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148 Formen des Nichtseins

Auszug aus einem Romanprojekt von Slata Roschal

5.
Es war ein goldener Ohrring mit einem kleinen Brillanten, der irgendwo im Erdgeschoss in der Mensa sein musste, ich schrieb Anzeigen, klebte sie auf Pinnwände, schrieb in einem studentischen Forum, ging zur Information, ob jemand vielleicht einen goldenen Ohrring, den Brillanten sparte ich aus, abgegeben, die Frau wunderte sich und lächelte und ich schämte mich. Und einmal ein Ring, mit einem kleinen, ungemein teuren Rubin (ich hab schon immer gesagt, kauf nichts bei den deutschen Juwelieren, bestell bitte aus dem russischen Katalog, hier, und jetzt hast du es), er wurde mir zu groß und glitt einfach vom Finger, irgendwo zwischen dem 3 und dem 4 Gleis des Ostbahnhofs, in der Nähe des Getränkeautomaten, dort, wo abends Mäuse herausgelaufen kommen, nach Krümeln, vielleicht auch Ringen suchen, und sie in ihren Vorratskammern unterhalb des Getränkeautomaten verstecken.

22.
Einsame, liebevolle und wunderbare russische Damen zum Heiraten und Lieben. Unsere bildhübschen russischen Single Frauen auf der Partnersuche suchen einen ehrlichen und treuen Lebenspartner und Mann, um eine glückliche Lebenspartnerschaft und Familie zu gründen für eine gemeinsame, glückliche Zukunft.
Die meisten russischen Frauen lehnen den westlichen Feminismus ab, und versuchen eher, Erfolg und Charme zugleich zu leben.
Die russischen Frauen lieben ihr Land, sie fühlen sich als Bürgerinnen des größten Staates der Welt und sind stolz darauf.
Die russischen Frauen sind wesentlich toleranter und geduldiger als westliche Frauen, das liegt daran, dass in Russland gegenseitige Hilfe und Abhängigkeit innerhalb der Familie ganz großgeschrieben wird.
Es ist sehr wichtig für russische Frauen, die im Ausland leben, sich nützlich zu fühlen. Die russischen Frauen mögen es nicht, ohne Aktivitäten zu sein, sie arbeiten gerne.
Rechnen Sie mit einer Wartezeit von etwa einem Jahr, bevor Sie mit ihr Kinder haben werden.
Wenn Sie Ihre Brieffreundin etwas fragen wollen, fragen Sie direkt, ohne Umwege, aber sehr höflich.
Versuchen Sie, die slawische Seele zu verstehen. Das ist entscheidend in der Korrespondenz mit einer russischen Frau.
Lächeln Sie auf allen Fotos.
Hüten Sie sich vor ukrainischen oder russischen Anzeigenseiten, die gratis angeboten werden.
Schicken Sie den Damen, mit denen Sie in Kontakt treten, niemals Geld.
Treten Sie in Kontakt mit mehreren Damen ein. Eine russische Frau hat es lieber, wenn der Mann sie unter mehreren Damen nach längerem Briefwechsel ausgesucht hat.
Falls auch Ihre zweite Email ohne Antwort bleibt, schicken Sie einen Brief auf dem Postweg, vielleicht hat sie ein Problem mit ihrem Computer.
Die meisten russischen Frauen sprechen weder Englisch noch Deutsch.
Wenn Sie auf Englisch schreiben, benutzen Sie einfache Wörter, um sicher zu gehen, dass sie Sie verstehen wird.
Benutzen Sie nicht den Google-Übersetzer.
Schicken Sie niemals Geld.
Nehmen Sie zum ersten Treffen einen Dolmetscher mit, falls Ihre Russisch-Kenntnisse nicht ausreichen.
Sobald sie verheiratet sind, schreiben Sie Ihre Liebste in einen Deutschkurs ein (russische Frauen sind begabt für Fremdsprachen), und sie wird wesentlich weniger Heimweh haben.
Sie können jederzeit auf einen Dolmetscher zurückgreifen, wenn Ihre Frau noch nicht gut Deutsch spricht.

23.
In unserer Stadt gab es zwei kleine russische Geschäfte, in denen man slawische ‒ meist in Deutschland hergestellte ‒ Lebensmittel kaufen konnte, Käse, Quark, Pelmeni, Schokoladenpralinen, Limonade, Getreideflocken, Konserven, aber auch Spielzeug aus China, selbstgebrannte DVD-Filme, und man konnte dort Pakete abgeben, die man in sein Heimatland schicken wollte. Für viele unsere Bekannte waren diese Läden überlebenswichtig, auch wenn es eine offizielle Deutsche Post und gewöhnliche Discounter mit russischen Lebensmitteln gab. Sie trugen seltsame Namen, 5+ PLUS zum Beispiel, das Plus als Zeichen und Wort nebeneinander wies auf die ausgezeichneten Qualitäten des Ladens hin, während im deutschen Schulsystem die Fünf nur für mangelhaft stand. Das andere Geschäft hieß Rasputin, ähnlich düster schaute der stämmige Besitzer an der Kasse, er sollte zusammen mit seinen drei erwachsenen Söhnen vor Kurzem ein eigenes Haus im benachbarten Dorf gebaut haben, und unser Bekannter erfuhr von einem anderen Bekannten, dass es zweieinhalb Stockwerke hatte. Seine Frau stand an der Frischwarentheke, schnitt und wog Käserollen ab, angelte gesalzenen Hering aus einer Holztonne. 5+ PLUS war zu zentral gelegen und schnell bankrott, wir wechselten zu Rasputin. Dort war es eng und staubig, die Kunden kannten einander, es gab Sympathien, verborgene Feindschaften gegenüber dem Ladenbesitzer und seiner Frau, wir wussten über ihre Einkommensverhältnisse Bescheid, achteten nicht auf ein abgelaufenes Haltbarkeitsdatum und diskutierten an der Kasse, warum hier alles so teuer sei.

38.
Wenn ich unsterblich wäre, würde ich mir Fehler zugestehen können, so aber läuft die Zeit davon, zerrinnt zwischen den Fingern, und bald schon werde ich nicht schön sein und werde meinen immer fauler werdenden Körper durch einwandfreie teure Kleidung, durch Botoxinjektionen, Bleaching regelmäßig, aufrecht erhalten müssen, und wer weiß, ob ich das Geld dazu haben werde, ob ich noch einen Mann haben werde, mit gutem Verdienst und oder Eigentum, ob ich das alles alleine bezahlen kann, ob meine Einsparungen, bislang hundertdreißig Euro auf dem Extra-Konto und hundertfünfzehn im weißen Briefumschlag, zwischen Benn und „Einführung in die Mediävistik“  eingeklemmt, für all das reichen werden.

110.
Unser Wochenende verbrachten wir zuhause, im Discounter, im Tierpark, auf einem Spielplatz, am Meer, am See, in der Eisdiele, meist verbrachten wir es zusammen, zu dritt, und an jedem Sonntagabend freute ich mich auf Montag. Ich hatte sie gern, meine Männer, den Großen, den Kleinen, und doch nervten mich unsere gemeinsamen Wochenenden ungemein, sodass ich ihnen beiden gegenüber am Sonntagabend massive Antipathie verspürte, den Kleinen so früh wie möglich ins Bett brachte, ein sinnloses, nie gelungenes Vorhaben, den Großen ignorierte, anzischte, auf irgendeine Weise zu demütigen versuchte in Form von Befehlen und Ekelbekundungen (wäscht du jetzt endlich das Geschirr ab, willst du dich nicht mal duschen), ja ihn manchmal bespucken, verprügeln wollte und dann vor dem Einschlafen, mit fester Zuversicht auf den Montag, den Tag der Arbeit, ihn wieder um Vergebung bat. Auch dem Kleinen gegenüber war ich oft unbeherrscht und grob, sein unverhältnismäßiges Schreien bei jeder Kleinigkeit brachte mich immer wieder aus der Fassung, mein junges Leben erschien mir umsonst vergeudet, die Weiterentwicklung meiner Talente gegen eintönige, unausgeschlafene Heimexistenz eingetauscht, ich hatte keine Freude daran, Sachen zu erklären, die ich schon kannte, und zweifelte daran, ob ich die geeignete Beziehungsperson für mein Kind, überhaupt für ein Kind wäre. Auch wusste ich nicht, ob ich in meiner Arbeit es zu etwas bringen würde, ob ich klug und energisch genug wäre, und litt einerseits an den zwecklosen, deckungsgleichen Wochenenden, empfand sie wiederum auch als Strafe für mein Versagen während der vorangegangenen fünf Tage. Was wir dem Kind gaben, wurde von ihm nicht geschätzt, kein einziges Mal sagte es aus eigenem Wunsch heraus Danke, und das Komplizierteste daran war, dass wir kein Recht hatten, einen Dank zu erwarten, uns bewusst auf eine jahrelange einseitige parasitäre Beziehung eingelassen hatten. Glaubt er mir, dass ich ihn geboren habe, fragte ich mich abends, wenn sein zartes Gesicht einschlief, habe ich ihn überhaupt geboren, woher sollte ich es wissen, meinem Körper waren keine Spuren mehr davon anzusehen, keine Beweise, ich habe keine Nabelschnur gesehen, keine Geburt. Wie kann mein Mann glauben, dass ich ein Kind von ihm geboren habe, sein Leben von diesem Glauben bestimmen lassen, wenn nicht mal ich daran ganz glaube, und doch fungierte er als Zeuge dessen, was ich selbst nicht gesehen habe. Unser Zusammenleben basierte auf einem gegenseitigen, mal erstarkenden, mal abfallenden Glauben an unsere körperliche Verbundenheit, und ich war das Mittelglied zwischen dem Großen und dem Kleinen, von anderem Geschlecht zwar, vielleicht deshalb aber trotz aller Unbeherrschtheit akzeptiert, der Große war das Bindeglied zwischen mir und dem Kleinen und umgekehrt, drei hoch drei gerechnet, neun unterschiedliche Stränge, die uns verbanden. Ich putze das Waschbecken von Resten roter Kinderzahnpasta frei, sortierte Socken nach Formen und Farben, und erlangte nicht den Status einer Guten Mutter in den Augen anderer Frauen, Freundinnen, Kolleginnen, Bekannten, unserer Vermieterin, Kindergartenleiterin, Kinderärztin, meiner Mutter, alles, was ich tat, war ein obligatorisches Minimum, von Guter Mutter weit entfernt. Einmal die Woche kam eine Putzfrau, wischte das Treppenhaus und ich litt aus weiblicher Solidarität, wenn ich an ihr vorbeiging, vielleicht wäre es meine Aufgabe gewesen, die Treppen zu wischen, immer waren es Frauen, die Treppen wischten, warum sollte ich besser sein als sie. Was soll das denn sein, fragte er, weibliche Solidarität, und wir küssten uns, prallten mit den Mündern aufeinander, warm, weich, und wenn mich das andere, kleine, zarte Gesicht küsste, sah ich ein, dass ich auch daran zu glauben lernen musste, dass mein Kind mich mag, nicht für immer vielleicht, aber dass ich nichts zu verlieren hatte, außer als mich zu irren, und dass ich nicht alles bis ins Unendliche beweisen konnte.

118.
Zwei Arten von Leuten gab es, die einen fragten, wann wir ein zweites Kind bekommen, da uns das erste schon so gut gelungen, da wir ja gut miteinander auskamen und ein zweites sicher guttun würde, ein Verzicht auf ein zweites, ohne nachvollziehbaren Grund, war absurd und verdächtig, dass wir wohl doch nicht so gut auskamen miteinander. Und die anderen, die ignorierten auch das eine Kind, stellten es sich als eine Art zusätzliches Projekt vor, in das man je nach Möglichkeit Zeit investierte, eine kleine Beeinträchtigung, die mit genug Babysittern zu überspielen war, eine konservative Geste, Geschlechtsverkehr mit Kinderzeugung zu verbinden. Aufenthaltsstipendien etwa waren für freie Persönlichkeiten gedacht, die für fünf Monate nach Rijeka gingen, für zwei Monate nach Ahrenshoop, für ein Jahr in die Villa Massimo, einen dichten Lebenslauf erstellten, ohne jeden Abend Hausaufgaben zu kontrollieren, an Schulferien, Krankheiten, Wachstumsschübe gebunden zu sein. Zur Elite deutscher Künstler, wie in einer Ausschreibung bezeichnet, gehörten keine Künstler mit Kindern, oder keine mit kleinen Kindern, oder keine Frauen mit Kindern, das war klar und irgendwie seltsam, das hat mir keiner gesagt bisher, dass ich mich selbst wieder ausgeschlossen habe aus einem Kollektiv, zu dem ich gehören wollte, da half kein Migrationshintergrund, kein gutes Porträtfoto, obwohl ich nichts geändert hätte, wenn ich es könnte, nur, es musste einen Weg geben, das zu werden, was ich wollte, die Angst zu verlieren vor Abweisungen, mich weniger zu ärgern, oder einfach abzuwarten.

129.
Wenn wir abends, wenn das Kind schläft und wir uns gegenüber in der Küche sitzen, jeder an seinem Notebook, verspüren, dass wir uns gleichgültig geworden sind, zu vertraut und fremd zugleich, dass wir uns gegenübersitzen, weil wir ein gemeinsames Konto und ein gemeinsames Kind haben, die Grundmerkmale einer ehelichen Gemeinschaft, dass wir nie mehr, zumindest die nächsten zehn Jahre, zu zweit ins Theater oder ins Kino gehen und immer, jeden Abend, von Jahr zu Jahr, in der Küche sitzen werden, jeder an seinem Notebook, wenn wir das verspüren, wenn dieser Gedanke in dem Raum zwischen uns entsteht, immer größer, fester, prophetischer wird, werde ich wütend, klappe mein Notebook zu und fordere ihn zum Sprechen auf, er erschrickt, verteidigt sich, zieht den Kabel aus der Steckdose, überlegt, wir reden, dann steht er auf, küsst mich und schlägt vor, ins Wohnzimmer zu gehen.

 

(Foto: Mike Lange)

Slata Roschal – *1992, Studium von Slawistik, Germanistik, Komparatistik in Greifswald, z.Z. Promotion in Slawistischer Literaturwissenschaft an der LMU München, Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien, Textwerkstätten (u.a. Edenkoben), 2019: Debütband Wir verzichten auf das gelobte Land bei Reinecke & Voß Leipzig. Diese Texte sind Auszüge aus einem laufenden Romanprojekt, 148 Formen des Nichtseins, das u.a. durch ein Arbeitsstipendium der Stiftung „Zurückgeben. Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft“ gefördert wurde.

