Autor: Tilman Winterling

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

[Atelier NRW] Lissabon liegt in Trümmern – Fakten in der Fiktion: Erzählen als Werkzeug des Begreifens

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch
Nabelschau von Yannic Han Biao Federer
Ans Ende schreiben von Gunther Geltinger
Leben, um zu schreiben – schreiben, um (davon) zu leben? von Juliana Kálnay
Ein Mantel aus Papier von Albert Weiden

von Husch Josten

Tom’s Café an der Ecke. Frau Pfeiffers Keller. Josephs Liebschaften. Wittgensteins Ledertasche. Attribute und Accessoires meiner Romanhelden. Doch nichts davon gehört wirklich mir. Gedanken, Geschichten: Dem Kopf entfleucht, der Hand entzogen; geistiges Eigentum heißt es, aber es ist weitergereicht und geteilt, schnell dahin, fort. Gelesen, rezipiert, weitererzählt, interpretiert, belobhudelt, bekrittelt. Meins, und doch nicht mehr ganz meins. Jedes Wort, das geschrieben, jede Begebenheit, die erzählt wurde — fort und dahin. Neuerdings behalte ich, wenn ich vor Publikum lese, trotzig Worte ein. Stickum. Entziehe den Zuhörern einen Satz oder zwei. Rettungsversuche.

Natürlich ist das abwegig! Da ist nichts zu retten, Wörter einbehalten bringt dem Geist das Eigentum, die Fiktion, nicht zurück, zumal der Originaltext nachzulesen ist, schwarz auf weiß und digital. Er ist gedruckt und hochgeladen. Ein Faktum. Er wird ver- und gekauft, für beides ist Freude und Dankbarkeit zu zollen, die Menschen könnten schließlich anderes verkaufen und kaufen. Zuckerwatte beispielsweise. Wertpapiere. Oder zertifiziertes Biogemüse. Und damit hätten sie nichts falsch gemacht und könnten sehr zufrieden sein. Aber sie verkaufen und kaufen Worte, wozu Verleger, Lektoren, Buchhändler, Schreiberinnen und Schreiber im Allgemeinen beglückwünscht werden, man ihnen auf die Schultern klopft: der Kultur wegen. Da kaufen also Menschen Worte, kaufen die Welt aus dem Kopf eines anderen Menschen und ahnen nur, dass sie damit auch einen Anteil dieses Menschen erstanden haben, seinen persönlichsten sogar: die Phantasie, und dass sie diesen Teil des anderen damit zu einem Teil ihrer selbst machen. Für sie sind es ein oder zwei Geschichten unter abertausend anderen Geschichten, die man kaufen kann am Kiosk, auf Büchertischen oder bei Netflix, was insgesamt großartig ist, wer wollte das bestreiten? Und schließlich vervollständigen Leser, Zuhörer und Zuschauer überhaupt erst Buch, Hörbuch, Film… Keine Geschichte ohne Leser. Keine Geschichte ohne Zuhörer. Keine Geschichte ohne Zuschauer.

Aber: Existiert die Geschichte tatsächlich nicht, wenn sie niemand liest, wenn sie — sagen wir — einfach nur so daliegt zwischen ihren Buchdeckeln? Und falls das so ist: Wann, wo und wie lange genau war die Geschichte eigentlich nicht-existent, also rein fiktiv? Etwa nur solange, wie sie nirgendwo sonst existierte als — unentdeckt — im Kopf ihres Gestalters? Oder anders ausgedrückt: Wann hört eine Geschichte auf, fiktiv zu sein, und fängt an zu sein?

Hier gehörte nun ein ebenso ordentlicher wie mühseliger Abriss des theoretischen Diskurses über den Unterschied zwischen Fiktionalität und Fiktivität hin, doch bleiben wir einen Augenblick bei der zuerst aufgeworfenen Frage: Machen erst die Gedanken der anderen, fügt erst die Rezeption durch einen anderen Geist die Geschichte zu einer Geschichte, zu einem Fakt? Indem sich also Schreiber und Leser in einem unausgesprochenen Pakt auf eine bestimmte Wirklichkeit einigen? Ist eine Geschichte lediglich eine nichtssagende Vielzahl an Worten, so lange niemand sie kennt, so lange kein anderer Geist sie aufnimmt? Und diese Worte hier, jedes einzelne: nur gültig, da sie geschrieben werden und die Leser mit dem Kopf schütteln machen, jetzt, da man beginnt, an der Vernunft der Verfasserin zu zweifeln und sich zu fragen, wohin dieser Text überhaupt will, dieser Text einer, die es sich doch nicht anders ausgesucht hat?

Es gibt ein Missverständnis über Fiktionatorinnen und Fiktionatoren, die es im Duden so selbstverständlich nicht gibt, in der Welt da draußen aber schon (Fakt): das Missverständnis, dass sie sich aussuchen, was sie erfinden, wobei „Erfundenheit“ laut Definition zu den wesentlichen Eigenarten fiktionaler Darstellungen gehört. Wenig hülfe es, gegen den Lärm der Gegenargumente „So ist es nicht!“ zu rufen. Gleichwohl der Versuch: „Nein. So ist es nicht! Das sucht man sich nicht wirklich aus.“ Es gilt, dieses Andersherum zu erklären: dass die Geschichten Schreiberin und Schreiber umkreisen, sie gleichsam umzingeln und nicht davonkommen lassen; dass sie aufs Papier drängen, was die Erfindungen laut und deutlich und, wenn es sein muss: jahrelang sagen. Nur eines können Geschichtenerfinder sich aussuchen: wann genau sie einknicken und nachgeben und die Fiktion zu einem Fakt machen. Wann sie die Welt loslassen, die nur eine Zeitlang tatsächlich ihre war.

Andererseits: welch Illusion! Töricht geradezu. Die Geschichten kommen nicht von selbst. Sie werden gestohlen und die Diebe sind die Geschichtenmacher selbst. Sie stehlen aus unzähligen Augenblicken, aus Bruchstücken gesprochener Sätze, aus Versatzstücken verschiedener Räume, aus Assoziationen, Träumen, Begegnungen, Zeitungsartikeln, aus der Historie, aus dem Anblick von Spinatsuppe, sie schöpfen aus dem Geruch des Parkhauses, aus dem Faltenwurf des Mantels der Sitznachbarin; sie stehlen aus Fakten, bedienen sich aus den Regalen des Alltags und der Politik, stehlen aus allem, einfach allem, was sie brauchen für Tom’s Café an der Ecke. Für Frau Pfeiffers Keller, Josephs Liebschaften, Wittgensteins lederne Aktentasche. Vielleicht ist Fiktion vor allem die gelungene Sammlung inspirierter Wirklichkeiten — präzise zu unterscheiden vom Fake, der Fakten absichtsvoll fälscht —, denn wo das geistige Eigentum seinen Anfang nimmt, ist allenfalls umständlich zu definieren, während es Künstlern im Augenblick des Schaffens klar zu sein scheint: Das geistige Eigentum umfasst die Schöpfung des menschlichen Intellekts, im Falle von Schriftstellerinnen und Schriftstellern den Moment, in dem die Hand nach dem Stift greift und niederschreibt, was vorher nur Gedanken waren. Gedanken und Wahrheiten. Gedanken und Eindrücke. Gedanken und Bilder, Nachrichten, Historie, Wissenschaft, Erinnerungen, Reisen… Vor allem aber das, was das geistige Eigentum einzigartig und wertvoll und schützenswert macht: Gedanken und Gefühle.

Denn eine Geschichte besteht vor allem daraus, wie die Welt durch Fiktionatorinnen und Fiktionatoren nachgefühlt, vorgefühlt oder erfühlt wird. Allein aus dem Gefühl heraus ersinnen sie eine neue Welt, phantasieren sie herbei und machen sie mit dem richtigen Handwerkszeug zur Wirklichkeit der Erzählung. Eine Geschichte besteht, wie Nadine Gordimer es in ihrem Essay „Adams Rippe. Fiktionen und Realitäten“ formulierte, aus „Halbwahrheiten, Halblügen“. — „Ausgedacht: ja.“, meint auch der Schriftsteller Thomas Palzer, „Dem Leben entnommen: ja.“ — „Große Romanschriftsteller“, sagte Susan Sontag 2004 in ihrer Dankesrede zum „Literary Award“, „erschaffen eine neue, einzigartige, individuelle Welt — durch ihre Vorstellungskraft, durch eine überzeugende Sprache, durch handwerkliches Können — und reagieren auf eine Welt, die sie mit anderen  eilen, die vielen Menschen, eingeschlossen in ihrem jeweiligen Kosmos, unbekannt oder unverständlich ist.“

Die Phantasie ist die höchstpersönliche Vorstellungskraft einer/eines Einzelnen vor dem Hintergrund und auf der Grundlage dessen, was ihre/seine Welt und Wahrheit ist. Was ist und was sein soll, sein könnte, wird geschrieben, und immer geschieht beides gleichzeitig: das Geschehen und die Vorstellung. Immer geschieht diese Vorstellung im Hier und Jetzt, und vielleicht dient sie immer auch — selbst, wenn sie im Gewand des historischen Romans daherkommt — mal mehr und mal weniger gut dem Begreifen der Wirklichkeit.

