet in Kristin Steenbocks Arbeit höchstens am Rand oder zwischen den Zeilen Erwähnung, was angesichts der erklärten Perspektive und vor allem aufgrund der Standards einer wissenschaftlichen Arbeit auch kaum verwunderlich und per se kein Manko ist. Dennoch wünscht man sich, dass auf diverse Fragen, die sich bei der Lektüre ergeben, detaillierter eingegangen würde. Unter anderem irritiert die mehrfache, unkommentierte Erwähnung, dass die Tempo-Redaktion der Partei Die Grünen nahegestanden habe, was angesichts der dargelegten Inhalte und Haltungen mindestens verwunderlich ist. Auch ein ausführlicher Exkurs dazu, wie sich die Mitarbeiterinnen der Zeitschrift zu dem sexistischen Frauenbild verhielten, wäre angesichts des Fokus auf den Bereich Gender interessant gewesen. Hier wären an manchen Stellen ein paar kurze Abzweigungen vom eng gefassten Kernthema der Studie hilfreich, um diese Bereiche zusätzlich zu erhellen.

Steenbock legt ihren Schwerpunkt vor allem darauf herauszuarbeiten, wie aus der Verquickung von literarischem Journalismus, New Journalism, Pop(musik)journalismus und Boulevardpresse in der Tempo die Grundlagen für das entstanden, was in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zur deutschen Popliteratur erklärt wurde. Und das gelingt sehr gut. Sie macht diese Bezüge unter anderem an zwei literaturkritischen Texten von Christian Kracht fest, in denen er Andreas Neumeisters Roman Ausdeutschen (1994) und Uwe Timms Kopfjäger (1986) rezensiert. An beiden Texten zeigt Steenbock, wie Kracht die üblichen Grenzen einer Rezension überschreitet und stattdessen beinahe selbst literarisch die Bücher, ihre Autoren und sich selbst in Szene setzt, wodurch bereits Anklänge an seine späteren Romane erkennbar sind. In ihrem Fazit kommt sie zu dem Schluss, dass die Popliteratur, die häufig „von der transatlantischen Übertragung der Beatliteratur im Deutschland der späten 1960er Jahre her rekonstruiert“ wird, zusätzlich noch aus einer anderen Quelle gespeist wurde: dem New Journalism in Zeitgeistmagazinen wie vor allem Tempo. Damit rekonstruiert sie in dieser informativen und gut recherchierten Studie einen wichtigen Bereich, der bisher in der Betrachtung der deutschen Popliteratur um 2000 häufig vernachlässigt wurde. Wie elementar die Geschichte des deutschen Zeitgeist-Journalismus der 80er/90er Jahre und insbesondere der Tempo für Teile der deutschen Gegenwartsliteratur ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass etliche der Mitarbeiter*innen bis heute heute bei renommierten Verlagen veröffentlichen.

Zeitgeistjournalismus heute

Fragt man sich über Steenbocks Studie hinaus, wie Zeitgeistjournalismus im Jahr 2020, fast ein Vierteljahrhundert später, aussieht und wo man vielleicht Einflusslinien von Tempo findet, stößt man fast automatisch auf den Lifestyle-Journalismus der deutschen Ausgabe des Magazins Vice, die für sich mit dem Slogan Unbequemer Journalismus wirbt. Gerade mit Blick auf Vice fällt auf, wie sich hier die thematischen Schwerpunkte und die Haltung dazu gegenüber Tempo verlagert haben, nicht aber der stilistische Grundtenor der Berichterstattung. Sexuelle Diversität, Drogenkonsum und linkspolitische Themen machen bei Vice das Gros der Texte aus, wodurch gesellschaftlich relevanten Themen Aufmerksamkeit zukommt. Damit einhergehend fällt auch bei Vice eine starke Tendenz zum Spektakulären und Reißerischen auf; eine Tendenz, die sich aber, wie im Falle der Undercover-Reportage bei “Kollegahs Alpha Armee”, zuletzt durchaus auch mit journalistisch hochwertigen und dennoch zeitgeistrelevanten Reportagen verbindet, vielleicht eine Tendenz vom Postheroischen zurück zum Heroischen. Allerdings stehen New-Journalism-Reportagen wie der Selbsterfahrungsbericht einer Vice-Reporterin, die 24 Stunden allein auf einer Berghütte verbrachte, dem Friseur-Besuch von Eckhart Nickel in der Tempo-Ausgabe vom Februar 1996 an überaufgeregter Erkenntnislosigkeit in Nichts nach.