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Viruskompetenz – Über das Lesen und die Angst

von Solvejg Nitzke

„Ein schwimmender Sarg.  Und keiner darf von Bord. Im Hamburger Hafen läuft das Kreuzfahrtschiff ‚Große Freiheit‘ ein. An Bord: Ein toter Passagier – verstorben an einem geheimnisvollen Virus. Bald herrscht Panik in der Stadt. Kriminalkommissar Adam Danowski, der eigentlich am liebsten am Schreibtisch ermittelt, wird an den Schauplatz beordert. Er kommt einem Verbrechen auf die Spur, das noch unzählige Tote zu fordern droht. Doch das unter Quarantäne gestellte ‚Pestschiff‘ darf keiner verlassen, selbst Kommissare nicht, und Danowskis Gegner sorgen mit aller Macht dafür, dass dies so bleibt…“ (Klappentext: Treibland von Till Raether, 2014)

Man mag von Klappentexten halten, was man will. Gerade ihre oft lose Beziehung zum Inhalt des beworbenen Buchs ist für kulturwissenschaftliche Analysen der Beziehung von Fakt und Fiktion aufschlussreich. Virus, Panik, (zukünftige) unzählige Tote, (unsichtbare) Gegner und drei vielsagende Punkte – all das sind Signale, die nicht nur auf den Text gemünzt sind, den sie beschreiben sollen, sondern auch darauf, möglichst viele Anknüpfungspunkte zur (Lese-)Erfahrung der angesprochenen Leser*innen zu bieten. Darin könnte angesichts der Angst vor Covid-19 auch ein Problem liegen, denn die gleichen Reizworte dominieren nun einen Diskurs, der aus den Fugen zu geraten scheint. 

Till Raethers Kriminalroman Treibland, der erste Fall des Hamburger Kommissars Adam Danowski, bietet auch jenseits des Klappentextes zahlreiche Anknüpfungspunkte. Ein Kreuzfahrtschiff unter Quarantäne hat im Februar auch im Kontext der Angst vor dem sogenannten Corona-Virus Schlagzeilen gemacht. Die Schutzmaßnahmen, denen Danowski und seine Kolleg*innen genügen müssen, ebenso wie die Kommunikations- und Informationswege erscheinen vertraut. Nicht zuletzt der Unwille des Protagonisten, sich allzu intensiv mit dem Virus und allem, was damit zusammenhängt, zu beschäftigen, erinnert wahrscheinlich die meisten Menschen an sich selbst.

Es wäre allzu einfach, zu zeigen, dass und wie die Diskrepanzen zwischen Klappen- und Romantext ersteren als konventionellen Werbetext und letzteren als ausgesprochen geschickte Variante des klassischen locked room mystery auszeichnen. Als Literaturwissenschaftlerin könnte ich etwa meine Expertise bereitstellen, um Reibungspunkte aufzuzeigen und nachzuweisen, dass das alles „nur“ Fiktion ist und sich in diese oder jene Tradition einreiht. Doch genau diese Diskrepanzen zwischen Text und Paratext werden gerade wieder einmal zum produktiven Kern einer Gegenüberstellung von Fakt und Fiktion. Eine Gegenüberstellung, die alles andere als harmlos ist, denn sie stellt Berechtigung und Kompetenz der Fiktion, von Wirklichem zu sprechen, in Frage. Virennarrative müssen sich einmal mehr den Vorwurf gefallen lassen, Panik zu schüren, Ängste und Ressentiments zu verstärken. Sie werden auf höchst problematische Weise zu Akteuren einer Parallelwirklichkeit, in der der Weltuntergang hinter jeder Ecke lauert.

Ist es also fahrlässig, es sich gerade jetzt mit einem Buch gemütlich zu machen, das von einem tödlichen Virus handelt? Zum Lesen eignet sich die aktuelle Situation zweifellos, denn wie ließe sich Ansteckung besser vermeiden als allein auf dem Sofa? Aber darf man sich ausgerechnet jetzt, da so viele Menschen krank sind und noch viel mehr unter der Angst vor der Infektion leiden, gerade an so einem Szenario weiden? Sind es nicht genau solche Texte, die Panik schüren, weil sie falsche Erwartungen wecken und unangebrachte Vorstellungen über den Umgang mit hochansteckenden Krankheiten verbreiten? 

Natürlich darf man lesen, was man will und wann man will. Aber die Frage in welchem Verhältnis Leseverhalten oder Fiktionskonsum (es gäbe ja auch den ein oder anderen Pandemiefilm, von Zombie-Serien ganz zu schweigen) und Angstreaktion stehen, gewinnt in diesem Moment wieder an Bedeutung. Was also, fragt etwa Johannes Franzen, „wenn es wie jetzt zum realen Ernstfall kommt: Ist unser Blick aufs tatsächliche Geschehen möglicherweise getrübt durch Bilder und Stimmungen aus all diesen Erzählungen?“ Spielt es eine Rolle, dass die Bilder der akuten Situation „scheinbar vertraute Ausnahmesituationen“ erzeugen? 

Die Fragen nach der Rolle des Erzählens von Erfundenem reichen weit in die Kulturgeschichte zurück. Platons angebliche Verdammung der Dichter – sie lügen! – klingt heute (als einflussreiche kulturgeschichtliche Figur) wieder in der Kritik an mangelnder wissenschaftlicher Akkuratesse literarischer Texte an. Oscar Wildes Diktum „life imitates art“ (und nicht andersherum) stellt nur eines unter vielen selbstbewussten Statements dar, mit dem sich Literat*innen und Künstler*innen gegen das Gebot der Mimesis, der Nachahmung der Natur, zur Wehr setzen. Romantik, Realismus, Avantgarden – gerade die moderne Literatur lässt sich als eine Kette von Verhandlungen über die Rolle der Kunst lesen und  (auch das wird gerade offensichtlich) diese Fragen sind noch keinesfalls beantwortet. Gefragt wird nach dem Zweck der Literatur: Soll sie „nur“ unterhalten, soll sie lehren, soll sie gar qua Katharsis für eine emotionale Grundreinigung sorgen? Oder ist sie autonom und nur für sich selbst da? Gefragt wird nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion, das immer dann zum Problem wird, wenn nicht (mehr) klar ist, wer die Deutungshoheit über bestimmte Phänomene oder Ereignisse beanspruchen kann. Man könnte ganze Forscher*innenkarrieren mit diesen Fragen zubringen… Kann also die Beschäftigung damit überhaupt in einer konkreten Situation weiterhelfen? 

Diesen Grundsatzfragen wird man nicht sinnvoll begegnen, indem man – ob von natur- oder literaturwissenschaftlicher Seite – einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit Lesekompetenzen oder Unwissenheit unterstellt. Vielmehr wird hier möglich, wovon Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen sonst kaum zu träumen wagen: Vielleicht lässt sich beobachten, dass und wie Fiktionen tatsächlich Wirklichkeit beeinflussen. Das ist, darauf weist Franzen zurecht hin, auch ein unheimlicher Gedanke: Er weckt „die Angst davor, Jugendliche könnten durch die fiktiven Taten zu realen Verbrechen verführt werden. Oder die Befürchtung, Menschen könnten abstumpfen, gegenüber tatsächlichem menschlichen Leid.“ 

Übrigens steckt darin auch die Angst, das junge Frauen ein Dasein als „damsel in distress“ ebenso für normal halten könnten, wie junge Männer sich ausschließlich als Helden oder Bösewichte verstehen könnten. In der Möglichkeit, dass Fiktion Wirklichkeit beeinflusst, steckt aber auch Potenzial. Es wird auch (wieder) denkbar, dass Fiktionen Haltungen auf eine positive Weise beeinflussen – eine Hoffnung die gerade in ökologisch orientierten Erzählungen eine besondere Rolle spielt – und dass Fiktionen Diskussion darüber auslösen, in welchem Verhältnis all die Diskurse und Institutionen stehen, die an der Produktion von Wirklichkeit teilhaben. 

Die oft zunächst implizite Behauptung, Romane, Filme und Spiele trügen dazu bei, dass Menschen sich von potenziell vernunftbegabten Individuen in eine unkontrollierbare, weil panische Masse verwandelten, wird immer öfter zum expliziten Vorwurf, je näher eine (empfundene) Bedrohung rückt. Das betrifft nicht nur das Thema der Pandemie, sondern ein ganzes Cluster an (Zukunfts-)Szenarien, deren ‚Management‘ in der Wirklichkeit allzu katastrophische Darstellungen im Weg stünden. Dazu ließe sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive einiges sagen. Wie vielfältig die gegenwärtige Katastrophenlust in der Forschung bearbeitet wird, lässt sich in Stefan Willers Forschungsbericht nachlesen.

Mich interessieren vor allem der gegenseitige Inkompetenzvorwurf der ‚zwei Kulturen‘ und seine möglichen Konsequenzen für die Kommunikation wissenschaftlicher und kultureller Tatsachen oder vielmehr, der Zusammenbruch der Unterscheidung. Der Vorwurf besteht banalerweise darin, dass Fiktionen nichts von den wissenschaftlichen Fakten und Wissenschaftler*innen nichts von Fiktion verstehen. Mehr ist es nicht. Damit behaupten jedoch beide Seiten eine so grundsätzliche Inkompetenz der anderen, dass fraglich bleibt, wie überhaupt über die gemeinsamen Gegenstände, Narrative und vielleicht sogar gemeinsame Ziele gesprochen werden soll. In den grenzüberschreitenden Fiktionen sehe ich also nicht zuletzt einen Anlass, über die anscheinende Unvereinbarkeit dieser Perspektiven nachzudenken und eine Chance, sie zu überwinden.

„Die zwei Kulturen“ ist der Titel einer Rede des Chemikers und Schriftstellers C.P Snow. In der Rede beklagt Snow die tiefe Kluft zwischen ‚scientists‘ und ‚literary intellectuals‘. Man beschwere sich zwar übereinander – die einen beherrschten ihren Shakespeare nicht, die anderen könnten nicht einmal das zweite Gesetz der Thermodynamik erklären –, aber ein Reden über die Notwendigkeit, die Kluft zu überwinden, gäbe es nicht. Tatsächlich sei Verständigung überhaupt nicht mehr denkbar. Das war 1959. Die Kluft ist seitdem trotz allerlei Bekenntnissen zu Interdisziplinarität und Austausch nicht kleiner geworden. Einig sind sich Geistes- und Naturwissenschaften nur in der Behauptung eines allgemeinen Niedergangs der Allgemeinbildung. Selbstredend ist das grob vereinfacht und ungenau (z.B. lassen sich die ‚zwei Kulturen‘ nicht einfach vom britischen in andere Wissenschaftssysteme übertragen. Gerade in Deutschland lassen sich Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft nicht unbedingt in einer ‚Kultur‘ zusammenfassen). 

Vielleicht ist die Gegenüberstellung aber auch gerade deshalb so einflussreich und beständig. Sie führt dazu, dass wir übersehen, wie produktives Wissen und anschlussfähige Narrative nicht nur auf der einen oder anderen Seite, sondern mitten in der Kluft zwischen den Kulturen entstehen. Es ist also nicht getan mit mehr wissenschaftlichen Kenntnissen – im Sinne von  „get your facts straight“ – oder größerer Fiktionskompetenz im Sinne einer umfangreichen literarischen Bildung. Auch wenn solche Kompetenzen sicherlich nicht schaden, bleiben sie weitgehend wirkungslos ohne eine Aufmerksamkeit für die ‚Mitte‘, in der sich Wissen formiert, das nicht so einfach zu sortieren ist.

Es ist ein hybrides Wissen, dass im Austausch der Kulturen entsteht, ob diese den Austausch nun wollen oder nicht. Science Fiction ist aus dieser Perspektive nicht in erster Linie ein Genre, sondern ein Modus, dessen Erkenntnisinteresse über professionalisierte Diskurse und Methoden hinaus reicht. Man könnte auch von einer Haltung sprechen, die nicht verlangt, aus Fiktionen praktisches Wissen zu gewinnen oder, umgekehrt, Wissenschaft als Erzählung zu entlarven. Vielmehr macht diese Haltung es möglich, unabhängig von der Darstellungsform gemeinsame Fragen zu erkennen.

Virus-Szenarien sind in diesem Sinne beinahe immer im Modus der Science Fiction verfasst. Sie stellen das Verhältnis von Fakt und Fiktion, von Wissenschaft und Erzählung auf besonders intensive Weise auf die Probe. Georg Seeßlens Behauptung, die Krankheit sei „das Wirklichste, was einem Menschen wiederfahren kann“ gewinnt in der Fiktion einen prekären Status. Einerseits generieren Viruserzählungen aus genau diesem Umstand (Infektion ist nicht diskutabel, krank ist krank) Energie und suspense, andererseits bleibt die Krankheit fiktiv.

Obwohl niemand – so meine Hoffnung – Dan Browns Inferno (2014) oder Michael Crichtons The Andromeda Strain (1969) liest, um sich über typische Verläufe viraler Infektionen zu informieren, so besteht der besondere Reiz des Virus-Szenarios darin, dass die Ansteckung selbst, unabhängig vom Plot, eine wirkliche Möglichkeit ist. Sie konfrontiert das betroffene Subjekt mit der eigenen Anfälligkeit für eben dieses Szenario und verleiht damit auch einem noch so absurden Plot einen Anker in der Wirklichkeit. Indem die Viruserzählung einen Akteur einführt, der scheinbar zielstrebig, aber absichtslos „handelt“, ruft sie eine fundamentale Unsicherheit auf. Diese betrifft auch die Wissenschaften, denn, so zeigt die sich ausbreitende Krankheit Covid-19 überdeutlich: Es ist eine Illusion zu glauben, ein Virus ließe sich ohne weiteres kontrollieren. Die „Jagd“ nach dem „unsichtbaren Gegner“ erzeugt Angstlust, weil sie die Erinnerung daran weckt, dass mikroskopisch kleine Wesen seit jeher eine allen Armeen überlegene Gefahr für die Menschen darstellen. Ein Virus, für das es noch kein Gegenmittel gibt, ist eine Herausforderung für eine Bandbreite an Kulturtechniken – auch für das Erzählen. 

Fiktionskompetenz kann hier also nicht bedeuten, zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Darstellungen zu unterscheiden, sondern die Bedingungen einer Erzählung zu erkennen – ihre Struktur; die Traditionen, in die sie sich implizit und explizit einreiht; sowie die textinternen und –externen Strategien der Plausibilisierung des Erzählten. Umgekehrt wird so die narrative Bedingtheit nicht-fiktionaler Texte sichtbar. Das heißt, ein an Fiktionen geschulter Blick erlaubt es, z.B. Zeitungsartikel wie „Das unheimliche Rätsel um das Corona-Virus“ nicht nur auf ihren „Informationsgehalt“ hin zu lesen, sondern auch die Narrative zu erkennen, an denen sie sich orientieren. Wie beim oben zitierten Klappentext sind Überschriften, Bildunterschriften und Bilder nie nur einem „Haupttext“ untergeordnet, sie ermöglichen vielmehr Verbindungen, die im Text weder angelegt sein müssen noch notwendig von der Autor*in eines Textes gewollt wurden.