„Wir brauchen Fiktion“, sagt die Hirnforscherin Susan Greenfield, „um Fakten zu verstehen.“ Das ist unbenommen, denn die Aneinanderreihung von Daten erzählt noch keine Geschichte. Und doch: „Wenn es ein Roman ist“, sagte Henry James, „muss eine Uhr darin sein.“ Was wiederum nicht zwangsläufig bedeutet, dass alles, was Daten innerhalb einer Reihe verbindet, Fiktion ist. Aber die Ereignisse einer Erzählung müssen zeitlich eingebettet werden in vertraute Tages-, Nacht-, Jahres-, Welt- oder Weltraumzeiten, müssen Anfang und Ende haben und alles, was dazwischenliegt. Eingebettet werden in eine Welt, die möglichst nachvollziehbar und vielen denkbar erscheint und ihren Ausgang nimmt in den Vorstellungen des Schöpfers, die gespeist sind von seiner Wirklichkeit, von Geschichten, die er gehört und gelesen, von Orten, die er gesehen hat. Und dann brauchen Geschichten vor allem dies, sagt Margaret Atwood: „Menschen, denen etwas geschieht“, nur dann sind sie brauchbares Personal für eine Geschichte. Denn tatsächlich zielt doch alles Schreiben auf ein Lesen, so, wie das Sprechen auf das Hören zielt. Schreiben ist ein sozialer Vorgang und hat — meist — Soziales zum Gegenstand. Erzählt wird von Menschen, die es — so oder so — miteinander versuchen: als Freunde oder Feinde, als Paare, als Gruppe, als Gesellschaft. Atwoods Charakteren geschieht in ihrem dystopischen Beststeller „Der Report der Magd“ denn auch Ungeheuerliches, doch sämtliche Repressionsmaßnahmen in ihrem fiktiven Terrorstaat Gilead, so hat sie in Interviews betont, hat es irgendwann gegeben: „Es gibt für alles, was ich in dem Buch beschreibe, historische Vorlagen. Etwa in Nazi-Deutschland, in Chile während der Dikatur Pinochets oder während der iranischen Revolution.“

Fiktionen erzeugen eine eigene — die fiktive — Welt. Und anders als in der realen existiert in dieser fiktiven Welt das Außen: die reale Welt, in der die fiktive erzeugt wird. Das eine kann nur werden und existieren, indem es aus dem anderen entsteht und in ihm ist. Fiktional also ist am Ende das fassbare Manuskript oder Buch, das so entsteht. Fiktiv ist alles, was darin erzählt wird. Doch wie weit Faktuales in die fiktive Welt hineinspielt, wie eng die Grenzen der Unterscheidung gezogen werden müssen, ist gelegentlich schwer festzulegen. Leicht fällt es, wenn Thomas Mann seinen „Zauberberg“-Protagonisten Hans Castorp die real existierende Zigarre „Maria Mancini“ rauchen lässt. Schwieriger wird es, wenn unzählige Fakten in einem Text verschwimmen, wenn die Realität die Fiktion nahezu undurchschaubar durchwebt etwa im Tatsachenroman, in dem reale Ereignisse auch prosaisch und fiktiv geschildert und ergänzt werden (können) und von denen nicht alle so klar „nicht-fiktional“ zu nennen sind wie etwa Truman Capotes „Kaltblütig“. Ein Buch, das dem Genre „New Journalism“ den Weg bereitete und die Leser vor allem mit einem versorgte: einem Hintergrund für die völlig unbegreifliche Tat zweier Mörder.

Natürlich gilt, wie oben gesagt, die Erfundenheit als wichtiges Merkmal fiktionaler Darstellungen, doch gibt es nicht wenige fiktionale Erzählungen, die auf tatsächlichen Ereignissen beruhen oder solche zumindest behandeln. Darstellungen, die die tatsächlichen Ereignisse unzweideutig faktual benennen, um sie herum aber Welt erfinden. Dies ist eine Grauzone, die in der Literatur zwar nicht selten zu finden ist, in der Literaturtheorie und -wissenschaft allerdings eher umständlich definiert wird und Verlage oft ratlos stimmt: in welche Schublade gehört das Manuskript? Wie soll man es am besten unters Volk bringen? Ja, wie? Was ist das Schlagwort, ohne das in Werbung und Marketing nichts zu gehen scheint?

„Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten)“, notierte Hannah Arendt in ihr Denktagebuch. Und meint damit vielleicht, dass nur in der Fiktion, im Phantasma — wenn Wirklichkeiten und Möglichkeiten miteinander verknüpft werden — Wahrhaftigkeit entstehen kann. 1595 sagte der englische Höfling, Soldat und Schriftsteller Philip Sidney in „An Apology for Poetry: Or: The Defence of Poesy“, dass gute Literatur wahrer sei als die faktuale Beschreibung. Vielleicht braucht es gerade dafür den Diebstahl aus der Realität, um die Fiktion kreieren zu können, die letztlich wahrer ist als die Wirklichkeit. Erst auf dieser Grundlage kann der Geist produzieren. Alles schreibt sich ab von etwas, das schon da war. Auch erzählerische Not kann durch Fakten gewendet werden, was keinesfalls heißt, dass, wer sich auf die Realität bezieht, artig nacherzählt, welche Probleme die Realität aufwirft.

Die Frage ist, ob eine Autorin oder ein Autor überhaupt jemals an den Geschehnissen ihrer und seiner Zeit vorbeischreiben konnte oder kann. Ob die Sprache — ganz ohne Zutun und bei allem redlichen Bemühen um das Gegenteil — nicht doch stets gefärbt ist vom Wissen um die Wirklichkeit So, wie Voltaire, als er von dem Erdbeben erfuhr, das 1755 Lissabon zerstörte, über die Gleichzeitigkeit der Ereignisse schrieb: „Lissabon liegt in Trümmern, aber hier in Paris tanzen wir.“ Wer einen solchen Satz notiert, davon darf man ausgehen, ist sich nicht nur seiner schriftstellerischen Verantwortung gegenüber der Literatur bewusst, sondern auch seiner Verantwortung gegenüber der Verfasstheit der Welt, die er in Fiktion zu fassen und neu zu erfinden versucht. Er nimmt wahr, was passiert; und was er wahrgenommen — was er gefühlt hat —, ist nicht auszulöschen. Es wird sich niederschlagen in allem, was er fortan schreibt, und es wird im Idealfall zum Begreifen der Geschehnisse beitragen. „Literatur ist Wissen“, sagte Susan Sontag in ihrer Dankesrede, „Wissen — wie beschränkt auch immer, wie alles Wissen. Doch ist sie nach wie vor einer der wichtigsten Wege, die Welt zu verstehen. (…) Der Schriftsteller reduziert die Fülle und Gleichzeitigkeit aller Dinge auf etwas Lineares, auf einen Pfad.“

Alle machen das – Über eine Plagiatsdebatte

Der gesamte menschliche Körper wurde inzwischen von sympathischen Mediziner*innen populärwissenschaftlich beschrieben. Vom Hirn über die Haut zur Blase ins Knie und zurück ins Herz wurde der Mensch kartografiert; immer auf der Suche nach dem neuen Darm mit Charme, dem über 2 Millionen mal verkauften Megaseller von Giulia Enders.

Was in den letzten sechs Jahren das sogenannte Meditainment war, das waren in den Neunzigern Bücher über die Wunderkraft von Urin oder Rip-Offs des Pferdeflüsterers, in den Nuller-Jahren hingegen versuchten alle, auf den Dan Brown-Mystery-Wissenschafts-Krimi-Zug aufzuspringen und in den Achtzigern stritten Johannes Mario Simmel und Michael Burk. Ganz zu schweigen von eher unter dem Aufmerksamkeitsradar fliegender Trivialliteratur, die seit Jahrzehnten mit nahezu identischen Plots die immer selben Themen durchkaut. Was früher im Bastei Heftchen am Bahnhof feilgeboten wurde, gibt es heute bei Amazon im eBook und auch die meisten Regionalkrimis werden nur nach Schema F zusammengebaut, also Handwerk statt Kreativität.

Die dahinterstehenden, eigentlich offensichtlichen, Mechanismen blenden die Akteur*innen des Betriebs oftmals aus. Denn bei aller Kollegialität zwischen Autor*innen und Verlagen, Dienstleister*innen und Buchhändler*innen wird gerne vergessen, dass es primär darum geht, Geld zu verdienen und zwar für alle. Da verbittet man sich dann zwar, ein Buch „Produkt“ zu nennen oder einen Verlag „Verwerter“ – die (wirtschaftliche) Realität ist aber eine andere. Das sollte  niemanden innerhalb oder außerhalb des Betriebes überraschen – ich arbeite auch am liebsten mit Mandant*innen zusammen, die ich mag, trotzdem müssen sie Geld für meine Arbeit bezahlen. Als Grund reicht da allein schon, dass ich lieber in der Sonne, als hinter dem Schreibtisch sitze und man mir eben diese Schreibtischzeit „abkaufen“ muss.

„Es ist leichter, mit Christus über die Wogen zu wandeln, als mit einem Verleger durchs Leben.“ Friedrich Hebbel

 

100 karten die deine sicht auf die welt verändernLetzte Woche machte der Chefredakteur des KATAPULT Magazins, Benjamin Fredrich, in einem launigen Editorial seinem Ärger Luft. Bei Hoffmann & Campe war Anfang 2019 das Buch 100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern von KATAPULT erschienen. Bereits auf der Messe im Herbst hörte man dann, dass das nächste Buch auf Grundlage des erfolgreichen Magazins bei Suhrkamp erscheinen werde. Für Verlagswechsel gibt es meist zwei Gründe: entweder man hat sich überworfen oder es geht um Geld – ein dritter ist denkbar: beides.

Fredrich berichtete letzte Woche also unter anderem von den unregelmäßigen Zahlungen Hoffmann & Campes, dem Streit über die Höhe einer angemessenen Beteiligung für das zweite Buch und einem unangenehmen Business Lunch.

Fredrich schildert öffentlich – in einer (nach außen) verschwiegenen, gleichwohl verklatschten Branche selten – sehr detailliert wie es (a.) zum Verlagswechsel kam und (b.) wie man sich während der Verhandlungen und im Nachgang überwarf.

102 grüne Karten zur Rettung der Welt katapult suhrkampDie Philippika Fredrichs liest sich, dem Genre geschuldet, etwas einseitig, macht aber auf das klassische Gefälle zwischen Urhebern und Verwertern aufmerksam. Auf der einen Seite sind die Produzenten von Inhalten und auf der anderen diejenigen, die diese Inhalte verkaufen. Das Gefälle entsteht dadurch, dass die einen in der Regel sehr viel mehr Geld und damit Verhandlungsmasse haben, als die anderen. Urheber sind dazu in der Regel sehr vorsichtig, man will ungern einen Verwerter verärgern, selbst dann nicht, wenn er einen schlecht behandelt. Nicht auszudenken, was einem entginge, wenn dieser Verwerter doch nochmal Lust hätte, einen gut zu behandeln. Also lieber Füße stillhalten. Zumal man auch Angst haben muss, dass andere Verwerter einen nicht mit offenen Armen aufnehmen werden, wenn man sich einmal einen Ruf als schwierig erarbeitet hat.

Fredrichs Schilderung des Verhaltens von Thomas Ganske ist dabei Sinnbild dafür, wie das Gefälle normalerweise aussieht. Der Chef der Unternehmensgruppe, zu der auch Hoffmann & Campe gehört, interessiere sich nicht für Bücher und Inhalte, er interessiere sich für Zahlen, will heißen Gewinn. Die laut Fredrich angebotene „undurchsichtige Geschäfts-Verschleimung zwischen KATAPULT und einem seiner tausend Verlage“ überrascht ebenso wenig und ist in solchen Konzernen Gang und Gäbe.

Dabei darf man  nicht vergessen, dass Fredrich nur deshalb die Möglichkeit hat, diese Missstände öffentlich zu machen, weil er es sich leisten kann. (Und es ist wichtig und richtig, dass er es tut!) KATAPULT läuft offenbar sehr gut und hat eine breite Basis an regelmäßigen Leser*innen und Fans. Man konnte HoCa guten Gewissens absagen, da nach einem Bestseller mit dem ersten Buch viele andere Verlage nach dem zweiten lechzen. Das wiederum sollte dann auch einen gestandenen Verleger wie Ganske nicht überraschen. 