Eine andere Schiene des Einflusses ist vielleicht weniger offensichtlich, aber dahingehend aussagekräftiger, wie sich Zeitgeist heute in den Medien zeigt. Dieser Weg führt über die Late-Night-Show von Harald Schmidt und seinem Autor*innenteam zu dem Satire-Journalismus mit Aufklärungsanspruch eines Jan Böhmermann. Der schrieb, genau wie Pop-Autor Benjamin von Stuckrad-Barre (der für ein Tempo-Engagement zu jung war, 2006 aber an der Sonderausgabe mitarbeitete) einst als Gag-Autor für die Harald-Schmidt-Show und arbeitete außerdem lange Jahre mit der Autorin aus dem Tempo-Umfeld Sibylle Berg zusammen. (Es sei am Rande erwähnt, dass sich eine weitere Gemeinsamkeit darin zeigt, dass Böhmermann wie auch die meisten ehemaligen Tempo-Autor*innen beim Verlag Kiepenheuer & Witsch beheimatet ist.) Im Neo Magazin Royale zeigte sich über die letzten Jahre, wie journalistische Arbeit am Zeitgeist in der Tradition der Tempo heute aussehen kann. Ebenso wie das Neo Magazin (Royale) zwischen 2013 und 2019 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, brachte die Tempo einen strukturellen und thematischen Aufbruch in ein altes System und versuchte sich auch an satirischen Coups, die denen ähnelten, die Böhmermanns Sendung teilweise über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt machten. 1987 schlug die Tempo-Redaktion Bürgermeistern Arbeitslager für HIV-Infizierte anhand von Bauplänen des KZ-Sachsenhausens vor und in der Sonderausgabe 2006 bot man mehreren Prominenten und Politiker*innen eine Ehrendoktorwürde für eine Nationalakademie an, in deren Statuten sich Zitate aus Hitlers Mein Kampf  und dem Wahlprogramm der NPD befanden.

Während Diedrich Diederichsen für die 80er/90er Jahre einen postheorischen Zeitgeist ausmachte, liegt es nahe in den letzten Jahren wieder eine Verschiebung zum Heroischen zu erkennen: Die Popularität klarer Bekenntnisse gegen Rassismus, Sexismus und generell gegen jegliche Form der Diskriminierung und die Aufmerksamkeit für diese Themen sind nicht nur positive Entwicklungen, sondern sie entsprechen auch einem Zeitgeist, der politische und gesellschaftliche Haltung innerhalb eines bestimmten sozialen Milieus wieder aufs Tapet gebracht hat. Eine Sendung wie das Neo Magazin Royale war dabei unter heroischen Vorzeichen, strukturell aber ähnlich wie Tempo vor etwa 30 Jahren, sowohl Profiteur als auch Katalysator dieser gesellschaftlichen Stimmung in einem urbanen und formal gut gebildeten Teil der 20- bis 40-jährigen Bevölkerungsschicht. Gleichzeitig zeigte sich aber auch im Umfeld der Show von ZDF-Neo, dass es sich in erster Linie um ein Abstecken des Zeitgeistes von vorrangig jungen, privilegierten, weißen Männern handelte. Man kann daher vielleicht von Glück sagen, dass sich der Zeitgeist der sozialen Schicht, die Tempo machte und las, in den 2010er Jahren in eine positive Richtung entwickelt hat, sodass diese Art der Arbeit am Zeitgeist beim Neo Magazin Royale wenigstens eine anti-diskriminatorische Richtung eingeschlagen hat.