Interessant wird es also besonders dort, wo verschiedene Interessen aufeinandertreffen. Im Literaturbetrieb sind das oft geteilte Interessen unterschiedlicher Akteure. Im konkreten Fall des Kriminalromans Treibland bedeutet das, die paratextuellen Elemente Cover, Klappentext und Reihenvermarktung des Romans sind ebenso aussagekräftig für die Frage nach der „Macht der Fiktion“ wie der literarische Text selbst. Treibland ist also nicht nur ein ergiebiges Beispiel, weil die Handlung thematisch beinahe unheimlich aktuell ist. Der Roman wurde in unterschiedlichen Kontexten vermarktet, die für die hier gestellten Fragen relevant sind. Der Autor, Till Raether hat sich außerdem bereit erklärt, mir einige Fragen zur Konzeption des Romans und den Abläufen seiner Veröffentlichung zu beantworten. Damit steht mir ein weiterer (Vergleichs-)Text zur Verfügung, der die Analyse bereichert. 

Zu diesen zählt auch die Genrebezeichnung: Treibland ist ein Kriminalroman. Diese Zuordnung strukturiert Erwartungen und ermöglicht und limitiert also das, was plausibel erzählt werden kann. ‚Plausibel‘ ist an dieser Stelle das entscheidende Kriterium, nicht ‚wissenschaftlich‘ oder ‚realistisch‘. Und was plausibel ist, wird aus einem Dialog zwischen Einzeltext und Genre-Konvention ausgehandelt. Das gilt auch für Stoff und Erzählhaltung. Der Kriminalroman ist ein analytisches Genre, das letztlich meistens auf die Aufklärung eines Verbrechens hinausläuft – was aber aufgeklärt, erkundet und zergliedert wird, das hängt vor allem von den Fähigkeiten und Interessen der ermittelnden Figuren ab.

Um das Spektrum der Fähigkeiten und Interessen zu erweitern, steht der Protagonist in Treibland, der Kommissar Adam Danowski, nicht allein da mit seinem Viren-Fall. Die Rechtsmedizinerin Kristina Ehlers und Tülin Schelzing, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Tropeninstitut, vermitteln dem Kommissar das Wissen, das er braucht, um sich im Fall zu orientieren – und damit nicht nur ihm, sondern auch den Leser*innen. Und genau darum geht es: Orientierungswissen. Niemand benötigt Spezialkenntnisse, um zu verstehen, worum es geht. Gleichzeitig sind die entscheidenden Punkte so weit an tatsächlichen Abläufen orientiert, dass auch jemand mit Spezialkenntnissen, dem Plot ohne Störung folgen kann.

Es besteht zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel daran, dass der Kommissar im Vergleich zu den beiden Frauen keine Ahnung hat. Nachvollziehbarerweise will er mit allem möglichst wenig zu tun haben, was ihm – das ist schließlich ein Kriminalroman – allerdings nicht gelingt. Ehlers und Schelzig könnten unterschiedlicher kaum sein. Schelzig als pedantische Hüterin der Verhaltensregeln steht Ehlers gegenüber, die nicht weniger pedantisch alle Regeln bricht (nicht ohne sich auf ihre eigene fachliche Autorität zu berufen). Dass dabei nur der Virus gewinnen kann, macht der Tod der fahrlässigen Rechtsmedizinerin ein für alle Mal klar. Wer sich absichtlich über Expertenwissen hinwegsetzt, krepiert jämmerlich. Aber auch Schelzig behält keine weiße Weste. Sie verbirgt Informationen, damit ihre eigene Arbeit nicht unter Verdacht gerät. Aus ihrem Handeln spricht die Wissenschaftlerin, die in einem prekären System gelernt hat, wie sehr auch ihre Autorität (und Anstellung) am makellosen Ruf der Institution hängt.

Der Virus gerät schon in dieser kurzen Analyse ins Hintertreffen, Raether bezeichnet ihn als „reines Vehikel“: „Mich haben damals zwei Dinge interessiert: die Situation des Eingesperrtseins, der Fremdbestimmtheit an einem eher absurden Ort, in dem das aber schon angelegt ist; also die Quarantäne als Parodie der Kreuzfahrt. Zum zweiten die Krise als Anlass für Menschen, sich gewissermaßen ‚auszurichten‘.“ Der Virus auf dem Schiff ermöglicht und plausibilisiert bestimmte Maßnahmen und Umstände, was für den Autor ebenso bedeutsam ist wie für die Verschwörer*innen im Roman.

Indem er die „Quarantäne als Parodie der Kreuzfahrt“ in Szene setzt, entwirft Raether also eher eine Whodunnit-Version von David Foster Wallaces Essay A Supposedly Fun Thing I’ll Never do Again oder eine Kreuzfahrt-Adaption von Agatha Christies Roman Murder on the Orient Express. Wie in den Vergleichstexten ist der Anspruch des Romans nicht, die Aufklärung über richtiges Verhalten im Quarantänefall, sondern Plausibilität von Figuren und Plot (auch wenn einige Regeln so lustvoll aufgestellt und gebrochen, dass man sicher etwas lernen kann, wenn man denn unbedingt will). Das ist kein geringer Anspruch, ganz im Gegenteil. Gegenüber ausufernden und sich selbst überschlagenden „Wissenschaftsthrillern“ á la Frank Schätzing zeichnet sich Treibland durch eine konzentrierte Struktur aus. Doch während sich der Roman explizit auf die „Lebenswirklichkeit“ des Autors bezieht, fordert das Stichwort „Virus“ offenbar Größeres. 

Hier kommt erneut die Vermarktung ins Spiel: Die Beziehung von Text und „Wissenschaft“ wird in einem anderen Kontext ausgestellt: Treibland wurde in erweiterter Ausgabe als Teil eines Schubers mit „Wissenschaftskrimis“ veröffentlicht, der genau diese Beziehung in den Vordergrund stellt. Die ZEIT-Edition „Wissenschaftskrimis“ will „spannende Themen mit intelligenter Unterhaltung“ verbinden und verleiht den ausgewählten Texten „als besonderes Extra“ ein Nachwort, „in dem ein ZEIT-Autor den Krimi analysiert und erklärt, welche Aspekte der wissenschaftlichen Realität entsprechen und welche der Fantasie des Autors (sic!) entstammen.“

Hübscher kann man einen Text gemäß der Zwei-Kulturen-These nicht aufräumen – Phantasie in die eine Kiste, Realität in die andere. Genau durch diese Trennung droht aber eine solche Vermarktung problematisch zu werden. Nicht nur, weil die Unterscheidung nicht funktioniert und sicherheitshalber keine Expert*innen für Erzähltexte eingeladen werden mit zu „erklären“, sondern auch, weil Reihe und Schuber Zusammenhang signalisieren, wo Differenzierung sinnvoll wäre. Denn ein locked room mystery, wie Treibland verhandelt wissenschaftliche Tatsachen auf andere Weise als ein „Wissenschaftsthriller“. Das Interesse richtet sich – hier bestätigt die Analyse Raethers Auskunft – auf das Verhalten der Figuren in einem Ausnahmezustand, der den ‚Regeln‘ des Genres gemäß begrenzt ist.

Ein Thriller hingegen zeichnet sich gerade durch eine Offenheit aus, die den Anspruch impliziert (nur selten aber ausdrücklich macht), Aussagen über die dargestellte Wirklichkeit hinaus zu treffen. So erschien beispielsweise 2009 in der ersten Ausgabe der ZEIT-Edition (damals noch und jetzt wieder „Wissenschaftsthriller“) Michael Crichtons Roman State of Fear/Welt in Angst (2004/2005), dessen nur dünn durch Ironie maskiertes Bekenntnis zur Klimawandelleugnung im Nachwort den Text in der Tat zu einem fragwürdigen Hybrid zwischen Science-Fiction und Verschwörungstheorie macht. Appendizes und Nachworte, Bibliographien und Zusatzpublikationen (z.B. Frank Schätzing: Nachrichten aus einem unbekannten Universum: Eine Zeitreise durch die Meere, 2009) oder die aus journalistischer oder wissenschaftlicher Arbeit gewonnene Verdopplung von Autorität (z.B. Richard Prestons „non-fiction Thriller“: The Hot Zone: The Chilling True Story of an Ebola Outbreak, 1995) verwischen die Grenzen zusätzlich.

Es ist dann völlig unerheblich, wie ‚hoch’ der wissenschaftliche ‚Gehalt‘ eines Textes ist, denn er weicht den Pakt mit den Leser*innen eines fiktionalen Textes auf. Das heißt, er beansprucht nicht nur im Medium der Fiktion, sondern geradezu universell Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Im ‚schlimmsten‘ Fall wird der Text ex post zu einem ‚wirklicheren‘ Wissen erklärt – wirklicher als das, auf das er sich selbst (qua Literaturliste, Expertenrat und -legitimation) stützt. Solche Texte haben das Potenzial, die Methoden zur Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion zu unterlaufen.

Das bedeutet, je ‚wissenschaftlicher‘ Fiktion daherkommt, desto skeptischer muss sie gelesen werden, denn sie verpflichtet sich damit Prinzipien einer anderen Kultur. Selbstredend wird es an dieser Stelle aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ziemlich spannend und es kann sich ein enormes subversives Potential entwickeln, das durchaus wünschenswerte gesellschaftliche Transformationen anstoßen kann. Aber spätestens hier sollte klar werden, dass, um dieses zu entfalten, eine Haltung (beider Kulturen!) nötig ist, die ‚den Leuten‘ eine weitaus höhere Fiktionskompetenz zutraut, als das oft der Fall ist. Die allermeisten wissen sehr wohl, ob sie gerade Outbreak schauen oder Tagesschau, oder dass Empfehlungen vom Robert-Koch-Institut einen anderen Stellenwert haben, als Vermutungen von Mulder und Scully. Wo aber ‚Literatur‘ und ‚Fiktion‘ bloß den Kopf hinhalten müssen, weil Kommunikation scheitert, kann ihr Potenzial „Welten zu machen“ (Nelson Goodman) nur versanden. Dabei ließe sich aus dem lustvollen Schauder über das ekelhafte Dahinsiechen einer Figur durchaus nicht nur Niesetikette, sondern auch ein gewisser Respekt für das Wissen der anderen erlernen.

 

Der Aufschrei der Arztsöhne

von Dana Buchzik

Bislang sind mit dem Claim „Lebensleistung verdient Respekt“ nur Bürger gemeint, die über 33 Jahre hinweg mindestens 30 Prozent des bundesweiten Durchschnittseinkommens erwirtschaftet haben. Der Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) fordert hingegen ein Anrecht auf Grundrente für alle, die 10 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient haben. Es reicht also nicht aus, dass der Staat seit Jahrzehnten den Sozialbetrug kultureller Institutionen sponsert: Die Künstlersozialkasse (KSK) etwa, immerhin zu 20 Prozent aus Bundesmitteln finanziert, hat über Jahrzehnte Scheinselbstständigkeiten im Journalismus aufgefangen; promovierte Volontäre stocken mit Hartz IV auf, um sich Vollzeittätigkeit plus Überstunden in Verlagen, Museen etc. leisten zu können. Der Staat soll nun also auch dafür geradestehen, dass sich privilegierte Menschen – denn nur jene mit herausragenden Studienabschlüssen sowie Zeit und Ressourcen für unbezahlte Praktika bekommen im Kulturbetrieb überhaupt die „Chance“ auf zynisch honorierte Jobs – ein Berufsleben lang für Arbeitgeber entschieden haben, die sie systematisch ausbeuten.

Viele Menschen stecken aufgrund fehlender Privilegien und/oder Krankheit und Behinderung dauerhaft im Niedriglohn- und Teilzeitsektor fest. Diese sehr reale Ungerechtigkeit betrifft die gut und lange ausgebildeten Menschen im Kulturbetrieb, die im Laufe ihres Berufslebens viele Überstunden anhäufen, im Allgemeinen nicht. Ist aus der freien Entscheidung, sich ausnutzen zu lassen, eine finanzielle Verantwortung des Staates ableitbar?

Natürlich haben wir alle ein Recht auf menschenwürdiges Leben. Natürlich ist – kurzfristig – eine Anpassung der Bedingungen für Grundrente wichtig. Langfristig aber sollte sich jeder, der im Kulturbetrieb arbeitet, fragen, warum er nur vom Staat Solidarität erwartet und nicht von seinen Auftraggebern. 

Im Kulturbetrieb zu arbeiten, erinnert manchmal an das Leben in einer missbräuchlichen Beziehung: Honeymoon-Phasen müssen mit bedingungsloser Selbstaufgabe erkauft werden; unbegrenzte Zeit, Aufmerksamkeit und Geduld sind erforderlich. Das Setzen von Grenzen, die Frage nach Geld oder Perspektive “zerstört” das intensive Wir-Gefühl. Das Gegenüber singt mit Hundeblick das Klagelied der Krise und schon hat man Schuldgefühle: Wie konnte man den Partner nur mit seinen eigenen, egoistischen Bedürfnissen belasten? Man wusste doch von Anfang an, worauf man sich einlässt! 

Ähnlich wie im toxischen Beziehungsleben zählen auch in der Kulturbranche eher Frauen zu den Geschädigten, vor allem in finanzieller Hinsicht: Der Gender Pay Gap beträgt satte 24 Prozent. Im Kulturbetrieb existieren zwar keine Hollywood’schen Hotelzimmerszenarien mit grapschendem Entscheider im Bademantel; dafür gibt es den festangestellten Redakteur, der die neue Freelancerin privat treffen will statt in der Redaktion. Der sich im Café ganz eng neben sie setzt und raunt, dass für eine regelmäßige Auftragsvergabe „ein gutes Verhältnis“ zentral sei. Der behauptet, das Budget sei für alle gleich, aber unterschlägt, dass er männlichen Freelancern fünfzig Euro mehr pro Text anbietet. Und der, sobald sein Verhalten auffliegt, der Freelancerin nur mitzuteilen hat, dass sie ohnehin nie eine Chance auf eine feste Stelle hatte.

Es gibt den Verleger, der die Absage des Volontariats nicht versteht; es sei doch „eine Ehre, für unser Haus zu arbeiten“ – eine Ehre, die einen Kredit erfordert hätte, weil man mit unter 1000 Euro in einer Metropole vielleicht die Miete bezahlen, aber nicht essen kann. Ein Kredit also für ein Jahr Vollzeitarbeit plus Überstunden, ohne jede Perspektive auf Weiterbeschäftigung?

Es gibt den Lektor, der behauptet, dass niemand nach einem Volontariat eine Festanstellung erwarten könne: Die Marktsituation etc. Darauf hingewiesen, dass er selbst nach einem Volontariat fest übernommen wurde, sagt der Lektor: „Bei mir war das was anderes.“ (Stimmt: Er geht regelmäßig mit dem Chef Bier trinken. Und muss dabei nicht befürchten, dass dieser sich eng an ihn kuschelt und über gute zwischenmenschliche Verhältnisse philosophiert.)