„Die Verleger trinken Sekt aus den Hirnschalen ihrer Autoren.“ Arno Schmidt

gute karten deutschland wie sie es noch nie gesehen haben katapult

Der eigentlich Aufreger ist sowohl in Fredrichs Text als auch jetzt in der öffentlichen Diskussion aber, dass Hoffmann & Campe in Konkurrenz zum Suhrkamp-KATAPULT-Buch 102 grüne Karten zur Rettung der Welt (das grüne) einen Klon des ersten Hoca-KATAPULT-Buchs unter dem Titel Gute Karten – Deutschland, wie Sie es nie gesehen haben (das gelbe) von Tin Fischer und Mario Mensch veröffentlicht. Weil „der Markt das hergibt“ – Ganske laut Fredrich – ist dieses neue Kartenbuch auch 3 Euro teurer als das vorherige. Das ist an sich wenig verwunderlich, so hat sich das erste Buch (das blaue) wohl rund 70.000 mal verkauft und damit der Verwertungskette 1,5 Millionen Euro Umsatz beschert.

 

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Ebenso wenig verwunderlich ist aber auch Fredrichs Wut über die Art und Weise wie HoCa das neue Buch aufgemacht hat und bewirbt. Was aber nicht stimmt, ist die (überspitzte) Aussage Fredrichs Tin Fischer und Mario Mensch hätten das „gesamte KATAPULT-Buch“ kopiert.

Richtig ist wie Fredrich später aufführt:

– Das Cover hat das gleiche Format wie das erste Buch.

– Das Cover ist wie das erste Buch aufgebaut.

– Der Titel sollte ursprünglich eine KATAPULT-Kopie werden: 100 Karten, die ….

– Die Bücher haben das gleiche Text-Bild-Verhältnis.

– Der Grafikstil ähnelt stark dem von KATAPULT.

Justiziabel dürfte das – von außen betrachtet – nicht ohne Weiteres sein, jedenfalls nicht so eindeutig wie die Verletzung von Urheberrechten und Titelschutzrechten, die Fredrich ebenfalls in seinem Beitrag erwähnt und gegen die KATAPULT laut Editorial bereits vorgegangen ist. KATAPULT jedenfalls gründet jetzt einen eigenen Verlag und Fredrich gibt selbst noch zu, dass auch sie „früher mal Ideen und sogar Karten geklaut [haben], damit [sie] bei Facebook abfetzen.“

Wenn ich oben schreibe, dass es nicht verwunderlich ist, dass Fredrich erzürnt ist, stimmt das nur zum Teil, denn wirklich neu ist diese Art der Content-/Ideenbeschaffung weder von Verlagen noch von Kreativen ja nicht. Schon Goethe beklagte sich, dass auf dem Buchmarkt die Gesetze des Urwalds gelten; sobald der Autor sein Werk aus der Hand gäbe, sei es finanziell für ihn verloren. Das geschieht mal mehr oder weniger plump und offensichtlich, genauso mehr oder weniger erfolgreich, gleichwohl gilt leider weiterhin: alle machen das.

 

Beitragsbild von Adam Nieścioruk

Je demokratischer die Dummheit wird, umso elitärer dürfen sich die Kenner geben

„Wir fangen bei der Geburt an“, beginnt der langjährige Hanser Verleger Michael Krüger.

„Oder noch besser bei der Zeugung“, wirft Krügers Sidekick der ehemalige NZZ Feuilleton Chef Martin Meyer ein.

„Bei der Zeugung, ja, ja, genau“, holpert sich da auch Rüdiger Safranski ins Gespräch.

Happy Birthday!

Gesprochen wird bekanntlich viel, zum Glück wird das Wenigste für die Nachwelt festgehalten. Anders im Falle des Austauschs dieser drei Herren. Dass man dieses Gespräch aus dem April des letzten Jahres nun lesen kann, liegt wohl an dem Umstand, dass Rüdiger Safranski dieses Jahr 75 wird. Der Hanser Verlag veröffentlicht daher dieses mit so viel Zielstrebigkeit beginnende Buch als Mogelpackung unter dem Titel „Klassiker! – Ein Gespräch über die Literatur und das Leben“. Dabei geht es zuerst, anders als vom Verlag angekündigt, viel weniger um die Fragen

“Wie steht es um die Klassiker? Wie bewähren sie sich in einer Zeit, die einstige Gewissheiten unserer Kultur radikal in Frage stellt? Welche Rolle spielen sie noch auf dem Theater, für die private Lektüre?” 

sondern um das Leben, konkreter das Leben von Rüdiger Safranski.

Hmmm … Intellektuell.

Zur Einstimmung darf der Jubilar von der eigenen „wohl eiligen“ Zeugung in Königsberg berichten, die aufgrund des Timings zu einer „pränatalen Flucht vor den Russen“ in die „Diaspora“ (!) Rottweil führte. Safranskis Kindheitserinnerungen kommentiert Martin Meyer immer wieder mit ausgesprochen luziden und hilfreichen Einwürfen wie „Intellektuell.“ oder „Hmmm …“, einmal schlussfolgert er messerscharf: „Das Fröhliche stammt von Mutters Seite.“

Das Leben meint es aber nicht mit allen gut. Die gute Laune erhält einen ersten Dämpfer durch die gänzlich unfröhliche Geschichte eines Lehrers von Safranski. Dieser liebte zwar seine Arbeit sehr, hatte aber leider zuhause einen „ganzen Stall voller eigener Kinder und einen Drachen zur Frau“. Martin Meyer hat von solchen Frauen schon einmal gehört und kann daher bestätigen „Das kommt ja tatsächlich vor.“ Das knallt als Information erstmal ziemlich rein. Ebenso wie es – ganz anders als dem Lehrer – Paul Tillich erging; der war nämlich nicht nur Theologe, sondern „übrigens auch ein begnadeter Frauenversteher“. Das „weiß Gott“, weiß natürlich auch Michael Krüger und jetzt wissen es auch wir. Endlich!

Intellektuelles Opfer

Der kleine Rüdiger ging zur Schule, erfahren wir. War erst durchschnittlich, dann aber in den letzten drei Jahren „ziemlich gut […] lauter Einsen“. Und er war auch mal verliebt, wozu Meyer dem „Glückpilz“ gratuliert, ebenso dazu, dass sich später die Lebensverhältnisse ordneten, Krüger schließt sich an, findet das „wirklich schön“.

Nachdem diesbezüglich Einigkeit hergestellt wurde, geht Rüdiger in seiner Erzählung in Frankfurt studieren. Adorno, so erfährt man, hatte einen Assistenten, der einmal ans Mikrophon trat und ankündigte Herr Adorno würde heute etwas leiser sprechen, er sei erkältet. Safranski schlussfolgert konsequent (er kennt sich mit Philosophie aus):

„Das ist große Philosophie, wenn man das nicht mehr selber sagen muss, sondern der Assistent.“

Das ist sie also, die Liebe zur Weisheit, ein Assistent! Von Adorno und seiner „erotischen Aufmerksamkeit“ geht es dann für den Studenten von Frankfurt nach Berlin.

“RS: Genug Adorno. Ich ging von Frankfurt nach Berlin.
MK: Warum?
RS: Eigentlich nur, um mal nach Berlin zu gehen. Damals galt: Man musste einmal in Berlin gewesen sein.”

Junge Berlin Fans werden sofort einwenden, dass dies nicht nur damals so war, auch 55 Jahre später, sollte man einmal in Berlin gewesen sein. Rüdiger ist aber nicht nur in der heutigen Bundeshauptstadt gewesen, nein er hat dort sogar lange gewohnt. In Berlin, es ist 1965, beginnt um Safranski bald, „was man dann die 68er-Bewegung nannte“ und „dazu gibt es einiges zu sagen“. Klar, da denken wir alle mit Herrn Meyer an „Pop, Sex, Träume …“. Aber Safranski denkt gar nicht daran, dazu viel zu sagen, jedenfalls nichts Allgemeingültiges. Er hat nicht nur Pop, Sex und Träume gemacht, sondern auch Politik. Linke Politik! Doof aber, „die Organisation war hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt“. Das nervte damals den Studenten, das nervt heute den Leser, denn bisher sind Meyer, Safranski und Krüger hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt.

An das Studium schließt sich die Promotion an. Meyer hakt zur Safranskischen Dissertation nach, ob ihn das Thema wirklich interessiert habe. Kann man so wohl nicht sagen, denn der Doktorand empfand „das als intellektuelles Opfer“, das mag er sich und uns nicht verhehlen. Als intellektuelles Opfer möchte man auch die 60 Seiten bis hierhin bezeichnen. Die Herren haben sich jetzt aber erst richtig warm gequackelt.

Kunst unterm Gesichtspunkt des ökologischen Fußabdrucks

Bei der Besprechung des Studiums und der späteren Arbeit platzen immer mal wieder ein paar Bomben. Meyer, Krüger und Rüdiger sind sich unter dem Strich auch hier wieder einig: Früher war alles besser.

“[…] die Frage, was tust du als Künstler in einer Welt, in der es übel zugeht, hat ihre Suggestivität nicht verloren. Nicht mehr die Revolution ist Rechtfertigungsinstanz, sondern das sogenannte Humanitäre bis hin zur Weltrettung. Die Dienstverpflichtung der Literatur für das sogenannte „Gute“ ist inzwischen so selbstverständlich, dass es gar nicht mehr auffällt. Wehe auf die Kunst fällt der Verdacht der anrüchigen Gesinnung, der mangelhaften Weltrettungstüchtigkeit! Erst die Gesinnung, dann die Kunst. Für uns Maoisten gab es die Autonomie des Schönen nicht. Und heute hat man, mit anderen Begründungen, auch nur noch wenig Sinn dafür. Bald wird vielleicht auch die Kunst unterm Gesichtspunkt des ökologischen Fußabdrucks gesehen.”

Dass bei Hanser der ökologische Fußabdruck noch nicht über Kunst oder Unkunst entscheidet, ist dagegen offensichtlich; ein Glück für das Gesprächstrio. Mit etwas mehr Weltrettungstüchtigkeit wäre uns die Lektüre dieses Gesprächs, diese Gesprächskunst erspart geblieben.

Nun aber endlich zum Kern, auf den wir sehnsüchtigst warten: Literatur und Weinvergleiche, denn wir haben es hier mit drei echten Connaisseuren und Genießern zu tun, die sich entre nous über die schönen Dinge des Lebens austauschen:

„wenn man zusammensitzt und einen Pétrus trinkt, freilich selten genug, weil die Chinesen seinen Preis verdorben haben“

Drei Mann als kleine verwegene Schar der letzten Literaturliebhaber

Nach der Hälfte der 150 Seiten spricht man nun doch über Klassiker und was man so kanonisieren sollte oder nicht. Vorher war man ja nur um die Lektüren des heranwachsenden Safranski gekreist. Jetzt aber – wo es allgemeingültig wird – dürfen die drei Herren sich erstmal versichern, dass sie die Speerspitze der „kleinen verwegenen Schar der letzten Literaturliebhaber“ sind.