Vor 14 Jahren hingegen traten Teile der alten Tempo-Redaktion zusammen mit Gesinnungsgenossen wie Benjamin von Stuckrad-Barre und Ulf Poschardt selbst noch einmal an, um den Zeitgeistjournalismus à la Tempo ins 21. Jahrhundert zu wuchten. Das zumindest war das erklärte Ziel des fast 400 Seiten starken Magazins, das ich 2006 in die Hände bekam oder das, wie es im Spiegel hieß, den Leser*innen auf den Schreibtisch „krachte”. Was an dem Heft im Nachhinein vor allem auffällt, ist die konsequente Selbstzentriertheit, von der aus hier auch eine erweiterte Tempo-Redaktion auf die Welt blickte: „33 Wahrheiten” will man verkünden und auf 13 Seiten wird mit dem Prinzip Top oder Flop über zahllose Menschen von Jassir Arafat über Claus Peymann, Thomas Bernhard und Lady Di bis hin zu Westbam in jeweils zwei Sätzen ein Urteil gefällt. Sogar Maxim Biller durfte nochmal mit 100 Zeilen Hass ran. Außerdem listete man auf, was in den zehn Jahren seit 1996 passiert war und was in den kommenden zehn Jahren bitte passieren sollte, ganz so als sei Tempo tatsächlich der Mittelpunkt des bundesrepublikanischen Denkens, für den man sich seit 1986 hielt – selbsterklärte zeitgeistige Diskursmacht eben. Angesichts des personell langen Arms von Tempo in die Gegenwart, wünscht man sich da, dass der Tempo-Gründer Peichl mit seiner Aussage im Editorial der Sondernummer recht behält, dass es etwas wie Tempo „so nicht mehr gibt und gar nicht mehr geben kann.”

 

Photo by Jason Leung on Unsplash

Die zwei Seiten von Law & Order – Über die kulturelle Diskrepanz von Bildern

von Sandra Beck

 

Es klafft ein Abgrund zwischen zwei Arten von Bildern – zwischen den mit Handykameras aufgezeichneten und live gesendeten Aufnahmen brutaler Übergriffe US-amerikanischer Polizist*innen und den in Serie geschalteten Fiktionen der police procedurals, den zahllosen Kriminalserien und -filmen, mit ihren empathischen, allzu menschlichen Ermittler*innen. Kathryn VanArendonk referiert dieses Nebeneinander von faktualen und fiktionalen Bildern in ihrem Artikel „Cops Are Always the Main Characters“:

At 8 p.m. on Saturday, at the same time CNN, MSNBC, and FOX News were airing live coverage of the nationwide protests against police violence, cable audiences also had other options for what to watch. On PopTV, there was a marathon of NCIS: New Orleans. On WE, Criminal Minds. On WGN, Blue Bloods. On Ion, Law & Order: SVU. And on USA, a marathon of Chicago PD that began 11 hours earlier and continued until Sunday morning, followed by an episode of CSI.

Die Wahlmöglichkeit zwischen faktualer Dokumentation und fiktionaler Repräsentation ist in dieser Zuspitzung auch eine Wahl zwischen politischer Information und Teilhabe am Zeitgeschehen einerseits, und einem eskapistischen binge watching andererseits. Die Zuschauer*innen der procedurals werden buchstäblich auf das heimische Sofa gebannt – in einer Haltung konsumierend-identifikatorischer Stillstellung, die jedwede gesellschaftspolitische Aktivität unterbindet. Es ist der Gegensatz zwischen der Konfrontation mit einer gesellschaftlichen Realität am „Siedepunkt der Enttäuschung“ und dem Versprechen immer neuer (Er-)Lösung in knapp 45 Minuten. Ein Wechsel des TV-Programms von der Fiktion zur Realität setzt das Publikum einer kategorial anderen als-ob-Erfahrung aus: imaginär nicht mehr Teil des Polizeikorps, seiner Geschichten und seines Wertekosmos zu sein, sondern plötzlich als ‚die Anderen‘ den geschlossenen Reihen der „dedicated detectives“[1] gegenüberzustehen. Adrian Daub hat diese Zusammenhänge im Blick, wenn er die eskalierenden Proteste mit der zur Kenntlichkeit entstellten Glorifizierungsfloskel der Serie Law & Order: Special Victims Unit kommentiert:

Der Abgrund zwischen den Bildern ist auch deswegen schier unüberbrückbar, weil kriminalliterarisches Erzählen in den ungemein beliebten police procedurals kaum von Korruption, systemischem Rassismus und Polizeigewalt erzählt. Obwohl diese Leerstellen von TV-Produktionen wie When They See Us (2019, Netflix) oder dezidiert multiperspektivischen Erzählformaten wie American Crime (2015–2017, ABC) nach und nach gefüllt werden, folgt die Masse der in Serie gegangenen Kriminalerzählungen einer anderen Logik. Ihre Erzählstruktur ist darauf zugeschnitten Zuschauer*innen zu überzeugen, sie würden als Teil der Polizei ähnlich denken, fühlen und handeln. Damit steht die Frage nach den gesellschaftspolitischen Auswirkungen der police procedurals als einer Schule der Empathie im Raum. Zentrales Ziel dieses Curriculums scheint es zu sein, kritische Systemfragen umso nachhaltiger auszublenden, je ausführlicher über die emotionalen Belastungen der Ermittler*innen gesprochen wird.

Vor diesem Hintergrund aktualisiert sich mit neuer Schärfe eine bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführte Debatte über den ästhetischen und ethischen (Un-)Wert eines Genres, das traditionell den Anspruch erhebt, nicht nur realistisch zu erzählen, sondern auch realistisch zu sein. Die Vorstellung, es handele sich um ein besonders wirkungsvolles Erzählformat mit direkten, handlungsanleitenden Effekten auf die außerliterarische Wirklichkeit, lässt den Genrekonsum immer wieder verdächtig werden. So stellte etwa Béla Balázs 1922 in der Roten Fahne den Detektivroman aus marxistischer Warte als „Schlacke kapitalistisch-kleinbürgerlichen Denkens und Empfindens“ vor. Die Detektivfigur erscheint folgerichtig als „heilige[r] Georg der besitzenden Klasse“.[2] G.K. Chesterton dagegen pries das Genre in seiner Defence des detektivisches Erzählen von 1901 als „agent of the public weal“. Denn es konzentriere unsere Aufmerksamkeit auf jene „unsleeping sentinels, who guard the outposts of society“, die Chesterton gar als „knight-errantry“ verstanden wissen will.

Man muss diese romantisierende Überhöhung der Ermittlerfigur in der modernen Großstadt als Rezeptionsvorgabe ernst nehmen. Nur so lässt sich die Signatur kriminalliterarischen Erzählens in der Gegenwart verstehen – eine monoperspektivische Verengung auf die Wahrheit der Ermittlungsbehörden und die sie narrativ absichernde Affektpolitik. Vom einstigen Streben der (spät-)aufklärerischen Kriminalerzählung, die ‚innere Geschichte‘ der Verbrecher*innen im empathisch gespannten Blick auf die Umstände der Tat zu entschlüsseln, ist wenig geblieben.[3] Statt die Wahrheit der Täter*innen in prototypischen Beicht- und Geständnisszenarien aufzuzeichnen und die Umstände der Tat zu bedenken, wendet sich das Genre einseitig der Aufklärungsgeschichte und den Techniken der Wahrheitsfindung zu. Die Schuldigen sind allenfalls noch anwesend in den von ihnen verursachten materiellen Einprägungen in die Objektwelt, die es als Spuren der Tat zu deuten gilt. Nur die Ermittler*innen dürfen in diesen Erzählungen ‚echte‘ Menschen sein, die Gejagten und zu überführenden Schuldigen sind reine narrative Mittel.

Zu beobachten ist ein programmatischer Blickwechsel von der anthropologisch grundierten Analyse des verbrecherischen Herzens zu den Tiefen der Ermittlerseele. Während die Sherlock Holmes-Erzählungen Arthur Conan Doyles in ihrer anti-psychologischen Zuspitzung ein Gleichgewicht gefunden hatten zwischen der Detektivfigur als „Personifikation der ratio“ und den allenfalls mit „Seelenfetzen“[4] ausgestatteten Täter*innen, zieht im weiteren Verlauf der Genreentwicklung die ehemals als „Sachwalter des fragenden Lesers“[5] funktionalisierte Figur immer mehr narrative Energien auf sich. An die Stelle der thinking machine, die schon Friedrich Glauser als „Schlaumeier mit der Blümchenlösung im Knopfloch“[6] verspottete, treten Ermittler*innen mit einem Privatleben und einer Geschichte.