Es gibt den hochrangigen Agenturmitarbeiter, der sich auf dem Chesterfield-Sofa im zentral gelegenen Office ausstreckt und verkündet, man wolle Praktikanten einfach nicht bezahlen. Es gibt Geschichten aus dieser Agentur, die davon erzählen, dass Praktikanten aus eigener Kasse Porto und Klopapier finanzieren und spätere Bestseller zum Gutteil allein ghostwriten. Alles drin im Null-Euro-pro-Monat-Paket, das sich im Zweifelsfall nur Arztsöhne und Richterstöchter leisten können.

Es wird gern von kleinen Indie-Verlagen und Online-Magazinen geredet, die monatlich um ihre Existenz bangen und ihren Mitarbeitern nun mal nichts bezahlen können. Leider wird vergleichsweise selten namentlich von den großen Verlagen, Redaktionen, Filmstandorten, Theatern, Agenturen und anderen Playern gesprochen, deren Geschäftsmodell unter anderem darauf basiert, reguläre Stellen durch Praktikanten, Volontäre und Freelancer zu ersetzen, um im großen Stil Sozialabgaben, sagen wir: zu sparen. 

Seit dem Jahr 2014 zeigt die Umsatzentwicklung in der deutschen Kultur- und Kreativwirtschaft respektable Zuwachsraten. Die Bruttowertschöpfung hat sich – ausgehend von 71,8 Milliarden Euro im Jahr 2009 – um fast 29 Milliarden, also um vierzig Prozent, erhöht. Der Umsatz in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland lag im Jahr 2018 bei 168,3 Milliarden Euro. Allein Random House erwirtschaftete 2018 rund 293 Millionen Euro. Warum nehmen wir das seit Jahrzehnten gesungene Klagelied der Krise überhaupt noch ernst? Warum fragen wir den fest angestellten Verleger, Redakteur oder Regisseur, der uns mit Hundeblick berichtet, dass leider kein Geld da sei, nicht, wie viel er am eigenen Gehalt spart? Warum akzeptieren wir, dass große, solide durchfinanzierte Auftraggeber über die 30-Tage-Schmerzgrenze hinaus Honorare nicht bezahlen? Warum schweigen wir über Ausbeutung im Glauben, wir könnten andernfalls unsere Karriere beschädigen? Was für eine Karriere soll das überhaupt sein, die jenseits aller finanziellen Messbarkeit und in der permanenten Angst vor Transparenz stattfindet? Wo in alledem hat unsere Selbstachtung Platz?

Der Kulturbetrieb ist mindestens genauso sexistisch, intolerant und ausbeuterisch wie jeder andere Betrieb unserer Volkswirtschaft; wahrscheinlich eher mehr als der Durchschnitt, wenn man sich den Gender Pay Gap von 24 Prozent und die Dimension der Altersarmut unter Kulturschaffenden vergegenwärtigt. Der BBK-Appell hat binnen eines Monats 41.000 Mitzeichner gefunden. Wenn sich jeder Mitzeichner ein Arbeitsleben lang geweigert hätte, unbezahlte Praktika zu absolvieren oder absurd niedrige Honorare für freie Aufträge zu akzeptieren, wäre diese Petition überhaupt erforderlich geworden? Ist dieser Appell mehr als ein Aufschrei von Privilegierten, der in die falsche Richtung schallt?

Solange es keine Solidarität unter Betroffenen gibt, so lange die Täter, um im Bild der missbräuchlichen Beziehung zu bleiben, in Schutz genommen werden, sei es durch bewusstes Verschweigen der Missstände, sei es durch aktiven Selbstbetrug, so lange wird systematische Ausbeutung fortbestehen, und so lange werden wir uns schuldig machen, sowohl an uns selbst als auch an allen, die nach uns kommen.

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Offener Brief: Woody-Allen-Autobiografie im Rowohlt Verlag

Sehr geehrter Herr Dr. Moritz Schuller,

sehr geehrter Herr Florian Illies,

wir sind enttäuscht über die Entscheidung des Rowohlt-Verlags, die Autobiographie von Woody Allen zu veröffentlichen.

Wir haben keinen Grund, an den Aussagen von Woody Allens Tochter Dylan Farrow zu zweifeln. Ihr Bruder Ronan Farrow hat sich nachdrücklich gegen die Veröffentlichung im Verlag Hachette ausgesprochen, in dem auch seine eigenen Bücher erschienen sind. Der Rowohlt Verlag hat die Bücher Farrows auf Deutsch veröffentlicht und ist damit in derselben Situation wie Hachette.

Unter anderem hat Farrow kritisiert, dass Allens Buch in den USA ohne Prüfung der darin enthaltenen Fakten erscheinen sollte. Nach gängiger Praxis müssen wir annehmen, dass ein “fact checking” des Buches auch in Deutschland nicht erfolgen wird. Wie Ronan Farrow sind wir der Ansicht, dass dieses Vorgehen unethisch ist und einen Mangel an Interesse für die Belange der Opfer sexueller Übergriffe zeigt. Durch die Veröffentlichung würde der Rowohlt-Verlag den Eindruck erwecken, dass es nach den Diskussionen der letzten drei Jahre – nachzulesen zum Beispiel in Ronan Farrows “Durchbruch: Der Weinstein-Skandal, Trump und die Folgen” (Rowohlt 2019) – jetzt Zeit ist, das Thema abzuhaken und zu den alten Verhältnissen zurückzukehren. Es geht uns nicht darum, die Veröffentlichung grundsätzlich zu unterbinden. Allen mangelt es nicht an Möglichkeiten, sich mitzuteilen. Aber der Rowohlt Verlag muss ihn darin nicht unterstützen.

Wir zeigen uns solidarisch mit den Angestellten des Hachette-Verlags, deren Proteste dazu geführt haben, dass der Verlag sich gegen eine Veröffentlichung des Buches entschieden hat. Wir fordern Sie auf, diesem Beispiel zu folgen. Das Buch eines Mannes, der sich nie überzeugend mit den Vorwürfen seiner Tochter auseinandergesetzt hat, und der öffentliche Auseinandersetzungen über sexualisierte Gewalt als Hexenjagd heruntergespielt hat, sollte keinen Platz in einem Verlag haben, für den wir gerne und mit großem Engagement schreiben.

Autorinnen und Autoren des Rowohlt-Verlags

Giulia Becker
Annika Brockschmidt
Lena Gorelik
Sebastian Janata
Alexander Krützfeldt
Kathrin Passig
Till Raether
Anna Schatz
Aleks Scholz
Margarete Stokowski
Sven Stricker

bit.ly/rowohlt-allen (google-docs)

Lesen nach Hanau

von Şeyda Kurt

Nach dem Terroranschlag in Hanau kann ich mich tagelang nicht überwinden, ein Buch aufzuschlagen. Manchmal sitze ich auf meinem Sofa. Mein Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand und ich starren uns still und vorwurfsvoll an. Mir fehlt die Kraft, Verknüpfungen zwischen Buchstaben herzustellen. Mir fehlt die Kraft, Seite für Seite daran zu glauben, dass Ereignisse in der Welt in einer sinnhaften Erzählung gebündelt werden können. Wie soll ich mich als Lesende darauf verlassen können, Teil von etwas zu sein, das über mich hinausgeht, Teil einer Geschichtserzählung, wenn ich mich in tausend Teile zerschlagen fühle? Und dann ist da die Angst vor dem Verrat. Darf ich mich in andere Realitäten flüchten, während die Realität von Hanau sich wie ein Schleier aus Tod und Leid auf das Leben vieler Menschen legt?

Doch ganz allein mit meinen Gedanken will ich nicht sein. Also höre ich Musik, das funktioniert noch am besten, wenn ich so taub bin. Es sind harmlose, italienische Balladen und Pop-Songs, darunter Un anno d’amore (zu Deutsch: Ein Jahr der Liebe) von Mina, ein Klassiker aus dem Jahre 1964. Im Refrain heißt es:

Ricorderai
I tuoi giorni felici
Ricorderai
Tutti quanti i miei baci

Also: Erinnere dich an deine glücklichen Tage, erinnere dich an all meine Küsse. Na gut, denke ich, und versuche mich daran zu erinnern, dass mein Körper, der geht und spricht, tatsächlich lebendig ist, im Stande, Zärtlichkeit zu erfahren. Irgendwann, ich glaube am vierten Tag, steigt mir das Ganze jedoch zu Kopf. Ich stehe an der Bushaltestelle und singe inbrünstig Ricorderaaaaai und fühle mich verlassen, auch im romantischen Sinne, obwohl ich nicht verlassen wurde und romantisch bin ich schon gar nicht. Also setze ich dem ein Ende und beginne anatolische Volkslieder zu hören, Ağlama yar, ağlama anam heißt eins auf Türkisch, in deutscher Übersetzung: Weine nicht, Geliebte:r, weine nicht, Mutter. Dabei muss ich ständig an meine Mutter denken, die nach dem Anschlag in Hanau am Telefon weinte, und da packt mich das Bedürfnis mich mit dem Gesicht voran auf den Potsdamer Platz fallen und von Tourist:innen niedertrampeln zu lassen. Schließlich lass ich’s mit der Musik.

Einige Tage später, seit dem Anschlag ist mehr als eine Woche vergangen, liege ich abends im Bett. Meine Augen fixieren einen dunkelblauen Buchumschlag, der unter einer Schlafmaske und Tablettenpackungen hervorblitzt. Tu es jetzt, sag ich mir, trau dich. Ich greife zu. Mein Pech, es ist die Bibel. Ich schlage das Buch an einer zufälligen Stelle auf: Seite 619, 83. Psalm, Gebet um Beistand wider die Feinde Israels. Ich lese diese Zeilen:

„1. Ein Psalmlied Asaphs. 2. Gott, schweige doch nicht also und sei doch nicht so still; Gott, halt doch nicht so inne. 3. Denn siehe, deine Feinde toben, und die dich hassen, richten den Kopf auf. 4. Sie machen listige Anschläge wider dein Volk und ratschlagen wider deine Verborgenen […]“

Ich lache irritiert auf. Was für ein Zufall. Was fange ich nun mit ihm an? Ich würde ihn gerne für diesen Text in eine logische Erzählung eingliedern, mit einer Pointe glänzen, damit Sie als Lesende und ich als Schreibende uns mit einem gesättigten Gefühl von diesen Zeilen verabschieden können, und ich Ihnen vielleicht doch noch ein schönes Buch empfehle. Aber ich bin ratlos, weil dieser sogenannte Gott nach Hanau schweigt. Weil so viele Menschen schweigen. Und mit ihnen die Bücher.

Photo by Artem Gavrysh on Unsplash

Wie(so) Hölderlin feiern?

von Andrea Geier

 

„Was bleibet aber, stiften die Dichter“ – eine Zeile wie geschaffen für Festreden zum Hölderlin-Jubiläumsjahr. Doch wer feiert wen, wenn Hölderlin gefeiert wird? Stiften, was bleibet, wirklich die Dichter oder sind es eher diejenigen, die sie feiern?

In den vergangenen Jahrzehnten wurden die 200. und 250. Jubiläen von Goethe, Schiller, Heine, Wieland und Droste-Hülshoff gefeiert. Zum 200. Geburtstag Fontanes im letzten Jahr bekamen Ausstellungen und Neuerscheinungen einige Aufmerksamkeit.
Bei Literaturwissenschaftler*innen, die weniger literaturbetriebsaffin sind, mag es immer noch leises Grollen hervorrufen, dass man solche Anlässe benötigt, damit eine breitere Öffentlichkeit etwas mehr über die Existenz des wertgeschätzten Gegenstandes erfährt. Die meisten sehen es aber pragmatisch. Jubiläen sind eine der ältesten Formen der Eventisierung von Literatur. In Zeiten der Medienkonkurrenz ist das notwendig, und wenn es gut läuft, geht es sogar manchmal um literarische Texte und deren Interpretationen.

„Komm! ins Offene, Freund!“

Was dürfen wir von hoelderlin-2020.de erwarten? Mehrere hundert Veranstaltungen kann man auf einem Kalender der Homepage finden, zusammen mit der Aufforderung, bitte den Hashtag #Hoelderlin2020 zu verwenden (#Hölderlin2020 funktioniert selbstverständlich auch). Literaturinteressierte dürfen sich auf das neue Ausstellungskonzept im Tübinger Hölderlinturm und auf die Ausstellung „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach freuen. Lesungen knüpfen locker an die Rezeption und das literarische Nachleben an. Es gibt eine Ausstellung mit Fotografien von Barbara Klemm, einen Umzug und mehr an Musik, als man erwarten würde – wie etwa ein Hölder betiteltes „Rock-Musical“. Auf dem Plakat prangt der in diesem Zusammenhang mutig verwendete Vers „Komm! ins Offene, Freund!“, den wiederum der SWR möglicherweise zu wörtlich genommen hat, wenn er einige Autor*innen mit Denis Scheck in einem Oldtimer herumfahren lässt. Im Trailer zu Mein Hölderlin. Eine Reise nach Bordeaux erklärt der Literaturkritiker, dass das Werk „quicklebendig“ sei und man nirgendwo „größere Ermutigung“ finden könne. 

Man sieht die überaus bunte Mischung in den Ankündigungen und fragt sich: Sind Jubiläen Anlässe, einer*m Autor*in mehr Aufmerksamkeit zu schenken? Oder werden eher Autor*innen in Beschlag genommen, um irgendwie Programm zu machen? Menschen machen in der Konsumkultur was mit Dingen. Literatur ist auch Unterhaltung. Das stimmt. Aber dann taucht doch noch die Frage auf, wie unterhaltsam eigentlich Hölderlin ist.

Der Deutschlandfunk brachte am 15. Februar einen informativen Bericht über das neue Ausstellungskonzept des Tübinger Hölderlinturms, der mit dem Satz endet: „Wer oben im leeren Rundzimmer des Turms steht, kann den Gemütszustand des einsamen Dichters nachempfinden.“ Wer wollte hoffen, dass sich dort jemand fühlt wie Hölderlin, für dessen „Gemütszustand“ Begriffe wie ‚geistig umnachtet’, ‚verfinstert’ nach einem ‚psychischen Kollaps’ und ‚wahnsinnig’ benutzt werden? Da sich die Einsamkeit in den 36 Lebensjahren im Turm davon nicht so recht trennen lassen dürfte, möchte man von einer zu starken Einfühlung abraten. Ähnlich deplatziert wirkt die Rede vom ‚poetischen Sehnsuchtsort‘. Wer sehnt sich hier wonach? Muss man dem Dichter in dieser Weise näherkommen, um einen Zugang zu seinen Texten zu finden?