Dazu ist doch gar nicht schlecht zu wissen: Hat man einen (oder gar alle drei) der Diskutanten zu einem Abendessen geladen, dann kann man zumindest bei ihnen noch „auftrumpfen, [wenn] man sagt, Leute, hört zu, dieses Kapitel der Strudlhofstiege habe ich jetzt schon zum dritten Mal wieder gelesen und bin noch immer tief ergriffen.“ Denn das fehlt nicht nur Meyer bei jeder Gesellschaft, das fehlt dem ganzen Trio. „Früher wäre eine alte Dame auf dem Sofa daneben darüber in Tränen ausgebrochen. Alles vorbei.“ Offen bleibt leider, ob diese Ausrufe von Partygästen „früher“ tatsächlich vorkamen oder es auch damals nur ein frommer Wunsch war. Tempi passati.

Meyer empfiehlt daher nicht etwa, die Schulbildung zu überdenken, Leselisten zu erstellen oder Gäste vor der Einladung zum Literaturgeschmack zu befragen. Nein, solchen Hoffnungen gibt man sich gar nicht mehr hin. Meyer fühlt sich damit in seinem Zirkel der drei offenbar ganz wohl.

„[…] je demokratischer die Unbildung, vielleicht darf man auch sagen: die Dummheit, wird, umso elitärer dürfen sich die Kenner geben. Was wir hier ja auch tun …“

Rüdiger stimmt sogleich ein, und fordert seine beiden Mitstreiter dazu auf, sich nicht zu scheuen, auch mal Leute zu beschämen. Daher schlägt er vor, diese Dummköpfe zu entlarven. „Was, Sie kennen dieses Kapitel aus der Strudlhofstiege nicht, womit haben Sie denn Ihre Zeit verschwendet?“ Nicht auszudenken, wie heiter eine Abendgesellschaft durch solche Ausfälle und Bloßstellungen einzelner Dummköpfe aufgelockert wird. Klassismus zum Schenkelklopfen. Eines ist daher sicher: die drei haben gar keine Lust, dass jemand anders als sie selbst bei ihrem Literaturclub mitmacht.

Zum Ende des Gesprächs wird dann trotzdem über die Erweiterung des eigenen elitären Zirkels phantasiert. Safranski möchte gerne einladen, Meyer aber vorher eine „Eintrittsklausur“ veranstalten. Im Club soll nur sein, „wer es auch wirklich verdient“. Alle anderen sollen „wieder twittern oder Golf spielen oder ihre vegane Küche bespielen“. Man darf sich sicher sein, die Eintrittsklausur wird die Strudlhofstiege zum Thema haben. Man darf sich ebenso sicher sein, dass sich glücklich schätzen darf, wer bei dieser Veranstaltung nicht dabei sein muss. Man ist ja oft unzufrieden im Leben, aber jetzt kann man sich in Momenten des Missmuts wenigstens damit trösten, nicht an einem der schrecklichen hochkulturellen Männerabende von Krüger, Meyer und Safranski teilnehmen zu müssen. Frauen kommen eh nur zum Weinen dazu.

Inserat, Blumenstrauß und Pétrus

Runde Geburtstage sind wirklich etwas Feines; mehr Geschenke als üblich, je nach Beliebtheit gar ein Inserat in der Zeitung oder ein Blumenstrauß vom Arbeitgeber, endlich drucken die Enkel die biographischen Notizen, die man ihnen vor Jahren mit den Worten „falls Du irgendwann mal wissen willst, was Opa so in seiner Jugend gemacht hat“ in die Hand gedrückt hatte. Die Kleinstauflage von 15 Stück kann man dann an Freunde weitergeben. Ein Exemplar geht an die Lokalzeitung, weil ja auch eine Menge Stadtgeschichte da drin ist.

Bei den meisten Jubilar*innen erschöpft sich die Auflage eben in 15. Das Inserat sehen sowieso nur ein paar derer, die noch die Zeitung abonniert haben und die Blumen verwelken schnell. Hanser bietet dagegen dieses bräsige, ichbezogene und alle drei Herren entlarvende Salbadern für 18 Euro allen Leser*innen an. Die Enttäuschung darüber, nichts von dem zu finden, was in Aufmachung und Werbung versprochen wird, wiegt nicht so schwer, wie die darüber, dass sich in München drei Männer treffen, um sich selbst ihrer Großartigkeit zu vergewissern, elitäre Räume nach außen hin abzusichern und Hanser dies dazu noch druckt.

Hätte Hanser Safranski zum Geburtstag doch einfach nur eine Flasche Pétrus geschickt – aber die Chinesen haben ja die Preise kaputt gemacht.

Beitragsbild von Richard Boyle

Der Sänger: Lukas Hartmanns Roman über Joseph Schmidt

joseph schmidt der sänger lukas hartmann

In dem kleinen Dorf Dawideny, nahe Czernowitz, der Geburtsstadt Paul Celans, in der zu Österreich gehörenden Bukowina wird 1904 Joseph Schmidt geboren. Er ist der Sohn deutschsprachiger, orthodoxer Juden und singt bereits in jungen Jahren als Chasan (Kantor oder “Vorbeter”) in der Synagoge. Joseph Schmidt ist ein begnadeter Tenor, da er aber von recht geringem Wuchs ist, bleibt ihm die klassische Opernkarriere verwehrt. Stattdessen wird er vom Rundfunk entdeckt und im jungen Genre der “Rundfunkoper” ein Star. Sein Gesicht, aber vor allem seine Stimme, sind bald international bekannt.

Ein Lied geht um die Welt

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht ergreifen, ist Schmidt auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Einen Tag vor den Bücherverbrennungen in zahllosen deutschen Städten feiert der Film “Ein Lied geht um die Welt” Premiere. Im Ufa-Palast sitzen am 9. Mai dreitausend Zuschauer, unter ihnen Joseph Goebbels, der Schmidt gerne zum “Ehrenarier” ernennen würde, was der Sänger ablehnt.

Schmidt flieht am Tag nach der Premiere. In halb Europa ist er zu Gast, in den USA und Palästina. 1938 flieht er aus Österreich über Belgien nach Frankreich. 1942 flieht er von dort in die Schweiz.

Da ihm an der Schweizer Grenze der Grenzübergang verwehrt wird, übertritt er sie bei Nacht illegal. Er ist gesundheitlich stark angeschlagen und wird im Lager Girenbad – unter anderem zusammen mit Manès Sperber – interniert. Auf seine Arbeitserlaubnis wartend verschlechtert sich sein Zustand immer weiter. Im November stirbt Joseph Schmidt mit nur 38 Jahren in der Schweiz an Herzversagen. An den großen Star von einst erinnern sich heute nur noch Wenige.

“Der Sänger” von Lukas Hartmann

der sänger lukas hartmann joseph schmidt diogenes cover

Der Lebensgeschichte Schmidts hat sich nun der Schweizer Romancier Lukas Hartmann angenommen und diese fiktionalisiert in “Der Sänger” verarbeitet.

Der Roman beginnt 1942 in Frankreich mit den Vorbereitungen der Flucht in die Schweiz und reicht bis zu Schmidts Tod, verschränkt immer wieder mit den Erinnerungen des Protagonisten, des Sängers selbst, über die Hartmann dessen gesamte Biographie einführen kann, ohne den Rahmen zu verlieren.

“Hartmanns Schmidt” ist ein verlorener, gebrochener Mensch; tief verunsichert, um seine (wirtschaftliche) Existenz und sein Leben bangend, aufgerieben zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Als Sänger einer der Besten seines Fachs, ein Star, ein Frauenheld wird Schmidt im Exil unter widrigen Bedingungen auf die Notwendigkeit des bloßen Überlebens zurückgeworfen. Trost bieten nur die helfenden Hände, die sich Schmidt aus Sympathie oder aufgrund des Ruhms vergangener Zeiten entgegenstrecken, und doch nichts gegen den übermächtigen Feind ausrichten können.

Der Sänger überzeugt dabei als Roman nicht durchweg, mal mäandert Hartmann von Erinnerung zu Erinnerung, mal psychologisiert er bis zur Überzeichnung – dies aber sicher eine “Krankheit des Genres”, denn trotzdem ist “Hartmanns Schmidt” in sich konsistent und nicht unglaubwürdig.

Auch zwei Wochen nach der Lektüre geistert Schmidt und seine Musik noch durch die Gedanken. Dies liegt in erster Linie aber wohl an der Tragik Schmidts Lebens und nicht der herausragenden Qualität des Roman, der gleichwohl eine überaus solide Lektüre darstellt.

Eine lohnende Dokumentation zu Joseph Schmidts Leben findet sich auch hier:

Wem gehört Franz Kafka?

Erst im 13. Kapitel, auf Seite 205, führt Benjamin Balint tiefer in das Verhältnis und die Verwicklungen ein, die dieses Buch prägen: ein juristisches Verwirrspiel über Jahrzehnte, um einen der bedeutensten Nachlässe des letzten Jahrhunderts.

Als Franz Kafka 1924 an den Folgen seiner Tuberkulose stirbt, existieren zwei Testamente. In beiden bittet er seinen Freund Max Brod unmissverständlich, zumindest Teile seines Nachlasses zu vernichten. Brod, selbst ein produktiver Schriftsteller, Journalist, Kritiker und Komponist, ignorierte den Willen seines Freundes und hat Zeit seines Lebens die Werke Kafkas herausgegeben, editiert, interpretiert. Sein Einsatz führte dazu, dass die meisten von Brods Werken (bei Wallstein erschienen jedoch ausgewählte Werke; herausgegeben von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann in Zusammenarbeit mit Barbora Šramková und Norbert Miller) heute vergessen sind, nicht dagegen sein Einsatz für den Frühverstobenen.

[…] Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (in Zeitschriften Gedrucktes, im Manuskript oder in Briefen) ausnahmslos soweit es erreichbar oder durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist (die meisten Adressaten kennst Du ja, in der Hauptsache handelt es sich um Frau Felice M, Frau Julie geb. Wohryzek und Frau Milena Pollak, vergiss besonders nicht paar Hefte, die Frau Pollak hat) — alles dieses ist ausnahmslos am liebsten ungelesen (doch wehre ich Dir nicht hineinzuschauen, am liebsten wäre es mir allerdings wenn Du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand anderer hineinschauen) — alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich

Franz

Zweites Testament Kafkas vom 29.11.1922

Als Brod 1939, fünfzehn Jahre nach Kafkas Tod, vor den Nazis aus der Tschechoslowakei nach Palästina flieht, hat er einen Koffer voller Manuskripte bei sich. Während sich ein Großteil des eigenen Habs und Guts noch in Europa befindet, rettet er die aus seiner (und heutiger) Sicht wertvolleren Unterlagen ins Ausland; es sind die Handschriften und Zeichnungen, Briefe und Entwürfe Kafkas.