Wir wissen mehr über die kompliziert Beziehung Kurt Wallanders zu seiner Tochter als uns lieb sein kann (Henning Mankell), wir sitzen mit der Familie Brunetti regelmäßig am Abendbrottisch (Donna Leon), wir wissen um die traumatischen Versehrungen alkoholsüchtiger Ermittlerinnen (Oliver Bottini) – anders formuliert: Die Detektivfiguren treten uns mittlerweile nicht mehr als flache Typen, als strikte narrative Verkörperung von Rationalität entgegen, sondern präsentieren sich als ausgearbeitete, vielschichtige Charaktere, die von privaten Sorgen und beruflichen Belastungen emotional und psychisch betroffen sind. Es ist nicht mehr allein die Rätselspannung des whodunit und whydunit, die Lektüregenuss verspricht. Vielmehr laden ebenso die in ihrer individuellen Betroffenheit und Verletzlichkeit gezeigten Detektivfiguren zu identifikatorischen Lektüren ein.

Diese Konzentration auf die Ermittlerseelen hat ihren Preis, wie VanArendonk betont: „As TV viewers we are locked inside a police perspective, harnessed to their needs, desires, and daily rhythms.“ Während uns die Untersuchungsrichter-Erzählungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts Ermittlungsfiguren zeigten, die in einem beständigen Widerstreit zwischen subjektiver Anteilnahme und als Amtspflicht verordneter Objektivität mit einem von Tränen getrübten Blick ein Verbrechen zu lösen versuchten, kennen die police procedurals der Gegenwart diese Ambivalenz vornehmlich als folgenreiche Emotionalisierungsstrategie.  

Sie spielen in einer fiktiven Welt, in der Polizeibeamt*innen durch juristische Regelungen oder die Intervention von Journalist*innen und Vertreter*innen von Interessengruppen oder inkompetente Vorgesetzte in einem schwerfälligen bürokratischen Apparat an der effizienten Ausübung ihres Jobs gehindert werden. In diesem Erzählkosmos ist eine peinliche Einhaltung der Dienstvorschriften der Wahrheitsfindung ebenso abträglich wie öffentlicher Druck. Moralisch aufgefangen wird diese Repräsentation, indem die mit einem biographischen Hintergrund ausgestatteten Ermittler*innen auf einen individuellen Wertekosmos verpflichtet werden. Allein ihrem Privatethos ist es zu verdanken, wenn auch diejenigen Fälle verfolgt werden, die andernfalls vom System mit einem gleichgültigen Achselzucken fallen gelassen würden.

In Folge dieser Modellierung der Polizeibeamt*innen als selbstlose, um gerechte Bestrafung ringende Retter, die in ihrer Arbeit bis an die Grenzen der psychischen und physischen Belastbarkeit gehen, während sie mit ihren individuellen Dämonen ringen, erscheinen Transgressionen und Rechtsbrüche als bedauernswert, aber eben auch notwendig. 

Die serielle Taktung von Formaten wie Law & Order: Special Victims Unit– seit 1999 mit aktuell 472 Folgen in 21 Staffeln, 2020 um drei weitere Staffeln verlängert – bedingt zusätzlich, dass die Täter*innen kaum psychologisches Profil gewinnen, während wir die Vertreter*innen der Polizei und der Staatsanwaltschaft nach und nach als alleinerziehende Adoptivmütter, in Scheidung lebende Ex-Marines, trockene Alkoholiker oder an Spielsucht leidende Menschen kennen lernen. Kurz: Police procedurals sind der in Serie gegangene Beleg, dass man jene von Vince Gilligan für Breaking Bad formulierte Frage: „We want to make people question who they’re pulling for, and why“ unausgesprochen stellen und gleichzeitig unterdrücken kann.