#FreizeitOhneAuto und #weareGermany

Diese Beispiele zeigen: Der Umgang mit der Aura eines Autors birgt offensichtlich Tücken. Die ehrlichste, wenn auch nicht weniger seltsame Form, die Biografie eines Autors zu nutzen, dürfte dann auch die touristische sein. Dass die S-Bahn Stuttgart den Hashtag #FreizeitOhneAuto mit einem Hinweis auf Hölderlin verknüpfte, wirkte allerdings arg kurios. Der Twitter-Account Urlaubsland BW lockte mit dem Spruch „auf den Spuren eines Dichters zwischen Genie und Wahnsinn“. Und warum nicht eine Tour zum Lauffener Geburtshaus und zu weiteren Hölderlin-Erinnerungsorten planen? Zum Beispiel nach Tübingen. Die Touristeninfo verbindet allerdings die Information, dass Hölderlin „die 2. Hälfte seines Lebens in Tübingen“ verbrachte, mit einem Hashtag, der für manche Leser*innen auf weniger willkommene Weise einschlägig erscheinen könnte: #weareGermany. Die Verfasserin dieser Zeilen zügelte ihren Impuls zu kommentieren ‚Heidegger hätte das gefallen’. Nicht, weil es sich bei Heideggers Hölderlin-Lektüren um eine nationalistische Selbstfeier handelt, sondern weil sie einer von vielen Anlässen sind, eine vielschichtige Rezeptionsgeschichte von Hölderlin als ‚Kulturgut’ zu thematisieren.

Eine wichtige Frage in diesem Kontext lautet auch immer: Was sagen denn die Politiker*innen? Sieht man Jubiläen als Chance, Aufmerksamkeit für den Gegenstand Literatur zu erzeugen, kommt diesen Akteur*innen eine wichtige Rolle zu. Die Erwartung ist nicht, dass sie alle eine besondere fachliche Kompetenz als Vermittler*innen des kulturellen Erbes besäßen – die sollten sie sich vor allem für ihre Reden besorgen. Es geht schlicht darum, dass über Veranstaltungen mit Prominenz berichtet wird. Bei der Auftaktveranstaltung am 15. Februar sprach neben dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und Kulturstaatsministerin Monika Grütters der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Letzterer lobte die Sinnlichkeit und Rhythmik der Gedichte und erwähnte, wie viele verschiedene Menschen von Hölderlin fasziniert waren, nur um dann einseitig eine transformatorische Kraft der Literatur zu loben und über die ‚hoffnungsvolle‘ Seite von Hölderlin zu schwärmen. Mehr Rezeptionsgeschichte wagen, möchte man da rufen, denn nur so entsteht ein Bewusstsein dafür, wie wir uns heute noch unsere Dichterbilder schaffen. Die Hölderlin-Mythen sind Legion. Von Hölderlin-Versen in soldatischen Tornistern und nationalsozialistischer Vereinnahmung kann man ebenso viel wissen wie von einer zweifelhaften Bewunderung für die ‚Zerrissenheit‘ Hölderlins, einer Verehrung des ‚genialisch Wahnsinnigen‘.

Wirkmächtiger Kulturbotschafter und glaubwürdiger Kronzeuge

Stattdessen stößt man zufällig im Twitter-Account des Literaturarchivs Marbach auf den Slogan „Vom Elfenbeinturm in die Welt“ als Zitat von Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Man klickt verblüfft auf die Pressemitteilung und liest: „Er, der Deutschland kaum verlassen hat und die zweite Hälfte des Lebens in einem Tübinger Turm – im sprichwörtlichen Elfenbeinturm! – verbrachte, war dichtend ein Kosmopolit: unterwegs vor allem in Griechenland, aber auch in Asien, ja auf der ganzen Welt“. Da möchte man einiges aufdröseln: Über Griechenland als Projektionsfläche sprechen, fragen, was „Asien“ meint, wie der Autor im Turm gedanklich „unterwegs“ war und nicht zuletzt, was das mit dem sprichwörtlichen “Elfenbeinturm” zu tun hat, der für gewöhnlich in Reden von Politiker*innen auftaucht, wenn es um die Rolle der Universitäten und Wissenschaftskommunikation geht. 

Dass mit einem kosmopolitischen Hölderlin geworben wird, ist als Weltbild sympathisch, nur wäre es nicht die kleine Anstrengung wert, Auskunft darüber zu geben, wie dieses Bild zustande kommt? Der völkisch und nationalsozialistisch vereinnahmte Hölderlin ist nur eine Seite der Rezeption, doch genau dieser stellt man ja den Kosmopoliten Hölderlin entgegen. Die Frage, welche Werke oder auch nur welche Aspekte einzelner Texte welche Lesarten eher befördern als andere, passt offenbar nicht ins Konzept.

Fehlt es am Mut zur Ambivalenz oder wird gar nicht gesehen, dass man mit entweder-oder-Bildern vorsichtiger umgehen sollte? „Hölderlin bleibt wirkmächtiger Kulturbotschafter und glaubwürdiger Kronzeuge für die wechselseitige Inspiration unterschiedlicher Kulturen.“ Das klingt wunderbar, nur: Wie hat der Hölder das gemacht? Über welche Art von „Kosmopolitismus“ sprechen wir im historischen Rahmen und was meinen wir heute? Welche „wechselseitige Inspiration unterschiedlicher Kulturen“ schwebt uns vor? Wer ein Bild des zukunftsweisenden Hölderlin zeichnet, sollte schon etwas mehr bieten als allzu simple Bilder wie den Gegensatz von geistiger Freiheit und räumlicher Enge im Turm.

Nichts gegen Hölderlin-Umzüge für Kinder oder Musicals! Doch in ihren programmatischen Teilen wie Eröffnungen, Presseerklärungen u.a.m. sollten Jubiläen auch ein Anlass sein, über den Umgang mit dem kulturellen Erbe zu sprechen. Stattdessen dienen Jubiläen im Jahr 2020 offenbar dem Sich-Selbst-Feiern in einer althergebrachten bildungsbürgerlichen Manier. Man will verehren und huldigen. Dazu braucht es einen Autor, der es wert ist. Der höchstens einmal missverstanden wurde. Das lässt sich mit Hölderlin schon machen. Nur: In dieser Logik dürfen eben nicht alle historisch bedeutenden Autor*innen anlässlich runder Jubiläen mit mehr Aufmerksamkeit bedacht werden, sondern nur diejenigen, die man einigermaßen plausibel mit einem positiven Spin für die Gegenwart anpreisen kann. Und das ist ein Problem für die Erinnerungskultur.

Begeistert und skeptisch, feiernd und kritisch

„Hälfte des Lebens“ findet man in Anthologien, die angeblich die Lieblingsgedichte der Deutschen enthalten, doch Hölderlins Werk insgesamt hat durchaus den Ruf, „sperrig und hermetisch“ zu sein. Das ist ein Charakteristikum, kein zu beseitigender Makel. Wenn Theresia Bauer auf Twitter schreibt: „Staatssekretärin Petra #Olschowski ist sicher: Das Jubiläumsjahr zum 250. Geburtstag bietet Chancen, auch die jüngere Generation für das Werk Hölderlins zu begeistern“, klingt das erfreulich. Doch selbst wenn im Jubiläumsjahr mehr von Hölderlin gelesen würde: Wieso sollte Begeisterung das Ziel sein? Schüler*innen sollen sich für das Lesen begeistern, ja. Wieso für Hölderlin? Weil man kulturelles Erbe oder #weareGermany sagen kann? Oder hofft man gar auf einen “Fack ju Hölderlin”-Hype? 

Nirgends zeigt sich die Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Gegenstand Literatur klarer als bei runden Jahrestagen. Als Literaturwissenschaftler*in kann man dankbar für die Aufmerksamkeit und das ein oder andere Häppchen bei Empfängen mitnehmen. Noch schöner aber wäre es, wenn im weiteren Jubiläumsjahr auch über unseren Blick auf Hölderlins Werk gesprochen würde. Begeistert und skeptisch, feiernd und kritisch. 

 

Photo by Seyedeh Hamideh Kazemi on Unsplash

 

Falsche Empathie – “Queen July” und die Debatte um “American Dirt”

von Marcel Inhoff

Der Anthropologe James Clifford beschreibt in Returns: Becoming Indigenous in the Twentieth Century unseren aktuellen zivilisatorischen Moment. Es ist der Zeitpunkt, da die Fliehkräfte von Dekolonisation und Globalisierung ein Projekt angestoßen haben, das noch unvollendet, aber letztlich irreversibel ist. Es wird die Beziehungen der Menschen zu Heimat, Reisen und Flucht grundlegend verändern. Hatte Clifford im vorherigen Werk Routes noch die Bewegungen von Menschen an sich im Blick, reisende Kulturen und vieles mehr, so widmet er sich nun der Dezentralisierung westlicher Narrative – und speziell dem Aufkommen starken indigenen Handelns.

Ein besonderer Moment also, der von uns allen, aber vor allem auch von Autor*innen literarischer Werke, eine spezielle Achtsamkeit in Bezug darauf verlangt, wie man mit der Beschreibung der Welt umgeht. In diesen kulturellen Moment tritt nun, forsch und fröhlich, Philipp Stadelmaier. Sein Debutroman Queen July, im August 2019 erschienen, liest sich im Zusammenhang mit Cliffords Thesen wie eine direkte Zurückweisung. Denn auch bei Stadelmaier gibt es die Themen Dekolonisation und Globalisierung, die den Hintergrund der Handlung bestimmen. Diese kreist um zwei Schwarze französische Frauen, die nach ihrem Universitätsabschluss das Leben typischer young global professionals führen – July und Aziza. Aber drumherum? Alles westliches Narrativ.

Im Wesentlichen dreht sich der Roman um eine Liebesgeschichte, die Aziza an einem heißen Tag in Paris ihrer Freundin July erzählt: July in einer Badewanne voll kalten Wassers, Burgunder „nippend,“ Aziza daneben. So stellt sich Stadelmaier das Leben junger Frauen vor. Überhaupt wird in diesem Roman viel genippt. Die Phrase „und nippte ihr [Getränk]“ kommt häufig vor – wobei July ihrem Autor nicht zustimmt. Auf die Frage ihrer Freundin, ob sie das häufiger mache, [i]n der Wanne chillen und vom Burgunder nippen?“ antwortet July: „Nippen würde ich das nicht nennen, Honey. Das kann man schon als ehrliches Trinken bezeichnen.“ „Honey“ muss sein, denn Stadelmaier, der selbst jungen Alters ist, konstruiert in seinem Text einen Jugendslang geradewegs aus der Vorratskammer alter Männer, die über die Jugend schreiben. Aber dazu später mehr.

Die Liebesgeschichte, von Aziza ihrer Freundin July erzählt, ist das entscheidende Element des Romans. Persönliche Hintergründe der Figuren sind weitgehend nur Hintergrundfarbe. Der Roman nimmt zwar Themen, wie sie in Texten wie dem von Clifford umgehen, auf, aber man sieht sie wie in einem Zerrspiegel, aus Sicht eines Autors, der seine eigene Sicht kaum reflektiert. Da ist zum Beispiel die Globalisierung: July ist Ingenieurin, und kommt gerade von einer Großbaustelle in Portugal zurück. Aziza, Anästhesistin, ging nach dem Studium nach Afrika, um dort in einem Krankenhaus zu arbeiten. Es ist aber nicht irgendein afrikanisches Land – sondern Dschibuti, „die Heimat von Azizas Mutter“ – Stadelmaier streut diese Verwandtschaftsbeziehungen hier und da ein – July hat Verwandtschaft in Tel Aviv und Dakar, Azizas Vater kommt aus Kamerun – aber es scheint keine Rolle zu spielen, was das für die Figuren bedeutet. Da könnte auch Kopenhagen und Kaufbeuren stehen, und es hätte nicht mehr erzählerisches Gewicht für den Roman. Schon auf der ersten Seite wird klar, dass Afrika, als Teilschauplatz der Erzählung, sekundär ist. Sogar die Tatsache, dass Aziza in der Heimat ihrer Familie arbeitet, wo aber kaum noch jemand lebt, da fast alle schon ausgewandert sind, ist eine Erwähnung aber keinen Gedanken wert.

Bei Clifford steht die Forderung, westliche Narrative beiseite zu legen und anderen Stimmen zuzuhören. Damit schließt er auch an Denker wie Dipesh Chakrabarty an, der in Provincializing Europe festgestellt hatte, wie komplex und unaufhaltsam die Dezentralisierung westlichen Denkens ist. Und wie bei dem Verhältnis zur Globalisierung scheint auch Chakrabartys Idee hier wie in einem Zerrspiegel aufzutauchen – die Gleichzeitigkeit der Ideengeschichte und das umgekehrte Feedback zwischen den ehemaligen Kolonien und Europa findet sich auch in Queen July wieder, aber mit einem deutlich reaktionären Drall: Aziza fühlt sich in Paris „als sei sie immer noch in Dschibuti“ – aber nicht wegen eines komplizierten Verhältnisses zu Afrika – sondern weil sie schon in Dschibuti ausschließlich an Paris und ihre Liebesgeschichte gedacht hatte, und jetzt immer noch daran denkt, die Sehnsucht nach Paris also aus Afrika nach Paris mitgebracht hat. Der Roman konstruiert Figuren, deren Hintergründe eine spannende Geschichte erlauben würden, und kleistert alles mit einer banalen Liebesgeschichte zu, die so nach Schema F gebaut ist, dass man unwillkürlich überlegt, ob man nicht schon eine Geschichte mit exakt derselben Konstellation gelesen hat. Afrika ist nur irgendein Ort, wo Aziza sich (natürlich) vor der Liebe versteckt, denn sie hat sich (natürlich) verliebt in einen weißen Mann; ein (natürlich) unzuverlässiger Kerl, dessen Name, Anselm Strehler, deutscher nicht sein könnte. Um diese Geschichte unglücklicher Liebe zu einem Mann mit schwarzen lockigen Haaren und deutscher Abstammung, der in Frankreich lebt und arbeitet, mit, man möchte sagen: Pepp, aufzuladen und politischer Relevanz, hat der deutsche Autor seinen Figuren einen postkolonial komplexen Hintergrund gegeben – der ihm sonst aber weitgehend egal ist.