Nun kann man durchaus zweifeln, ob ein Nachlassverwalter, der sich über den letzten Willen des Verstorbenen hinwegsetzt und den Nachlass statt ihn zu vernichten, an sich nimmt, an diesem Eigentum erwirbt. Meine Kenntnis des tschechoslowakischen Erbrechts (Stand: 1924) beschränkt sich auf die Vermutung, dass wahrscheinlich ein irgendwie geartestes Erbrecht gab. Brod hat sich um diese Frage zu Lebenzeiten wohl wenig Gedanken gemacht und Teile der Kafka Manuskripte an seine Sekretärin und (vermutlich auch) Geliebte Ester Hoffe verschenkt und sie als Alleinerbin eingesetzt. Ester Hoffe wiederum folgten, nach ihrem Ableben im hohen Alter von 101, ihre Töchter 2007 als Erben nach.

Nach dem Tod Ester Hoffes entbrannte ein langjähriger Streit über die Frage des Eigentums an den Manuskripten. Die Töchter Hoffes wollten die Kafka Handschriften an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach verkaufen, wo bereits das Manuskript von Kafkas Process lagert; 1988 für 3,5 Millionen Mark von Hoffe sen. gekauft.

Die Nationalbibliothek Israel dagegen war der Ansicht, dass die Manuskripte zum Brod Nachlass gehören, der wiederum in Gänze an die Nationalbibliothek zu gehen habe. Bis ins Jahr 2016 prozessierten die Parteien. Dann bestätigte der oberste Gerichtshof Israels die Vorinstanz, nach der der gesamte Brod Nachlass und auch die Kafka Manuskripte an die Nationalbibliothek herauszugeben seien.

Die juristischen Scharmützel sind für Benjamin Balint nunmehr der Aufhänger sich der Frage, wem Kafka eigentlich gehöre, zu nähern. In Kafkas letzter Prozess beleuchtet der Journalist nicht nur die Prozessgeschichte, sondern verschränkt diese geschickt mit der Geschichte der Freundschaft zwischen Brod und Kafka, Fragen zu Kafkas Verhältnis zum Zionismus und der seines Heimatgefühls oder ob ausgerechnet Deutschland, das Land des Völkermords an den Juden Europas, dem auch Kafkas Schwestern zum Opfer fielen, Kafka als Nationaldichter vereinnahmen darf.

Balints Buch ist ein spannender Blick auf die Frage, ob Personen nach dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen von Verstorbenen über die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von (Kultur-)Erbe entscheidenen sollen, wohin Literatur gehört und wie entscheidend für diese Fragen die Gesinnung des Autors auch hundert Jahre nach seinem Ableben noch ist. Kafkas letzter Prozess ist ein spannendes Beispiel für die Gefahr wie ein Autor und seine Literatur zwischen persönlichen Befindlichkeiten, Religion und Nationalität zerrieben werden kann; wobei am Ende doch die Größe Kafkas Literatur diese immer davor bewahrt hat in solchen Querlen Schaden zu nehmen.

Rückblick auf #54readsMA // Potpourri zu Maya Angelou “Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt”

Im Januar haben wir im Rahmen unseres Lesekreises 54reads Maya Angelous „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ gelesen. Der Lesekreis hat seinen eigenen Twitter Account @54reads und der jeweilige Hashtag wird immer aus #54reads zusammen mit den Initialen der aktuellen Autor*in gebildet. Unter #54readsMA kam eine Reihe von interessanten Hinweisen, Diskussionen und Gedanken zusammen, die ich hier mit meiner Rezension für den DLF verschränke.

Maya Angelou wurde als Margerite Annie Johnson 1928 in St. Louis geboren. Nach dem Scheitern ihrer wilden Ehe schickten die Eltern sie im Alter von drei Jahren zusammen mit ihrem nur ein Jahr älteren Bruder Bailey nach Stamps in Arkansas zur Großmutter. Mit dieser Reise beginnt „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“, der erste Teil der Autobiographie von Maya Angelou.

Stamps selbst ist eine “muffige, alte Stadt“ in den Südstaaten. Dort ist die Großmutter „Momma“ als Eigentümerin eines Gemischtwarenladens glimpflich durch die Weltwirtschaftskrise gekommen. Maya und Bailey wachsen daher, zumindest finanziell, relativ behütet auf. Ganz anders geht es da den schwarzen Handlangern und Hausmädchen, vor allem aber den Baumwollpflückern, die sich während der Saison schon frühmorgens bei Momma versorgen. Maya sieht sie fröhlich zur Arbeit auf dem Feld aufbrechen und abends geschunden heimkehren. Schon das Kind realisiert, dass die Arbeiter so wenig verdienen, gleich wieviel sie pflücken, dass es doch nie reichen wird, um auch nur die Schulden bei Momma zu tilgen. Auch Maya leidet, trotz finanzieller Sorglosigkeit, unter der Diskriminierung.

Die Rassentrennung ist im Stamps der 1930er und 40er Jahre so absolut, dass die meisten schwarzen Kinder eigentlich nicht einmal wissen, wie Weiße aussehen. Angelous Rückschau wird dabei nicht aus der völligen Distanz der Erwachsenen erzählt, sondern bedient sich durchaus Gestaltungen von kindlichen Schilderungen ohne sprachlich aufgesetzt zu sein.

Das Mädchen hat früh gelernt, dass Weiße anders sind, dass man sie fürchten muss. Selbst in ihrer Abwesenheit ist es besser, nur Andeutungen zu verwenden und von “denen da” zu sprechen. Menschen im Wortsinn sind für Maya nur ihre Nachbarn, ihre Freunde, andere Schwarze. Rassentrennung grenzt nicht nur die Schwarzen aus dem Leben der Weißen aus, sondern ebenso umgekehrt.

Als besonders hart und verstörend beschreibt Angelou dann das Aufeinanderprallen dieser Wirklichkeiten, wenn Mitglieder der weißen Unterschicht auf die geliebte, nicht immer einfache, Großmutter treffen. Selbst zerlumpte Kinder können eine erfolgreiche Geschäftsfrau durch das bloße Ausspielen der gesellschaftlichen Gegebenheiten vor der Enkelin demütigen. Hilflos beobachtet Maya eine solche Szene. Ihr bleibt unverständlich, wie die von ihr verehrte Großmutter die Demütigung stoisch entgegennehmen und sogar noch höflich gegenüber ihren kindlichen Peinigern bleiben kann.

„Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ hat viele solcher Schlüsselszenen, etwa das Einfallen der Eltern in Stamps und der Umzug zurück zur Mutter nach St. Louis. Besonders traumatisch wirkt dort nicht das Neuerleben von Rassentrennung, nun in der Stadt, statt auf dem Land, sondern der sexuelle Missbrauch durch den Lebensgefährten der Mutter.

Das Verbrechen selbst nimmt nur wenige Sätze ein. Doch diese legen sich bleiern über die gesamte Erzählung. Die achtjährige Maya ist paralysiert.


Aus Angst um ihren Bruder, den der Vergewaltiger umzubringen droht, sollte sie etwas erzählen, schweigt sie zuerst. Doch nachdem ihr Bailey den Namen des Täters entlockt, kommt es zum Prozess. Maya Angelou schildert ihre eigenen Demütigungen dabei so sachlich, dass sie schwer zu ertragen sind. Als einige Familienmitgliedern für Maya Rache nehmen, empfindet man beim Lesen beschämenderweise fast Erleichterung. Die Achtjährige verstummt ob dieses Traumas. Aus dem selbstgewählten Schweigen taucht Maya erst wieder auf, als eine Bekannte ihrer Großmutter sie mit Literatur in Verbindung bringt. Mit Dickens, Thackeray und vor allem Shakespeare findet Maya ihre Sprache wieder.

Neben kleinen Akten der Rebellion prägt vor allem die kindliche Hilflosigkeit angesichts der Rassentrennung das Heranwachsen von Maya.
Edward Donleavy, ein Bürokrat, der auf der Abschlussfeier von Mayas Schule eine Lobrede auf die Verbesserungen in der Ausbildung hält, führt allen Anwesenden vor, dass hierdurch eigentlich nur das Vorankommen der sowieso privilegierten Weißen vereinfacht wurde. Jedem Absolventen weist Donleavy seinen Platz in der Gesellschaft zu: Während weiße Jugendliche die Chance haben, Galileos und Madame Curies zu werden, dürfen die schwarzen Jungen lediglich versuchen, Jesse Owens oder Joe Louis zu werden, die Mädchen sind ganz aus dem Spiel. Alle Versammelten erstarren und sind beschämt. Die Freude über den ersehnten Festtag ist vergällt. Und auch Maya ist zunächst entsetzt.

Erst jener Musterschüler, der die Abschlussrede unter dem Motto “Sein oder Nicht sein” halten soll, durchbricht die Fassungslosigkeit des Publikums. Außerplanmäßig stimmt er die “afroamerikanische Nationalhymne” “Lift Ev’ry Voice and Sing” an und gibt allen Anwesenden die in Minuten zerstörte Identität zurück. An dieser wie an vielen andern Stellen feiert Angelou die Kraft von Worten, Musik und Literatur.


“Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ endet, bevor die abenteuerliche berufliche Laufbahn der Autorin beginnt und eine Biographie wie keine zweite geprägt wird. Mit dem Buch setzt sie Mitgliedern ihrer Familie ein literarisches Denkmal und schreibt wie beiläufig eines der größten Memoirs über die Rassentrennung und über die Selbstbehauptung einer jungen, schwarzen Frau. Dabei sollte, abgesehen von den literarischen Qualitäten, die Selbstverständlichkeit, mit der Rassismus bis heute in unserer Gesellschaft verankert ist, Angelous Werk zur Pflichtlektüre in Schulen werden lassen. “Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ ist ein literarisches Mahnmal – leider immer noch. Richtig und wichtig daher, dass der Suhrkamp Verlag dieses grandiose Buch in der Übersetzung von Harry Oberländer neu aufgelegt hat. Die nicht alle zeitgemäß und gelungen finden und daher vielfacher Aufhänger für Diskussionen war.