Denn police procedurals haben uns kontinuierlich gezeigt, dass ein erfolgreicher Abschluss von Ermittlungen und ein juristischer Schuldspruch durch den Bruch verfassungsmäßig garantierter Rechte erreicht werden kann. Sie haben uns wieder und wieder vor Augen geführt, dass allein die biographisch bedingte Anteilnahme der einzelnen Ermittler*innen und ihr zufälliges Engagement entscheidet, ob eine Anzeige weiter verfolgt wird. Sie erinnern uns in Serie, dass nur das individuelle Ethos der Serienermittler*innen die selbstgerechte Anmaßung ausbalanciert, für den Dienst an der Wahrheit sich von den eigenen Vorurteilen leiten wie auch den eigenen Emotionen von Frustration, Verzweiflung und Wut ihren Lauf zu lassen.

Sie haben ein Erzählmodell popularisiert, in dem nur die Distanzierung von den eigenen Anwält*innen und vollumfängliche Kooperation mit den Behörden ein angemessenes Urteil ermöglicht. Angesichts der emotional aufgeschlossenen, affektiv ansprechbaren und empathischen Ermittler*innen der SVU in ihrer Doppelrolle als Mitmenschen und Amtsinhaber*innen und eingefangen von diesen erzählstrukturellen Emotionalisierungsstrategien ließ sich die Frage verdrängen, was passiert, wenn sie Menschen nicht mögen, wenn sie sich nicht mit ihnen identifizieren, wenn sie an ihnen schuldig geworden sind.

Versteht man die entworfenen Bilder der cop shows als gesellschaftspolitische Wunschbilder, so bleibt ein widersprüchlicher Befund. Die Tatsache, dass die wiederkehrenden Fälle von rassistischer Polizeigewalt mit privaten Handykameras aufgezeichnet und so für die Öffentlichkeit sichtbar werden, in den am Standard-Format des Law & Order-Franchise orientierten police procedurals aber kaum eine Rolle spielen, lässt nicht nur die Schlussfolgerung zu, dass die Schule der Empathie für Systemfragen keinen Erzählraum schaffen will und soll. Denn folgt man der internen Logik dieser Erzählformate, so legen die aus politischen Gründen gezielt ausgeblendeten Themen in der erzählten Welt eine beunruhigende Wahrheit offen. Wenn die Aufklärung von Verbrechen derart umfassend individuellem Engagement anheimgestellt wird, wenn die Aufnahme von Ermittlungen so sehr auf der kontingenten Bereitschaft fußt, zwischen sich und den Opfern ein Gemeinsames zu entdecken, dann lässt sich die mangelnde Auseinandersetzung mit Korruption, Korpsgeist und Rassismus auch verstehen als ehrliches Eingeständnis einer erschreckenden Wahrheit: They just don’t care.

 

 

 

[1] „In the criminal justice system, sexually based offenses are considered especially heinous. In New York City, the dedicated detectives who investigate these vicious felonies are members of an elite squad known as the Special Victims Unit. These are their stories.“

[2] Béla Balázs: Der Detektiv-Roman [1922]. In: Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton (1918–1933). Hrsg. von Manfred Brauneck. München 1973, S. 146–149, hier S. 148 und S. 147.

[3] Wie immer gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Romane Tana Frenchs etwa zeichnen sich gerade durch ihren psychologisch genauen Blick für die Vorgeschichte der Tat aus.

[4] Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Eine Deutung [1922]. In: Ders.: Werke, Bd. 1. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Frankfurt/Main 2006, S. 107–212, hier S. 141 und S. 127.

[5] Richard Alewyn: Anatomie des Detektivromans [1968/1971]. In: Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München 1998, S. 52–72, hier S. 60.

[6] Friedrich Glauser: Offener Brief über die „Zehn Gebote für den Kriminalroman“ [1937; unpubliziert]. In: Ders.: Gesprungenes Glas. Das erzählerische Werk. Bd. IV: 1937–1938. Hrsg. von Bernhard Echte. Zürich 1993, S. 213–221, hier S. 218.

 

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