Wobei – egal ist nicht richtig. Der Roman scheint kaum damit beschäftigt, was es für die Personen bedeuten könnte, Schwarz zu sein. Tatsächlich ist es im Kontext seines noch jungen Werkes klar, dass sich Stadelmaier mit dem Schreiben über Schwarze Menschen ungemein wohl fühlt. In seinem Essay über die Anschläge von Paris, Die Mittleren Regionen kritisiert er den rechten Diskurs zum Thema Meinungsfreiheit und fühlt sich dabei bemüßigt, seitenlang sarkastisch rassistische Meinungen anzuführen, mit einer Offenheit und Leichtigkeit, die schon bemerkenswert ist, vor allem, da er dabei auch ohne zu Zögern das N-Wort benutzt (nicht in einem Zitat, nicht in Anführungszeichen, einfach so, quasi Rollenprosa). „Man muss den Leuten helfen, Dinge zu sagen, wie ‚Der Afrikaner ist kein Mensch.‘“ schreibt Stadelmaier. Das geschieht mit der rhetorischen Absicht, den rechten Diskurs zur Meinungsfreiheit, in dem eine Meinung nur dann verteidigungswürdig ist, „wenn sie rassistisch ist,“ ad absurdum zu führen. Der von Stadelmaier zu Recht kritisierte „verschreckte Afrikanophobe“ findet, Flüchtlinge seien „schlicht und ergreifend keine Menschen.“ Das ernste Thema dieser Passage, die rhetorische Gewalt nämlich, verträgt diesen locker-pathetischen Stil aber eigentlich nicht, vor allem, weil sie, wie man in diesen Tagen wieder merkt, regelmäßig von jenen, die von Stadelmaier unangenehm verniedlichend mit Begriffen wie „unser kleiner Afrikanophober“ angesprochen werden, in physische Gewalt übersetzt wird. Nun geht es in dem Essay um mehr als Rassisten, die sich über afrikanische Flüchtlinge echauffieren, es geht auch um das Diskursfeld Terror und Islam. Aber wie wichtig Stadelmaier diese eine Passage ist, zeigte sich auch bei der Preisvergabe des Clemens-Brentano-Preises für Die Mittleren Regionen, bei dem er anscheinend nur einen einzigen Satz vorlas. Der Artikel über die Verleihung bestätigt Stadelmaiers Empörungspathos, in dem er seine Lesung so beschrieb: er „komprimierte die geistige Stereotypie des Rassismus, ließ diesen in der Aussage kulminieren: “Der Afrikaner ist kein Mensch.“

Empathie ist bei ihm manchmal eine Einbahnstraße. Stadelmaier weiß zum Beispiel, dass Schwarzen Menschen in westlichen Ländern Rassismus widerfährt, und davon erzählt er auch in Queen July:„ein Freund ihres Bruders [wurde] einmal von zwei weißen Polizisten kontrolliert […], die ihn für einen Dealer hielten, und ihn, […] kurzerhand verprügelt hatten.“
Das erzählt Aziza dem „weißen, großen, hageren Boy“ Anselm Strehler. Als Autor entscheidet Stadelmaier nun, da Rassismus Schwarzen Menschen ständig widerfährt, stört es sie wahrscheinlich nicht besonders (stimmt natürlich nicht) und schreibt das auch genau so hin:„Aziza dachte sich nichts weiter dabei – derartige Schikane waren für Nichtweiße in Paris Alltag – und nippte an ihrer Leffe.“

Wen diese Geschichte aber besonders anrührt? Natürlich Strehler. Strehler ist sensibel und hat deshalb einen Emotions-„Panzer“ („um sich zu schützen, sich zusammenzuhalten, nicht auseinandergerissen zu werden.“) Strehler ist zu sensibel – und unter dem „Panzer,“ einem katatonisch scheinenden Äußeren, ist er „besonders stürmisch,“ was Aziza „eigentlich auch ziemlich anturnend“ findet. Und weil er so sensibel ist, ist er schockiert, dass es Rassismus gibt. Die Nüchternheit der Beschreibung des rassistischen Vorfalls steht hier in starkem Gegensatz zu der atemlosen Beschreibung des stürmischen Innenlebens von Strehler. Seine emotionale Verletzung durch den Vorfall (und wie sich das auf Azizas Anziehung auswirkt) steht im Vordergrund.

Dieselbe Empörungspoetik steht auch bei einem anderen Roman im Vordergrund, der aber gerade wesentlich mehr Wellen schlägt. Die Rede ist von Jeanine Cummings‘ Roman American Dirt, in dem Cummings, eine weiße Frau, das Leiden und die Qualen mexikanischer Immigranten thematisiert. Eine Zusammenfassung der Kontroverse kann man zum Beispiel hier finden. Sie wurde, nachdem der Roman zunächst einhellig gelobt wurde, durch zwei kritische Rezensionen losgetreten, eine von Myriam Gurba und eine von Parul Sehgal. Beide stellen fest, dass der Roman zum einen schlecht geschrieben ist, und zum anderen Klischees über Mexikaner transportiert. Wie Stadelmaier bietet Cummings den Leser*innen ein Buch, in dem es eigentlich primär um Empathie für die schreibende Person geht und nur sekundär um die Figuren des Buches. Das wird deutlich durch ein Nachwort, in dem die Autorin nachdrücklich erklärt, wie nahe ihr das Thema geht. Sie stellt dar, dass sie besondere Empathie für bestimmte Themen aufgrund eines brutalen Gewaltverbrechens an ihren Cousins und ihrem Bruder hat: “Because that crime and the subsequent writing of the book were both formative experiences in my life, I became a person who is always, automatically, more interested in stories about victims than perpetrators. I’m interested in characters who suffer inconceivable hardship, in people who manage to triumph over extraordinary trauma.” – und erklärt, dass sie deshalb ein Buch über ganz normale Menschen schreiben wollte: „Regular people like me. How would I manage[…]?“ Klarer kann man das Projekt der Aneignung des Traumas und der Geschichte eines Landes nicht machen.

American Dirt taugt nicht als emblematische Darstellung des Konfliktes an der Grenze, gerade weil nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch die Bösewichte keiner realistischen Darstellung entsprechen. Tatsächlich geht es Cummings, folgt man der „Author’s Note“ nicht um Realismus im eigentlichen Sinn. Sie erklärt zwar, recherchiert zu haben, macht aber ausdrücklich klar, es handele sich um „a work of fiction,“ und schafft sich damit den Freiraum, den man fiktionalen Texten allgemein eher zugesteht. Mögliche Fehler gibt sie freimütig und direkt zu: „I worried that […] I’d get things wrong, as I may well have.” Es geht ihr darum, Menschen zum Nachdenken zu bewegen („to create a pause“), und eine Brücke zu bauen. Im Grunde, obwohl sie sich gewünscht hätte, dass „someone slightly browner than me“ so ein Buch hätte schreiben können, hat sie diesen Menschen eben diese Fähigkeit zum Brückenbauen voraus. Für dieses Projekt ist es nicht wichtig, dass das Buch gut geschrieben ist. Wie Parul Sehgal detailliert festhält, ist das Buch schlecht geschrieben, aber sogar seine Verteidiger, darunter die große mexikanisch-amerikanische Schriftstellerin Sandra Cisneros, verteidigen das Buch nicht aufgrund etwaiger ästhetischer Stärken – Cisneros wiederholt im Wesentlichen Cummings‘ eigenes Argument, indem sie erklärt: „it’s going to change the minds that, perhaps, I can’t change.”

Im Wesentlichen hat bereits James Baldwin 1955 Bücher wie das von Cummings beschrieben: in einem Essay mit dem Titel „Everybody’s Protest Novel“ – über Uncle Tom’s Cabin. Dieses Buch, schreibt er, sei ein „sehr schlechter Roman“ und die Autorin mehr Pamphletistin als Romanschriftstellerin. Das einzige Ziel dieses Romans sei es, klarzumachen, dass Sklaverei schlecht sei, und zwar mit theologisch inspiriertem Terror, bei dem es allein die Leiden der Schwarzen Hauptfigur seien („the incessant mortification of the Flesh“), die einen moralischen Triumph auslösen würden. Diese Formulierung von Baldwin – in einem sehr kritischen Artikel – wiederholt Cummings fast wörtlich, wenn sie in ihrem Nachwort ihr Interesse an „people who manage to triumph over extraordinary trauma” erklärt, Somit wird klar, dass das, was manche Leser als „torture porn“ bezeichnen, in einer sehr speziellen (und sehr weißen) Tradition steht; wobei der Vergleich mit dem wirkungsmächtigen Roman Harriet Beecher-Stowes die politische Zündkraft von Cummings‘ Roman übertreibt. Cummings geht es eigentlich nicht wirklich um die Latinx Figuren, oder um ihre möglichen Hintergründe, deshalb hat sie sie so nah wie möglich an ihrem eigenen Leben konstruiert. Journalisten, Kulturschaffende, sogar der Kartellchef ist ein verkappter Bücherwurm.
Hier enden zunächst die Ähnlichkeiten mit Stadelmaiers Roman. Zum einen ist da das schriftstellerische Handwerk. Anders als Queen July ist American Dirt, wenn man sich einmal eingelesen hat, wirklich mitreißend, mithin handwerklich, wenn auch nicht sprachlich, gelungen. Die Vorstellung, über 400 Seiten (die Länge von American Dirt) von Stadelmaiers Prosa lesen zu müssen ist dagegen eher angsteinflößend. Queen July ist stilistisch uneinheitlich. Kurze Sätze wechseln sich mit unstrukturierten Wortkaskaden ab, so wie folgende Beschreibung einer Party der jugendlichen Aziza in der Wohnung einer reichen Mitschülerin:

„Mama und Papa waren auf Mauritius und plätscherten mit den Füßen in paradiesischen Gewässern, während ihre Tochter das Pariser Familienapartment in allen nur denkbaren Positionen nach Strich und Faden ordentlich durchzuficken gedachte, was sich nicht nur auf die diversen zwischenmenschlichen Interaktionen bezog, die sich an diesem Abend zuhauf in den zehn Zimmern des Altbauetablissements abspielten, sondern vor allem auf Möbel und Mobiliar sowie die beeindruckende Sammlung von Ölgemälden von namenlosen und vertrottelt dreinblickenden weißen französischen Marschällen und Herzogen, die illustre weiße Vorfahren einst in Schwerstarbeit zusammengetragen hatten.“

Zusätzlich dazu bietet der Roman noch die Art von Wiederholungen, die typisch in Erstfassungen sind. So folgt auf „Sie fühlte sich verarscht.“ Zwei Sätze später: „Ja, sie war wirklich verarscht worden.“ Am schlimmsten sind aber die Coelhoesken Gefühlsbanalitäten – die deshalb besonderes Gewicht haben, weil Azizas amour fou zu Strehler das emotionale – wenn man das so sagen kann – Herz des Buches ist. So erklärt Stadelmaier: „Sie versuchte, sich in ihn zurückzuziehen, weiter in ihm und durch ihn zu leben. Es ging nicht.“ In einer Passage, in der Aziza sich Vorwürfe macht, wird Stadelmaiers Tendenz zur Wiederholung und zum inhaltslosen Formulierungskitsch besonders deutlich:

„Aziza begann, Strehler zu hassen, vor allem aber hasste sie sich selbst dafür, dass sie ihn hasste und hassen musste, dafür, dass sie das Allerschlimmste nicht von sich hatte abwenden können. Sie hatte es zugelassen, dass er für sie zum Geheimnis geworden war, und dieses Geheimnis war irgendwann aus der Verborgenheit gehüpft, hatte ihr die Fresse poliert und die Wirklichkeit in einen Albtraum verwandelt. Denn Strehler hatte nicht einfach ihren Glauben an Strehler oder an die Liebe zerstört, sondern die Wirklichkeit selbst hatte gebebt und war bebend in sich zusammengefallen. Ihr Bewusstsein war ein Trümmerfeld, und die Trümmer drehten sich in einem quälend langsamen Strudel, dick und zähflüssig.”

Die wirren Metaphern sind eine Sache, das ist eine Frage des Handwerks. Die leeren Hülsen in der Beschreibung von Azizas Gefühlen wiegen hier schwerer, weil sie einen Mangel an Empathie verraten.

Zum anderen steht die Geschichte bei American Dirt wenigstens im Dienst einer politischen Idee – gerade die spannende Handlung wird von Lesern wie der Autorin Lauren Groff im Zusammenhang mit dem Problem der mexikanisch-amerikanischen Grenze wahrgenommen. Es ist eine Geschichte, in der es um ein politisch-soziales Problem geht, – und keine Geschichte vom Schneideraum des Traumschiffs, wie in Queen July. Eine Episode aus Azizas Leben bietet dafür ein sehr gutes Beispiel. Als es einen schweren Terroranschlag in Dschibuti gibt, ist Aziza niedergeschlagen. Sie stellt fest:

„[d]er Terror würde sich nicht verabschieden. Nicht für sie in Dschibuti und erst recht nicht für die Somalis, die am meisten unter Al-Shabaab zu leiden hatten, wenn sie nicht den Anti-Terror-Aktionen der Kenya Defence Forces oder den oftmals äußerst unpräzisen amerikanischen Drohnenangriffen zum Opfer fielen (wonach sie posthum ebenfalls als »Militante« deklariert wurden). So blieb ihnen oft nichts anderes übrig, als zu fliehen, in die Refugee-Camps von Dabaab, nach Nairobi oder Europa – oder nach Aylan.“

Und im nächsten Satz wird dieses Statement kontextualisiert. „Nein, der Terror würde nicht verschwinden, und da kapierte sie, dass es ihr mit Strehler nicht anders ergehen würde.“ In diesem Roman ist alles relativ und am Ende kommen wir immer zu Anselm Strehler und der Liebesgeschichte zurück. Strehler ist nämlich sowas ähnliches wie ein Terroranschlag „Strehler, das war wie der Terror, eine imaginäre Form des Terrors. Irgendwann taucht er mit seiner Kalaschnikow in deinem Leben auf und mäht alles nieder.“

Für den Roman ist es nicht so wichtig, wie Aziza sich mit dem Terror fühlt, wie es sich anfühlt, wenn mitten in der Heimat der Mutter eine Bombe hochgeht. Es ist nicht so wichtig, dass Aziza zur Schule mit reichen weißen Pariser Kindern ging. So gibt es eine Szene, wo Aziza sich auf einen Teppich erbricht, der von einem Leutnant Napoleons nach Napoleons Sieg in Ägypten zurück nach Frankreich gebracht wurde. Napoleon selbst stand auf dem Teppich, erklärt eine Klassenkameradin voller Entrüstung, die eine Nachfahrin eben jenes Leutnants ist, während wir in einem Nebensatz hören, dass Aziza auch ägyptische Verwandte hat. Wir erfahren nichts Näheres zu der Situation, wie sich Aziza damit fühlt, unter wohlhabenden Weißen mit Kolonialvergangenheit aufzuwachsen. Ein bisschen Recherche könnte zu Schwarzen Autorinnen wie May Ayim und Alice Hasters führen, die beschrieben haben, wie sich genau diese Situation anfühlt. May Ayim hat in „Weißer Stress und Schwarze Nerven“ den „Stressfaktor Rassismus“ beschrieben, zu dem auch gehört “in einem überwiegend weißen Bezugsfeld“ aufzuwachsen – genau wie es bei Aziza der Fall ist. Auch Alice Hasters beschreibt, wie es sich anfühlt, „[d]ie einzige Schwarze im Raum zu sein.“ Das sind Erfahrungen, von denen man nur erfährt, wenn man sich für die Menschen interessiert, über die man schreibt, wenn man recherchiert, fragt, zuhört und liest, zum Beispiel Bücher Schwarzer Autorinnen, die auf deutsch oder in Deutschland publizieren, wie Ayim, Hasters oder auch Noah Sow und Sharon Otoo.