Rezensionen anderswo:
https://zeichenundzeiten.com/2019/01/31/maya-angelou-ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
https://buch-haltung.com/maya-angelou-ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
https://buechnerwald.wordpress.com/2019/01/08/ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
https://www.54books.de/angelou-ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/

Abgründe sind wichtig im Leben

Ich reg mich ja so wenig auf und hab immer ein bisschen Angst, das öffentlich zu machen, weil man bestimmt immer die Hälfte nicht bedenkt und die andere Hälfte vergessen hat. Samstagmorgens liege ich allerdings im Bett und lese als wohlerzogener (ich zahle dafür), aber junger (digitale Ausgabe) Bildungsbürger die Zeitung (Süddeutsche). Dort hat man Felicitas von Lovenberg interviewt, weil man offenbar vorhat, alle zwei Monate mal mit ihr zu sprechen (zuletzt im November anlässlich des Erscheinens ihres platt-freundlichen Titels Gebrauchsanleitung fürs Lesen).

Sind Sie je Opfer von Sexismus geworden?

Im aktuellsten Interview, das die SZ nun unter anderem anteasert als Gespräch “über Männer und männliche Eigenschaften”, antwortet von Lovenberg auf die Frage, ob sie je Opfer von Sexismus geworden sei.

Darüber habe ich in letzter Zeit durchaus mal nachgedacht, weil man sich mittlerweile ja fast komisch vorkommt, wenn man sagt: Ich bin nie Opfer von Sexismus geworden.

Spötter könnten jetzt sagen, “oh, sie hat mal nachgedacht, über das Thema der letzten Jahre, hat sich mit gesamtgesellschaftlichen Debatten auseinandergesetzt, als Verlegerin eines der größten deutsche Verlage”, bevor man jetzt aber spotten könnte, antwortet FvL:

Aber gravierende Fälle habe ich tatsächlich nicht erlebt.

Das ist, was man allen wünscht. Case closed.

Aber! dann sagt sie, zwei Antworten weiter, auf die Frage, warum sie nicht in den FAZ Herausgeberkreis berufen wurde allen Ernstes, dass irgendein alter Heini (“ein mächtiger Mann”) ihr gesagt hat,

Ach wissen Sie, Frau von Lovenberg, ich finde nicht, dass sich ein so nettes Mädchen wie Sie einen solchen Job antun sollte.

Und jetzt, obwohl sie in letzter Zeit über das Thema durchaus mal nachgedacht hat, wahrscheinlich genau während sie das sagt, fällt ihr ein, “Oh! huch! Ist das das, wovon die anderen Furien immer berichten??”, und sie schiebt hinterher:

Und ja, wenn Sie so wollen, dieses eine Mal ist es mir dann eben doch passiert. Heute bin ich froh, der Job wäre nicht das Richtige für mich gewesen.

Also alles gut. Der Job wäre ja wirklich nichts für sie gewesen und lieb von dem alten, mächtigen Mann, dass er sie bewahrt hat.

Vielleicht habe ich nur zu versponnene Vorstellungen davon, was Nachdenken über ein Thema heißt, aber sie sagt mir nichts, dir nichts: “Sexismus? Drüber nachgedacht: Kenn ich nicht.” Und auf die erste Frage, die eigentlich nichts mehr direkt mit dem Thema zu tun hat, erzählt sie, dass sie unglaublich ekelhaft und herablassend behandelt wurde, weil sie eine Frau ist! Dies könnte ein feines Beispiel für Sexismus an allerhöchster Stelle des deutschen Journalismus sein.

“Ich mache mir schon ein wenig Sorgen, dass die Natürlichkeit im Verhältnis zwischen Männern und Frauen verloren geht.” (von Lovenberg)

Könnte natürlich sein, dass das ein Zufallstreffer war, aber sie liefert direkt den nächsten Knaller. Es geht immer noch um die FAZ und dass sie als junge Frau mit Marcel Reich-Ranicki gearbeitet hat und wie man mit so einem Mann arbeitet und sie sagt:

[…] wir hatten rasch unseren Modus gefunden. Da war viel Frotzelei dabei, da fielen sicher Sätze, die heute eher nicht mehr gehen, aber ich fand das nie schlimm, eher unterhaltsam und belebend.

Ich nehme an, mit “Frotzeleien” ist der gute, alte Herrenwitz gemint. Dann geht es allen Ernstes weiter:

Wir saßen einmal bei einer Preisverleihung nebeneinander und lauschten den Ansprachen, als er plötzlich tief aufseufzte und mir seine Hand aufs Knie legte.

Find ich ein bisschen übergriffig. Aber weil sie im Vorfeld schon ein bisschen über das Thema nachgedacht hat und auch eine Kollegin ihr damals sagte, sie hätte dem Herrn einfach eine schmieren sollen, macht sie erstmal nichts Weiteres als das kleinzureden (Frotzeleien, unterhaltsam, belebend [!]) und sagt am Ende noch:

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bewundere Feministinnen, die jungen und erst recht die älteren, die den Weg geebnet haben. Die sollen ihre Kämpfe kämpfen, das ist eine Qualität, so lange auf den Tisch zu hauen, bis sich was ändert. Ich kann da nur nicht so mitbrüllen. Vielleicht musste ich mich nie wehren, vielleicht habe ich mich in entscheidenden Momenten nicht unterlegen gefühlt, vielleicht bin ich manchen Kämpfen auch aus dem Weg gegangen.

Ach, Bewunderung ist so einfach und gibt es gratis an jeder Ecke. Verstehen Sie mich nicht falsch, liebe Leser*in, ich bin nur ein junger, weißer Mann, aber ist das nicht ein Schlag ins Gesicht für die meisten Frauen? Sagt sie nicht “Naja, sehen sie, ich hab immer artig gelächelt und bin jetzt halt Piper Verlegerin, wahrscheinlich weil ich immer so artig gelächelt habe, wenn mächtige Männer das wollten. Feminismus sollen die anderen machen. Aber was regen die sich eigentlich so auf?”

Wenn man sich ein Beispiel an von Lovenberg nehmen möchte und sich ebenso toll gegen Sexismus wehren will, der Trick ist einfach, man reagiert auf Sexismus:

Mit Humor. Ich war frech, schlagfertig und habe nicht alles persönlich genommen.

Andere Frauen nehmen einfach alles ein bisschen zu persönlich. Es ist das alte “Hab Dich doch nicht so” – nur dass es hier eben eine Frau sagt. Richtig gemacht kann Sexismus für alle Parteien eher unterhaltsam und belebend sein!

Es gibt keinen Sexismus im deutschen Kulturbetrieb, alle sind nur so fürchterlich empfindlich.

In diesem Zusammenhang ebenso schnurrig – und vielleicht ein Stück weit auch als Erklärung für ihre dicke Haut gegen Sexismus zu deuten – ihre Antwort auf die Frage, ob sie privilegiert aufgewachsen sei (na wegen des “von”). Durchschnaufen, Freunde:

Nicht so sehr in materieller Hinsicht…

Und dann sagt sie endlich Dinge, wie ich sie Samstagmorgens hören will: nicht reich an Geld, aber Reichtum an Kultur und Werten!

NICHT SO SEHR IN MATERIELLER HINSICHT, antwortet sie auf die Frage, die sie auf ihren Besuch eines englischen Internats und Studium in Oxford anspricht. Wann startet denn das Privileg?

Ich bin wirklich sprachlos.

Dazu “Sexismus im Literaturbetrieb – Die subtile Machtausübung der Männer” von Tanja Dückers.

Von Bullshitjobs und vergessenen Gesten

pschera blom graeber bullshit jobs

In einer Whatsapp-Gruppe, deren Mitglied ich bin, befinden sich fünf Juristen. Diese Gruppe wird hauptsächlich dazu genutzt, digitalen Internetmüll zu perpetuieren und – natürlich – um über das jeweilige Beschäftigungsverhältnis Leid zu klagen. Einer dieser fünf – nach eigener Aussage, sehr glücklich mit seiner Tätigkeit in der Rechtsabteilung einer großen Bank, die noch dazu (angeblich) geistig äußerst fordernd sei und sich ebenfalls nach eigener Aussage im Anspruch auf einem Level mit Raketenwissenschaften befindet – postete vor Wochen einen Artikel aus der FAS. Dieser war eine einseitige Zusammenfassung des Buchs Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit von David Graeber erschienen bei Klett-Cotta. Wie bei Unternehmensjuristen üblich, hatte er offenbar den Artikel selbst nicht gelesen, sondern wahrscheinlich eine externe Kanzlei damit beauftragt, dies zu tun und dann das Gutachten dazu nicht gelesen, denn in diesem Artikel stand unter anderem, ein klassischer Bullshitjob sei der des Unternehmensjuristen.

 

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Was ist ein Bullshitjob?

David Graeber definiert einen Bullshitjob wie folgt

Ein Bullshit-Job ist eine Form der bezahlten Anstellung, die so vollkommen sinnlos, unnötig oder gefährlich ist, dass selbst derjenige, der sie ausführt, ihre Existenz nicht rechtfertigen kann, obwohl er sich im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen verpflichtet fühlt, so zu tun, als sei dies nicht der Fall.
Aus: David Graeber – Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit

David Graeber BullshitjobsDie fünf Grundtypen von Bullshitjobs erkennt Graeber dabei in den Lakaien, den Schlägern, den Flickschustern, den Kästchenankreuzern und den Aufgabenverteilern. Der Lakai ist nur dafür da die Arbeit derer zu erledigen, die sich den Lakai halten, weil sie es eben können. Streng gesehen ist also nicht der Job des Lakaien Bullshit, sondern der des Chefs. Schläger sind Menschen, deren Tätigkeit ein aggressives Element beinhaltet, die aber – und das ist entscheidend – nur deshalb existieren, weil andere Menschen sie anstellen. Paradebeispiel wären Streitkräfte, die nur deshalb notwendig sind, weil andere Länder ebenfalls Streitkräfte haben. In diese Kategorien fallen für Graeber die meisten Lobbyisten, PR-Spezialisten, Telefonwerber und Unternehmensanwälte. Der Flickschuster wiederum ist nur dafür da Probleme zu lösen, die es eigentlich nicht geben sollte, insbesondere die Fehler auszubessern, die Vorgesetzte verursacht haben. Kästchenankreuzer sind Angestellte, die einem Unternehmen dabei helfen so zu tun als würden sie Dinge tun. Klassisches Beispiel ist die Erledigung von Bürokratie um ihrer selbst willen. Zuletzt der Aufgabenverteiler, der lediglich Arbeit an andere verteilt, er ist das Gegenteil von einem Lakaien, er ist kein unnötiger Untergebener, sondern ein unnötiger Vorgesetzter.

Schon an dieser Einteilung wird ein eklatantes Problem deutlich. Graeber – immerhin Lehrender an der London School of Economics – definiert nicht sauber, sondern plaudert Fallbeispiele daher. Ich vermute, dass dies im Wesentlichen auch mit der Entwicklung des Themas zusammenhängt. Denn Graeber schrieb im August 2013 einen Artikel für das Strike! Magazin, auf den sich eine Vielzahl von Menschen bei ihm meldete und ihre persönliche Bullshit-Job Geschichte erzählten. Ein Großteil des Buchs besteht daher in der Wiederholung von Fallgeschichten, die so nicht unbedingt verallgemeinert werden können.

So kennen viele wahrscheinlich die Geschichte des Mitarbeiter eines spanischen Wasserwerks, der sechs Jahre nicht zur Arbeit kam und das erst auffiel, als er eine Auszeichnung für zwanzig Dienstjahre erhalten sollte oder der andere Vogel, der einfach 24 Jahre der Maloche fernblieb. Das ist auf den ersten Seiten unterhaltsam und hilft dabei ein „Gefühl für das Problem“ zu bekommen, eine wissenschaftliche Problemanalyse sieht aber anders aus.

Hier ist das Problem!

Immer wieder plauderige Beispiele aus der ganzen Welt, geben dem Buch Seiten, dem Leser aber keine neue Erkenntnis. Was Graeber – auf mindestens 150 Seiten zu viel – aber sehr erfolgreich tut, ist, den Leser zu reizen. Er ist pauschal, er ist ungenau und häufig viel zu undifferenziert (was ist z.B. mit all den Jobs, die einfach nur ein bisschen oder zu einem Teil Bullshit sind?) und trotzdem zeigt er Missstände auf, die zweifelsohne existieren. Seit der Lektüre sehe ich die moderne Arbeitswelt anders.

Aus der Peripherie der persönlichen Arbeitswelt des Rezensenten sind beispielsweise solche Aussagen zu hören. „Ja, Kanzlei ist hart, schrubbe 60-80 Stunden, kriege aber auch 110k. Denke ich mache das noch zwei, drei Jahre und dann will ich in eine Rechtsabteilung, auch gut bezahlt, aber ruhige Kugel schieben in einer 40-Stunden-Woche.“ Offensichtlich besteht also der Drang danach weniger zu arbeiten, trotzdem aber „gutes Geld“ zu verdienen. Die ruhige Kugel suggeriert dabei aber stets, dass man den Job eigentlich in kürzerer Zeit ausführen könnte, es aber notwendig ist, 40 Stunden vor Ort zu sein, damit das Gehalt für genau diese Summe verkaufter Zeit gezahlt wird. Es wird also die Zeit gezahlt, nicht die geleistete Arbeit. (Bei Kanzleijuristen ist es in der Regel andersherum: kommt man nicht auf eine gewisse Anzahl abrechenbarer Stunden, vulgo billables, wackelt der Stuhl. Selbstverständlich ist dabei wiederum zu bedenken, dass sich geleistete Arbeit und abrechenbare Arbeit nicht zwangsläufig decken müssen, weder in die eine noch in die andere Richtung.) Vor der Lektüre von Bullshitjobs hätte ich unreflektiert genickt. Denn es ist doch so, dass man 40 Stunden arbeiten muss. Oder nicht?

Wir könnten ohne Weiteres zu einer Freizeitgesellschaft werden und eine 24-Stunden-Arbeitswoche einführen. Vielleicht sogar eine 15-Stunden-Woche. Stattdessen sind wir als Gesellschaft dazu verdammt, den größten Teil unserer Zeit bei der Arbeit zu bringen und Tätigkeiten zu verrichten, von denen wir den Eindruck haben, dass sie für die Welt keinerlei Nutzen bringen.
Aus: David Graeber – Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit

Eine Lösung wäre fein!

Unbefriedigend bleibt dann aber, dass der Leser nach dem Aufzeigen des Problems alleine gelassen wird.

Wenn es wirklich stimmt, dass bis zur Hälfte der Arbeit, die wir leisten, ohne nennenswerte Auswirkungen auf die Gesamtproduktivität abgeschafft werden könnte, warum verteilt man dann nicht einfach die verbleibende Arbeit so, dass jeder nur einen Vierstundentag hat? […] Aber aus irgendeinem Grund haben wir als Gesellschaftskollektiv entschieden, dass es besser ist, wenn Millionen Menschen viele Jahre ihres Lebens so tun, als würden sie etwas in Tabellenkalkulationen eintragen oder geistige Landkarten für PR-Meetings vorbereiten, statt ihnen die Freiheit zu verschaffen, Pullover zu stricken, mit ihren Hunden zu spielen, eine Garagenband zu gründen, mit neuen Kochrezepten zu experimentiere, in Cafés zu sitzen und über Politik […]
Aus: David Graeber – Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit

Wie also die Umverteilung dieser Arbeit konkret aussehen könnte, wird nicht gesagt, nicht mal angedacht. Das ist für ein weltveränderndes Sachbuch dann doch arg dünn. Ebenso die Lösungsleere nach der Zusammenfassung Graebers „von Studien zur Arbeit“ in

  1. Das Gefühl für die eigene Würde und den Selbstwert verkörpert sich für die meisten Menschen darin, dass sie mit Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen.
  2. Die meisten Menschen hassen ihren Job.

Welche Studien er da ausgewertet hat oder was diese aussagen, behält der Autor geflissentlich für sich. Was die Leute dann in ihrer ganzen freien Zeit dann treiben sollen, weiß ich daher auch nicht (– aber es ist natürlich immer noch besser nach eigenem Gusto rumzulungern als nur Bullshit zu machen.)

Das Arbeiten „nach der Uhr“ führt zu der Absurdität, dass Leute Zeit einfach nur absitzen oder so tun als würden sie etwas produktives machen, nur damit sich der Chef nicht eine total sinnlose Beschäftigung ausdenkt – die dann wiederum Bullshit par excellence ist.

Bedingungsloses Grundeinkommen?

Philpp Blom Was auf dem Spiel stehtBullshitjobs‘ bester Freund ist die Digitalisierung. Das führt zu weiteren Problemen, denn bisher ist unsere Gesellschaft so zugeschnitten, dass nur Geld bekommt, wer dafür arbeitet. Für viele Tätigkeiten ist heute aber kein trotteliger Mensch von Nöten, sondern das kann wunderbar ein Maschinchen erledigen. Ohne das Geld aus seinem (Bullshit-)Job kann aber das Konsument nicht konsumieren und dem Unternehmer mit seinen Maschinen dessen Produkte abkaufen.

Der Job selbst mag unnötig sein, aber man kann darin kaum etwas Schlechtes sehen, solange er die Möglichkeit schafft, damit die eigenen Kinder zu ernähren. Man kann fragen, was das für ein Wirtschaftssystem ist, das eine Welt schafft, in der man die eigenen Kinder nur dann ernähren kann, wenn man sich während eines großen Teils seiner wachen Stunden mit nutzlosen Übungen im Kästchenankreuzen beschäftigt oder Probleme löst, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Man kann die Frage aber ebenso gut auch auf den Kopf stellen und fragen, ob das alles wirklich so nutzlos ist, wie es scheint, wenn das Wirtschatsystem, das solche Jobs geschaffen hat, die Menschen in die Lage versetzt, ihre Kinder zu ernähren.
Aus: David Graeber – Bullshitjobs: Vom wahren Sinn der Arbeit

Auf den letzten Seiten bietet daher Graeber immerhin für die Frage nach dem „Wer soll das (Produkte) alles bezahlen?“ das bedingungslose Grundeinkommen an. Gleiches tut auch Philipp Blom in seinem bei Hanser erschienen Buch Was auf dem Spiel steht. Bloms Buch liest sich wie eine abgespeckte, unaufgeregtere Version von Graeber. Selbst wenn dieses ebenso aus einer Vielzahl von Fragen und Fragezeichen besteht, ist dies die eindeutigere Lektüreempfehlung.

Ein oft vorgebrachtes Argument gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen ist moralisch oder, um genau zu sein, protestantisch gefärbt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, besagt es, in einer anständigen Gesellschaft gibt es nichts umsonst, auch wenn sich der Staat aus Barmherzigkeit bereitfindet, den Bedürftigsten Unterstützung zukommen zu lassen, die oft mit demütigenden Ritualen und Befragungen auf den entsprechenden Ämtern verknüpft ist. Was aber wird aus diesem Argument, wenn ein Großteil der Bürger eines Landes für die Produktivität der Wirtschaft einfach nicht mehr gebraucht wird? Was wird dann aus dem Menschenrecht auf Würde, geschweige denn dem pursuit of happiness? […]

Diese Änderung, das bedingungslose Grundeinkommen, kommt nicht, weil sie nett oder edel ist, sondern weil sie notwendig ist. Es ist eine der ganze wenigen Neuerungen, die sowohl vom rechten als auch vom linken Spektrum befürwortet wird. Den Linken geht es dabei vornehmlich um soziale Gerechtigkeit und Umverteilung. Rechte Ökonomen und Politiker sehen im Grundeinkommen die einzige Möglichkeit, im Zeitalter von Maschinen noch Konsum und dadurch Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Inzwischen allerdings sind so viele Menschen ohne Erwerbarbeit, in einigen entwickelten Ländern geht die Zahl an die 40 Prozent, und sie wäre noch höher, würde nicht jede Regierung ihre Statistiken schönen. Die Kosten für den Staat sind astronomisch, und doch ist ein wesentlicher Teil der Bevölkerung arm, deprimiert, nutzlos und gedemütigt.
Aus: Philipp Blom – Was auf dem Spiel steht

Vergessene Gesten

Vergessene Gesten Alexander Pschera das vergessene buchWundgeschlagen also von der Erkenntnis des bevorstehenden Untergangs unserer Gesellschaft, las ich noch Alexander Pscheras Vergessene Gesten, das im kleinen Wiener Verlag Das vergessene Buch erschien. Vor dem Hintergrund der Sorge um die Zukunft meiner Kinder und Kindeskinder empfahl mir Pschera mal wieder Urlaubsfotos in ein Album zu kleben, statt nur durchs Handy zu wischen oder mir einen Toast Hawaii zu kredenzen (eine „Geste“, die nun wirklich mal langsam aussterben sollte) oder derlei Unfug mehr. Pscheras Buch kann sich getrost mit dem des rückwärtsgewandten Grafen, der es pflichtschuldig in der BILD am Sonntag erwähnte (die leider ebenfalls nicht vergessene Geste/Tugend des Klüngels), in eine Reihe stellen.

Diese nebenbei verteilte Ohrfeige für ein Buch, das auf den ersten Blick gar nicht in diese Reihe passt, erscheint etwas wahllos und passt doch so hervorragend. Denn wenn man sich vor Augen hält, mit welchen Problem der moderne Mensch in Zukunft (und der gegenwärte Mensch in der Jetztzeit) konfrontiert sein mag (hervorragend zum Laune verderben in dieser Hinsicht auch Yuval Noah Hararis 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert) und dies der Gefahr des Aussterbens des Toast Hawaii gegenüberstellt, kann einem doch etwas blümerant werden. Aber so ist es ja immer, die großen Fragen muss jeder für sich selbst beantworten, denn weder Graeber oder Blom noch Schönburg oder Pschera können oder wollen uns dabei helfen. Einer wandelnden Gesellschaft kann man wie der Graf Schönburg begegnen und es sich im Zustand der Verarmung im Porsche Targa gemütlich machen oder wie Pschera, der das Heil der Welt durch das Grüßen des Busfahrers wiederherstellen will, oder man beginnt, statt im Manufactum Katalog zu blättern, damit etwas zu ändern.