Für Stadelmaier hingegen reicht seine eigene Imagination. Für die im Buch recherchierten Fakten reicht Wikipedia. Stadelmaier referiert diese Fakten dann auch knapp und emotionslos: „Deutsche Soldaten gibt’s zwar, aber die kämpfen gegen die Piraten im Golf von Aden. Ansonsten führen die Chinesen einen Wirtschaftskrieg gegen die Amerikaner. Dschibuti ist Freihandelszone und der wichtigste Hafen in Ostafrika.“ Im Grunde bleibt alles, was den politisch und postkolonial relevanten Hintergrund der beiden Frauen betrifft, Anekdote, Couleur, Hintergrundrauschen, und letztlich auch ein metafiktionales Spiel. Wie übrigens auch der Titel des Romans, benannt nach einem unvollendeten Film Erich von Stroheims, Queen Kelly, in dem Gloria Swanson nach diversen Verwicklungen erst einen deutschen Kolonialisten in Deutsch-Ostafrika heiraten muss und dann zur „Königin“ eines Bordells in Tansania aufsteigt.

Ein anderes Problem, das American Dirt und Queen July verbindet, ist, wie sie mit Sprache umgehen. Die Sprache in Queen July ist immer etwas angestrengt berufsjugendlich, aber besonders relevant ist eine Szene, die in mehrerer Hinsicht auffällt: ein Monolog von July, die hier eine Episode aus ihrem eigenen Leben erzählt, und nicht, wie sonst, nur zuhört. Ihre Sprache ist voller Slangausdrücke, soll offensichtlich frisch und jung klingen, aber stattdessen klingt der Text hier weitgehend so, wie die missglückten deutschen Übersetzungen amerikanischer Beatliteratur. Wie mit der Empörung bei den Mittleren Regionen zeigen auch hier die Rezensionen, dass Stadelmaier hier mit einer sehr speziellen Leserschaft – der institutionellen nämlich – auf einer Wellenlänge liegt. July will „Lenden wackeln […] lassen,“ oder „nett abchillen,“ während Menschen um sie herum „heftigst miteinander abgehen“ und ihr das „pralle Leben entgegenströmt.“ Eine diebische Freude an der leichten, höflichen sprachlichen Entgleisung wird hier deutlich, die in einer ganz kleinen Obszönität mündet: „irgendwann nehm ich meine Hand von ihrem Arsch, geh ihr unter den Rock und fang an, ihre Muschi zu fingern.“ Diese Art von animiertem Slang ist üblich in weißem Schreiben über Schwarze Menschen, wie Sianne Ngai in ihrer Beschreibung von „animatedness“ nachweist – mehr noch, Ngai zeigt überzeugend, dass die Figur der Begeisterung („thrill“) über diese bestimmte Lebhaftigkeit auch dann noch einen rassistischen Hintergrund hat, wenn die beschriebenen Figuren gar nicht Schwarz sind.

Hinzu kommt das Problem des Slangs an sich: für Schwarze Menschen ist die Frage des Dialekts oder Akzents keine einfache. Mündlichkeit und Identität hängen zum Beispiel im Werk Afroamerikanischer Autorinnen eng zusammen, wie z.B. Eva Boesenberg in ihrer Dissertation gezeigt hat. Auch die Präsentation dieser zeitlich und kulturell unbestimmten Coolness in Julys Sprache ist nicht unproblematisch, ist doch die Annahme Schwarzer Coolness hochkomplex und schwierig. Zudem sprechen die Figuren, so nimmt man an, französisch; um welche Art von französischer Jugendsprache es sich handelt, erfahren wir nicht. Die Spielsprache Verlan zum Beispiel gelangte in französischen Banlieues zu neuer Prominenz und ist heute stark mit Einwanderern aus Nordafrika assoziiert. Zudem wird in Frankreich gerade von Schwarzen Schauspieler*innen erwartet, einen „afrikanischen“ Akzent zu haben – was Julys „frische“ Jugendsprache besonders problematisch macht. Man vermisst in diesem Roman eben überall, bis in die Verästelung der Sprache, ein Gespür für das Gewicht, das ein Leben als Schwarze Frau in einer “whitriarchal society” bedeutet, ein Begriff, den die französische Afrofeministin Sharone Omankoy geprägt hat.

Nun erscheint Queen July zu einer Zeit, in der wir -zum Glück- besser in der Lage sind, solche Romane einzuordnen. Texte, wie das eingangs zitierte Buch von James Clifford, die neueren Bücher von Autorinnen wie Alice Hasters, oder das vielgepriesene Buch von Reni Eddo-Lodge suggerieren, dass wir uns gesellschaftlich in eine andere Richtung bewegen. Es sind allerdings Bücher wie Queen July, die darstellen, wie stark der Sog der weißen, männlichen Literatur noch ist.

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Unsichtbare Frauen – Was Daten nicht erzählen

von Cordula Kehr 

 

Die Beobachtung ist eigentlich nicht neu: der prototypische Mensch ist männlich – Frauen sind das Andere, das atypische Geschlecht. Die westliche Kulturgeschichte ist geprägt von diesem Männerzentrismus und die feministische Kritik an ihm füllt inzwischen auch eigene Bibliotheken. Allerdings – und hier setzt Caroline Criado-Perez’ Buch Unsichtbare Frauen an – hat sich in unserer von Daten beherrschten Welt der Kontext verändert, in dem die Perspektiven und Bedürfnisse von Frauen übersehen und übergangen werden: Big Data hat eine geschlechterbezogene Datenlücke. Sie ist sowohl Ausgangspunkt als auch Folge der Diskriminierung von Frauen. 

Big Vagina vs. Big Data

Criado-Perez, die sich auf Twitter als „Lobbyist for Big Vagina“ bezeichnet, nimmt sich in ihrem gerade auf Deutsch erschienenen Buch diesen Gender Data Gap vor. Sechs Themenfelder – Alltagsleben, Arbeitsplatz, Design, Bildergebnis für criado perez Unsichtbare FrauenArztbesuch, Öffentliches Leben und Katastrophenmanagement – nutzt sie als Schauplätze, um evidenzbasiert (also auf Basis empirisch ausgewerteter Daten) die Benachteiligung von Frauen vorzuführen. Es geht ihr darum, die (Gender-)Neutralität von Algorithmen in Frage zu stellen und die weibliche Hälfte der Bevölkerung zu rezentrieren. Denn obwohl wir geradezu manisch Daten sammeln, bleiben Frauen zu oft unsichtbar: „Frauen werden nicht gesehen, und man erinnert sich nicht an sie, weil Daten über Männer den Großteil unseres Wissens ausmachen.“

Wie oft Frauen einen Autounfall überleben, wenn sie selbst am Steuer sitzen? Wissen wir nicht. Dafür kennen wir die Überlebenschancen eines 1,77 m großen und 76 kg schweren Crashtest-Dummys. Wissen wir, welche Nebenwirkungen ein Medikament für Frauen hat, oder nur welche bei männlichen Mäusen auftreten? Berücksichtigen Algorithmen, die Schichtpläne erstellen, dass die meisten Frauen nicht nur Lohnarbeit sondern auch Care-Arbeit leisten?

Die Benachteiligung von Frauen ist weder individuell noch zufällig, sondern strukturell und allgegenwärtig. Anschaulich reiht Criado-Perez in ihrem Buch Studie an Studie und nutzt diese beeindruckende Datenfülle, um mit Nachdruck einen Systemwandel zu fordern. Sorgfältig recherchierte Daten werden durch Storytelling ergänzt, O-Töne betroffener Frauen illustrieren Statistiken, und Criado-Perez schöpft auch mal aus dem Privaten, um das Politische zu erzählen. 

Ohne Storytelling reproduziert sich die Datenlücke

Wie aber lässt sich die Geschichte einer Abwesenheit erzählen? „Es gibt eine Leerstelle in den wissenschaftlichen Daten in Bezug auf Frauen im Allgemeinen […], doch über Schwarze Frauen, behinderte Frauen oder Frauen aus der Arbeiterschicht gibt es praktisch keinerlei wissenschaftliche Daten.“ Damit macht Criado-Perez auf einen grundlegenden Widerspruch ihres Buches aufmerksam: Einerseits argumentiert sie datenbasiert und weist Diskriminierung in Zahlen nach. Andererseits will sie die Folgen und Ursachen der geschlechterbezogenen Datenlücke beschreiben, also über fehlende Daten sprechen. 

Das ist ein Problem! Die Datenlücke potenziert sich, wo es nicht um weiße, nicht-behinderte, wohlhabende, heterosexuelle Frauen geht. Gleich zu Beginn ihres Buches verspricht Criado-Perez deswegen, dass sie intersektionale Daten, soweit vorhanden, immer anführen wird. Sehr selten werden also „Frauen aus ethnischen Minderheiten“ oder „Frauen aus der Arbeiterschicht“ sichtbar. Und Criado-Perez erinnert wiederholt daran, dass nicht alle Frauen in gleicher Weise benachteiligt sind, selbst wenn ihr keine Daten zu Mehrfachdiskriminierungen vorliegen. 

An einigen entscheidenden Stellen verzichtet die Autorin dann aber darauf, ihren Blick intersektional zu weiten und Positionen zu benennen, die von der weiblichen Mehrheitsperspektive abweichen. So ignoriert sie die Sicht von Frauen mit Behinderung auf Mobilität, von Frauen of Color auf Care-Arbeit und von queeren Personen auf Zweigeschlechtlichkeit. Das ist nicht einfach eine Frage der fehlenden Repräsentation. Bei vielen Themen, die das Buch anschneidet, fällt es nicht besonders ins Gewicht, dass eine vermeintlich homogene Gruppe von Frauen konstruiert wird. In den genannten Fällen verzerrt die fehlende Differenzierung aber den Blick auf vorhandene Ausschlüsse. 

Frauen mit Behinderung brauchen zum Teil andere öffentliche Mobilitätsangebote und sind stärker auf Barriereabbau im öffentlichen Raum angewiesen als Frauen ohne Behinderung. Persönliche Mobilität ist nicht umsonst ein eigener Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention. Es gibt Studien die zeigen, dass weiße Frauen nicht in gleichem Maße Care-Arbeit leisten wie Frauen of Color, weil sie sich häufiger davon freikaufen können. Man fragt sich, warum diese Zusammenhänge im Buch unterbelichtet bleiben.

Die Probleme des Buches zeigen sich etwa in der Art, wie die Autorin die folgende Anekdote zu genderneutralen Toiletten verwendet, ohne die Perspektive queerer Personen auf Zweigeschlechtlichkeit zu berücksichtigen: „Im April 2017 wollte die erfahrene BBC-Journalistin Samira Ahmed auf die Toilette gehen. Sie war gerade bei einer Pressevorführung […] im berühmten Barbican Arts Centre in London […].“ Als Ahmed in der Pause die Toilette aufsuchen will, ist die Schlange noch länger als üblich: „Wie um in fast komischer Manier zu beweisen, dass an Frauen kein bisschen gedacht worden war, hatte das Barbican sowohl die Herren- als auch die Damentoiletten geschlechtsneutral gestaltet. Die Schilder für „Männer“ und „Frauen“ waren durch die Hinweise „geschlechtsneutral mit Urinalen“ und „geschlechtsneutral mit Kabinen“ ersetzt worden. Es geschah das Naheliegende: Nur Männer benutzten die angeblich ‚geschlechtsneutralen‘ Toiletten ‚mit Urinalen‘, und beide Geschlechter benutzten die ‚geschlechtsneutralen mit Kabinen‘.“

Criado-Perez nutzt in ihrem Buch Anekdoten, um starke Identifikationsmomente zu schaffen. Aber warum nutzt sie sie nicht, um genau die Perspektiven sichtbar zu machen, die in der Datenlücke verschwinden? Geschlechtsneutrale Toiletten richten sich an queere Personen, die sich jenseits der zweigeschlechtlichen Norm verorten und sich auf „Herren- und Damentoiletten“ nicht wohl fühlen. Wer wie Criado-Perez beklagt, dass Männer Frauenanliegen auf die Zeit nach der Revolution verschieben wollen, sollte aufpassen, nicht selbst Perspektiven zu marginalisieren, die in der geschlechterbezogenen Datenerhebung nicht sichtbar werden. Wer nicht gezählt wird, zählt nicht – das trifft bei Studien über Männer und Frauen auf alle zu, die sich jenseits der zweigeschlechtlichen Norm verorten. Das hätte man zumindest kurz erwähnen können, wenn man Anekdoten über genderneutrale Toiletten erzählt.

Gleichstellung: eine Frage fehlender Daten?

Und apropos nicht gezählt werden: Kurz vor der Oscar-Verleihung vor zwei Wochen forderte die Journalistin Ann Mbuti im monopol Magazin, dass wir mit dem Zählen aufhören: Unter Hashtags wie #OscarsSoWhite und #OscarsSoMale würde nur gezählt, wer fehle, die Ursachen der ungerechten Strukturen würden nicht analysiert. Das System ändere sich so nicht, egal wie oft wir Oscars zählten.

Natürlich ist Gleichstellung nicht einfach eine Frage vorhandener oder fehlender Daten. Es reicht nicht, geschlechterbezogene Daten zu erheben und Benachteiligungen sichtbar zu machen. Entscheidungsträger*innen müssen aus diesen Daten auch einen Handlungsbedarf ableiten. Criado-Perez plädiert in ihrem Buch deshalb nicht nur dafür, Gleichstellungsdaten zu erheben, sondern diese auch zu nutzen. Was aber hindert Entscheidungsträger*innen daran, evidenzbasierte Politik zu machen? Natürlich ist es immer leicht, Bedürfnisse zu übersehen – ob absichtlich oder unabsichtlich –, die nicht die eigenen sind.

Criado-Perez benennt aber auch den offenen Widerstand gegen Gleichstellungspolitik, der sich z.B. in Form sexistischer Shitstorms äußert. (Der Verdacht liegt nahe, Männer, die nicht genug Care Arbeit leisten, haben zu viel Zeit, um im Internet zu trollen.) Und gerade privilegierte Menschen hängen oft dem Mythos der Meritokratie an, der ihnen suggeriert, ihre gesellschaftliche Stellung sei allein eine persönliche Leistung, die sie ihrem Talent zu verdanken haben. 

„Dieser Mythos verstellt den Blick auf die institutionalisierte Bevorzugung weißer Männer. Und er ist leider bemerkenswert immun gegen die seit Jahrzehnten bekannten Fakten, die ihn als Fantasie entlarven. Wenn wir diesen Mythos abschaffen wollen, genügt die bloße Datenerhebung nicht.“  

Criado-Perez nennt Quoten, finanzielle Anreize und gesetzliche Verpflichtungen sowie bessere Meldestrukturen für Diskriminierungsfälle als mögliche politische Stellschrauben, um Gleichberechtigung zu erwirken. Um diese Schrauben anzubringen, brauche es aber mehr Politikerinnen, und dazu brauche es wiederum Quoten und ein frauenfreundlicheres Arbeitsklima in der Politik. Was also tun?