Andreas Thalmayr/Hans Magnus Enzensberger: Schreiben für ewige Anfänger

Andreas Thalmayr/Hans Magnus Enzensberger: Schreiben für ewige Anfänger

Die Verlagsbranche geht seit Jahren vor die Hunde, sagen die Verlagsbranchenmenschen und meinen damit, dass es weniger Leser gibt, die Bücher kaufen. Also „machen“ die Verlagsbranchenmenschen einfach mehr Bücher und fluten damit den Markt. Es bleibt deswegen keine Zeit mehr Titel aufzubauen, weil auch der alte Frühjahrs-/Herbst-Turnus aufgeweicht wurde und sich innerhalb von Monaten, wenn nicht gar Wochen, entscheidet, ob eines der laufend neuerscheinenden Bücher läuft oder nicht. Es gibt viel zu viele Bücher, sagen dann die Verlagsbranchenmenschen.

Umso schöner daher die Worte, die Jo Lendle auf der Buchmessen-Stehgreifparty – eine Stehgreifparty wurde nötig, da eine Reihe kostspieliger Verlagspartys abgesagt wurde – fand

Das Türhütermonopol kommt nicht wieder. Das ist auch so in Ordnung. Etwas anderes aber bleibt: Wir können entscheiden, wofür wir stehen, welche Bücher wir verlegen. Und die Antwort muss sein: Nicht irgendwelche.

Jo Lendle hat natürlich gut reden, denn sein Haus ist – so wie einige viele – genau dafür bekannt, dass man eben nicht auf den Markt schleudert, was verkäuflich erscheint, sondern dem eigenen Anspruch und Selbstverständnis entspricht.

Andreas Thalmayr/Hans Magnus Enzensberger: Schreiben für ewige AnfängerUmso erstaunlicher ist daher die Veröffentlichung eines Buches namens Schreiben für ewige Anfänger: ein kurzer Lehrgang in eben diesem Hanser Verlag. Dieser schmale Band für 16 Euro enthält über zwanzig Briefe eines alten Schriftstellers an einen (fiktiven?) jungen Kollegen. Wer nun aber Schreibtipps erwartete, wird schnell enttäuscht. Hier wird plauderig-onkelhaft erzählt, wie ein Buch „im Betrieb“ entsteht. Das ist auf so unbeholfene Art und Weise langweilig und bemüht, dass man zwangsläufig die Frage auftaucht, warum genau man ein solches Buch veröffentlichen sollte. Beim besten Willen fällt mir kein einziger Mensch ein, dem dieses Buch von Nutzen sein könnte.

Der einzige Grund für einen Verlag ein solches Buch zu veröffentlichen, kann aus meiner Sicht nur sein, dass man dem Autor einen Gefallen schuldete. Andreas Thalmayr ist ein Pseudonym von Hans Magnus Enzensberger, der sonst bei Suhrkamp verlegt wird. Dieses Buch ist leider ansonsten ein einziges Ärgernis.

Gespräch mit Heinrich von Berenberg, Gründer und Verleger des Berenberg Verlages

Gespräch mit Heinrich von Berenberg, Gründer und Verleger des Berenberg Verlages

Angelehnt an den Ausspruch des Historikers Robert Darnton: »In jedem dicken Buch steckt ein dünnes, das schreit: Ich will raus!« erscheinen seit nunmehr 14 Jahren im Berliner Berenberg Verlag Bücher, die selten 200 Seiten überschreiten. “Rhetorisch funkelnde und dezidiert subjektiv gehal­te­ne biografische und autobiografische Literatur und Essays, Bücher zur Zeitgeschichte, seit 2010 hier und da auch hervor­ra­gende Belletristik, zwei Jahre später erschienen die ersten Bände einer kleinen Lyrikreihe”, so der Verlag keineswegs übertrieben über das eigene Programm.

Nach der kürzlichen Lektüre des wunderbaren “Der Geist von Turin” von Maike Albath sprach ich mit dem Verleger Heinrich von Berenberg über die Verlagsarbeit.

In einem Porträt, das im Magazin Cicero im Jahr 2010 über Sie und Ihren Verlag erschien, stand es bereits im Teaser: Zur Zeit der Gründung Ihres Verlages im Jahr 2004 hätte die Buchbranche in der Krise gesteckt, die Gründung eines Verlages sei ein Himmelfahrtskommando, hört man da raus. Wenn ich heute einen Verlag gründete, wäre sicher ebenso zu lesen, die Branche sei gerade in der Krise. Wie lang hält die Krise noch an und wann ist sie überwunden?

Ein Himmelfahrtskommando war die Verlagsgründung bestimmt nicht. Es sind ja zu jener Zeit eine ganze Menge Verlage gegründet worden, einige haben überlebt, andere weniger, einige haben es geschafft, bei größeren Unternehmen als Imprint unterzukommen. Ich bin eigentlich an Krisen nicht so sehr interessiert, denn es hat sie gegeben, solange ich in der Buchbranche tätig bin, also seit Beginn der achtziger Jahre. Da war es die Angst vor dem Fernsehen, heute ist es die, begründete, Angst vor der unübersehbaren Aufspaltung des Aufmerksamkeitsspektrums der möglichen Leser. Die meisten müssen ja ins Iphone schauen oder auf andere Bildschirme. Unsere Leserschaft ist also etwas älter – 40 plus – und interessiert sowohl an den Inhalten als auch an den schönen Büchern, die zum Glück Sammlerinstinkte wecken. Wie es weiter geht, weiß niemand, ich auch nicht. Aber so lange ich lebe – nicht mehr allzu lange – wird es Bücher und einen Buchmarkt immer geben. Ich war soeben ein paar Wochen in Bolivien. Selbst dort, ohne Post, isoliert auf dem zweiten Dach der Welt, gibt es eine überaus lebendige Buchkultur mit beachtlichen Verlagen (ich habe immer noch nicht heraus, wie die das schaffen), so wie es sich für ein Land auf dem literaturbesessensten Kontinent gehört. Dagegen erleben wir hier immer noch eine Krise auf sehr hohem Niveau.

Sie waren über zwanzig Jahre Lektor und Übersetzer bei Wagenbach. Muss man sich die Initialzündung für die Gründung des eigenen Verlages dann so vorstellen, dass einfach die Liste der Bücher, die Sie nicht veröffentlichen durften, zu lang wurde?

Ja, die Tatsache, dass man jahrelang immer wieder Autoren entdeckt und sie weitergeben muss, hat sicher dazu beigetragen, dass der Wunsch, selbst Verleger zu werden, realisiert werden konnte.

Ihr Programm lebt von dem Schwerpunkt autobiografische und biografische Literatur, Essay-Literatur, Memoiren-Literatur. Es findet sich zum Beispiel aber auch ein Roman von Juan Pablo Villalobos dort. Katie von Christine Wunnicke stand letztes Jahr sogar auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Was bringen solche Autoren mit, dass Sie der eigentlichen Programmlinie untreu werden?

Ich habe von Anfang an mir das Vergnügen gemacht, zu jedem Programm stichwortartige Zitate aus den Büchern zu nehmen. Beim ersten Programm hatte ich noch keine eigenen und habe unter anderem Ian Fleming zitiert: „Sag niemals nie“, schon damals mit der Absicht, die Programmlinien bei Bedarf auch mal zu ändern. Wenn Autoren wie Christine Wunnicke oder Maria Sonia Cristoff anfangen Romane zu schreiben, soll ich sie deshalb nach Hause schicken? Nein, und ich muss sagen, dass die Romane dem Programm gut getan haben, zumal sie immer noch so etwas wie die Ausnahme sind.

Sehen Sie bereits Erben Ihrer Idee vom Verlegen? Ich denke z.B. an Sebastian Guggolz, der ebenfalls bei seinem Arbeitgeber aussteigt, um selbst zu gründen und als Kleinverlag genau eine Nische zu bedienen.

Ich sehe eine Menge Kollegen, die ähnliches machen wie ich, aber ich habe noch nie Konkurrenzgefühle gehabt. Was Sebastian Guggolz macht, was Ingo Drzecnik macht, aber auch Christian Kill, Dietrich zu Klampen, Peter Hinke und wie sie alle heißen, nicht zu vergessen die tollen Frauen von Binoki, das ist alles aller Ehren wert, und wir kommen uns niht ins Gehege. Für’s vererben bin ich denn doch noch nicht alt genug.

Es ist kein Geheimnis, dass Sie Abkömmling einer der bekanntesten Bankiersfamilien des Landes sind. Ihre Verlagsgründung ist nun aber wahrlich nicht unpersönliches Mäzenatentum. Sie selbst sind zusammen mit Ihrer Frau der Kopf des Verlages. Ärgern Sie sich dann manchmal doch, nicht einfach einen Scheck für einen anderen geschrieben zu haben?

Oha, für wen hätte ich denn diesen Scheck schreiben sollen? Es ist uns doch gut gegangen und geht uns weiterhin gut. Das Geld im Hintergrund ist ein unverdientes Privileg, und ich fühle mich nach wie vor verantwortlich, damit etwas Sinnvolles anzufangen. Geholfen hat es immer, um die Angst vorm Scheitern ganz weit in den Hintergrund zu drängen, etwas, das glaube ich nötig ist, damit man in Ruhe und mit allem nötigen Ernst ein gutes Programm machen kann.

Lieber Heinrich von Berenberg, vielen Dank für das Gespräch.

heinrich von berenberg cordula Giese
© Cordula Giese

Heinrich von Berenberg wurde 1950 in Hamburg geboren und studierte dort Germanistik und Anglistik. Er war Lektor im Attica-Verlag, im Syndikat Verlag und insgesamt sechzehn Jahre im Verlag Klaus Wagenbach. Von Berenberg war Mitherausgeber der Vierteljahreszeitschrift Freibeuter. 2003 gründete er zusammen mit Petra von Berenberg den Berenverg Verlag in Berlin. Dieser wurde 2010 mit dem Zillmer-Preis der Hamburger Kulturbehörde und 2016 mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet.

Neben seiner Tätigkeit als Lektor und Verleger ist von Berenberg ebenfalls als Herausgeber und Übersetzer, insbesondere von Roberto Bolaño, tätig, schreibt Artikel und Rezensionen, sowie zahlreiche Vorworte und Einleitungen für Publikationen.