Unsichtbare Frauen von Caroline Criado-Perez ist ein Plädoyer dafür, den Gender Data Gap zu schließen. Es ist keine Anleitung, wie man die politischen Widerstände auf dem Weg dorthin überwindet. Vielleicht kann es aber zum Gesprächsanlass werden, um datenbasiert über Benachteiligung zu sprechen und – im Gespräch – intersektionale Datenlücken durch Storytelling zu verkleinern. Dann könnte dieses Buch zum Ausgangspunkt einer solidarischen feministischen Bündnispolitik werden.

 

Photo by Crissy Jarvis on Unsplash

Randnotizen

Manchmal stößt man beim Scrollen durch die Timeline auf Texte, die den gewöhnlichen Strom aus Neuigkeiten, Selbstnarrativierungen und Sprachspielen weit hinter sich lassen und Statusmeldungen in Literatur verwandeln – Elisa Asevas Beiträge auf Facebook gehören zu diesem Genre. Wir freuen uns daher, dass wir Texte von Elisa Aseva in der Reihe 54stories präsentieren können.

 

10.11.2018, 21:45 Uhr

beim aufräumen die unscharfen fotos.
du auf dem sofabett, vor dem kacheltisch mit kram drauf.
das war der winter in dem wir die eissorten mit den meisten chemischen zusätzen durchgingen.
und die verfügbaren bestellservices, am liebsten chinabox wegen der verpackung mit den süßen drachen. es war der winter in dem wir uns die schwere decke teilten.
es gab nur diese eine, aber sie war groß wie ein see oder ein schwimmbad.
groß genug jedenfalls um nur kurz daraus aufzutauchen, aufs klo zu gehen oder das eis aus dem fach zu holen.
manchmal schwammen wir darin. ich suchte deine hand.
und dann gleiten durch die unterdecketiefen

– – –

rauhe seesternhaut, anemonenblick.

hörst du die wale?
jaaa.

– – –

wir durchfluteten uns, tauchten ineinander, neben dem griff in die chipstüte oder zur fernbedienung.
unser atem legte eisblumen auf die fenster, wir freuten uns darüber.
noch eines dieser wunder.
als immer öfter die türklingel ging, hielten wir die luft an um das lachen zu verdrücken. wenn es gar nicht mehr ging, pressten wir die münder in die decke und lachten stumm hinein.
du suchtest meine hand.
nachdem die heizung abgeschaltet wurde wärmten wir aus dem backofen, unserem “kamin” und tauchten noch tiefer hinab. bis es in den ohren rauschte.

bis ich eines morgens erwachte, aus dem bett und über die im zimmer verstreuten tüten und eisschalen stieg und vorsichtig die tür zuzog.
der morgenverkehr stand noch bevor, die strasse lag leer. durch den pyjama spürte ich warmen wind + beschloss dem salz in der luft zu folgen.

hey. ich hoffe es geht dir gut.
keine offenen rechnungen für nessie

 

24.11.2018, 15:46 Uhr

warte! nur noch rasch
den honig erwärmen bevor ich ihn dir
über die blassen kokosbrüste gieße
das fenster öffnen auf dass
schwarzer sesam hereinwehe
und kältemoleküle
deine süße speise kosten
rieche donner atme blitz
wenn sich die temperaturen
auf meiner zunge
begegnen

 

22.01.2019, 13:37

die deutschen mit ihrem distanzfetisch. selbst in engeren freundeskreisen gibt es recht klare vorstellungen, dies das sei PRIVAT, jenes schon wirklich grenzüberschreitend + wer zuviel von sich zeigt mindestens bemitleidenswert.

vielleicht hat der nationalsozialismus einen verborgenen dabei physischen ekel hinterlassen.
gefühle, so scheint es jedenfalls, schmecken den deutschen so gut wie saure milch.
+ nähe ist wenn du die toilette von einer person übernimmst nur um mitten in ihren dämpfen zu stehen

 

8.4.2019, 16:26 Uhr

geht man mit 1 kind an der hand durch 1 dunklen wald
wird man größer ruhiger stärker weil die ganze angst nun beim kind ist

das ist das seltsame talent der kinder

 

4.7.2019, 19:52 Uhr

ausländisch

ausländer – der begriff ist heute etwas verpönt aber ich hab ihn gern.
fragt mich wer ob ich deutsche sei sage ich:
gott nee, ich bin ausländerin.
auf weitere nachfrage dann: afrikanerin.
das gerne weil es leute oft richtig stört (“echt afrika? sieht man gar nicht so bei dir. dachte
brasilien/kuba/philippinen”). + es stimmt schon nur noch so halb, auch in äthiopien bleibe ich
ausländerin.

ein freies weites wort.
ich will wohnen wo die ausländer*innen sind, essen mit den ausländern,
ausländisch lieben, denken + wichtig: trauern – das machen sie hier einfach nicht.
ich träume also davon dass wenn ich einmal sterbe alle zu ausländer*innen geworden sind, jede für sich.

in den menschen liegt ein ausland. + wer weiß.
vielleicht grenzen wir mal aneinander

 

7.9.2019, 14:31 Uhr

alle reden vom osten, einige sind von dort, manche waren mal da.
mein bruder zb.
1993 wurde er per zvs dekret nach greifswald zum studium entsandt. bitten + flehen halfen nichts – nur weil da gerade ausländer abgefackelt werden können wir nicht das gesamte SYSTEM umstellen, schließlich immer noch deutschland, hier bekommt niemand eine extrawurst. na gut.
brav reihte sich mein bruder jeden zweiten tag in die ewige schlange vor der telefonzelle ein um seiner schwester + seiner mutter zu versichern “hallo hab’s wieder überlebt, bin immer noch da”. recht schnell wurde er teil einer clique von ausländer-medizinstudis – ein schweiz-iraner, ein weiterer äthiopier + ein fliegerjackentragender grieche namens stavros kanakis.
an den weiten ostseestränden träumten sie vom gewinn der greencardlotterie, einem discobesuch ohne stress + der gutlaufenden gemeinschaftspraxis. gemeinsam flohen sie vor faschos, letschogemüse + dem nächsten staatsexamen.

heute arbeiten alle als ärzte.
2 von 4 sollten eine psychotische episode erleben.
1 gewann tatsächlich bei der green card lottery.
3 sind nach jetzigem stand eltern von mehr als 1 kind.
stavros trägt immer noch den besten nachnamen der welt.
geblieben ist keiner

 

6.11.2019, 21:43 Uhr

gut küssen ist wenn’s flüssig wird. nein nicht nur spucke
ich meine tiefer, in den muskeln + anderen verhärtungen.
gut küssen ist wenn ich dich erreiche, halbfest
+ halbweich mache; nicht so dass du matsch wirst.
gut küssen ist zahnfleisch.
gut küssen ist fallen aber ohne angst. nach unten nach oben
hin + weg.
gut küssen ist eine gelegenheit:
in die wellen werfen + auf den grund sinken.
die fähigkeit besteht darin nicht ans ersticken zu denken.
wir atmen luft für generationen.
gut küssen wäscht ängstlichen furcht ab,
religiösen den glauben, müttern die sorgen.
wir senden fluten.
algen wehen, quallen steigen aus den brücken.

komm her koralle. dein riff setzt mich frei

 

5.12.2019, 07:33

ob es nochmal schneien wird?
in berlin macht mich das immer fertig, der unausweichliche matsch, die schmutzige beschwerlichkeit. beides in der stadt ohnehin reichlich vorhanden, nach dem schneefall kippt es dann. gut, das eine aufgeregte wochenende an dem isolierverpackte kinderballen in die parks strömen. ihre schlitten hinterlassen zugspuren, darin reste von silvesterknallern.
hier diese farbe von altem blut, da an der baumscheibe sulfursprenkel. von der hauswand wölben plakate runter – pisse diese band die sie jetzt mögen hat schon wieder gespielt. urin wäre der bessere name gewesen.
sowas regt mich manchmal auf, wenn es so naheliegend ist. nein es regt mich nicht auf. nur ein halber schmelzender egalgedanke.
bald wird es tropfen. schnee schmerzt mich, wenn er fällt hält alles andere an.

wir stehen am fenster, sehen durch die atembeschlagene scheibe. wechselndes ampellicht.
ich will die welt runterzählen, bis auf deine haut bis auf jedes wort dass es jetzt nicht braucht. bleib.

die autos fahren an, ziehen die verwehten bremswege nach. kiesel, kajal. ich setze kaffee auf, schalte das radio an. es wird nichts liegenbleiben, glättegefahr.
vielleicht schneit es auch einfach nicht mehr, nicht mehr so richtig. noch eine verletzliche stelle weniger.

 

7.12.2019, 15:02 Uhr

ostern

meine mutter hat zeitweise in einer grundschule geputzt die ich auch besuchte, sie erledigte das am frühen abend oder auch wochenends.
es kam vor, ergab sich aber nicht oft dass ich sie begleitete. ich half ihr dann mit kleinigkeiten wie dem reinigen der waschbecken (wichtig: armaturen zum glänzen bringen) oder der spiegel aber die meiste zeit saß ich nur auf den garderobebänken herum + las.
einmal bekam meine mutter einen anfall – erst atemnot dann spuckte sie in die toilette. ich durfte nicht nah herankommen sah aber rote spritzer auf dem boden.

ein andermal lagen osterkörbe, wir hatten sie am vormittag gebastelt + befüllt, auf dem fensterbrett gereiht. 24 osterhasen sahen mich an, eigentümliches gefühl. aus den besonders vollen körben nahm ich jeweils eine kleinigkeit heraus.
den nachhauseweg über war ich voller angst meine mutter könnte meinen schatz entdecken, aber mehr noch, jemand, etwas hätte draussen in der dämmerung in den büschen gesessen + mich im erleuchteten klassenzimmer beim stehlen beobachtet.
nächster morgen am selben ort:
wir bekamen die körbe ausgehändigt, der süßigkeiten-tauschhandel war umgehend eröffnet + niemand schien etwas zu vermissen oder zu bemerken. ich spürte nicht unbedingt schuld – mehr eine art weisung von den meisten dingen zu schweigen.

vielleicht war aber auch nichts geschehen. vielleicht war ich gestern nicht hier gewesen, meine mutter nicht krank, lauerte nichts da draussen wenn es dunkel wurde. vielleicht bildete ich es mir wirklich nur ein das leben

 

 

Elisa Aseva – lebt in Berlin + schreibt auf Facebook 

 

Der Wunsch sich selbst zu gestalten – Das Tagebuch der Marie Bashkirtseff

Von Magda Birkmann

 

Im Jahr 1882 forderte der französische Schriftsteller Edmond de Goncourt seine Leserinnen im Vorwort seines Romans La Faustin auf, ihm authentische Zeugnisse ihres Lebens und ihrer Empfindungen – in der Form von Tagebüchern, Erinnerungen und Lebensbeichten – zukommen zu lassen:

„Die Enthüllung zarter Gefühle und feiner Keuschheit, ja, die ganze unbekannte Weibhaftigkeit auf dem Grund der Frau, die den Ehemännern und selbst den Liebhabern zeitlebens verborgen bleibt […], das ist es, was ich verlange.“

Mit dieser ungewöhnlichen Bitte bereitete de Goncourt bereits sein nächstes Romanprojekt vor, welches „einfach die psychologische und physiologische Studie eines jungen Mädchens“ werden sollte, „ein Roman, der auf Zeugnissen des menschlichen Lebens errichtet wird.“ Zwei Jahre später entstand daraus der naturalistische Roman Chérie, der das Innenleben der gleichnamigen Protagonistin minutiös nachzeichnet.
Die Entstehungsgeschichte dieses Romans war es wohl, die eine junge russische Malerin namens Marie Bashkirtseff im Jahr 1884 dazu ermutigte, sich mit einem Brief an Edmond de Goncourt zu wenden:

„Monsieur. Wie jedermann habe auch ich “Chérie” gelesen, und, unter uns gesagt, das Buch ist voller Banalitäten. Diejenige, die die Kühnheit besitzt, Ihnen zu schreiben, ist ein Mädchen, das in einem reichen, eleganten, manchmal exzentrischen Milieu aufgewachsen ist. Dieses Mädchen, das seit vier Monaten 23 Jahre alt ist, ist gebildet, künstlerisch begabt und anspruchsvoll. Sie ist im Besitz von Heften, in denen sie seit dem 12. Lebensjahr Tag für Tag ihre Eindrücke aufgezeichnet hat. Nichts wurde darin verheimlicht. Das fragliche Mädchen verfügt im übrigen über einen Stolz, der bewirkt, dass sie sich in ihren Notizen ganz und gar zur Schau stellt. […] Ihr scheint es interessant, Ihnen dies Tagebuch zukommen zu lassen.“

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Marie Bashkirtseff

Da Marie Bashkirtseff sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Endstadium einer langjährigen Tuberkuloseerkrankung befand und sich der Tatsache bewusst war, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, sah sie in der Veröffentlichung ihres privaten Tagebuchs die einzige ihr verbleibende Möglichkeit, ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen: Sie wollte berühmt werden, und das um jeden Preis. Am 31. Oktober desselben Jahres erlag Marie Bashkirtseff der Schwindsucht – ihr Brief an Edmond de Goncourt blieb unbeantwortet. Doch auch ohne die Unterstützung des berühmten Literaten fand das Tagebuch der Marie Bashkirtseff wenige Jahre nach ihrem Tod den Weg in die Öffentlichkeit, die es mit Begeisterung aufnahm: In ganz Europa entstand um die Jahrhundertwende ein regelrechter Bashkirtseff-Kult.

Selbsterzählung statt moralischer Gewissensprüfung

Das Tagebuchschreiben gilt im 19. und frühen 20. Jahrhundert als eine weiblich dominierte Praxis, dennoch sticht Marie Bashkirtseffs Tagebuch aus mehreren Gründen aus der Masse an Journaux intimes junger Frauen heraus. Bei den meisten dieser überlieferten Tagebücher handelt es sich um religiös und moralisch motivierte Texte. Als Teil einer verbreiteten Erziehungspraxis für Mädchen wurden sie von Erzieher*innen und Eltern nicht nur angeregt, sondern teilweise auch kontrolliert. Indem sie sich schreibend einer moralischen Gewissensprüfung unterzogen, sollten junge bürgerliche Mädchen die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte verinnerlichen. Statt einer intimen Selbstbetrachtung diente das Tagebuch vielmehr der Austreibung eines individuellen Ichs.
Nicht so im Schreiben von Marie Bashkirtseff, hier kann von einer Ich-Austreibung kaum die Rede sein:

„Ich kenne jemanden, der sein ganzes Leben hingeben möchte, um mich glücklicher zu machen, der auch alles tun wird für mich und der Erfolg haben wird, jemand, der mich nie verraten wird, obgleich er mich schon einmal verriet. Und dieser jemand bin ich selbst!“

Grundsätzlich galt ein Tagebuch im 19. Jahrhundert nur aus zwei Gründen als publikationswürdig: entweder, weil es als biographische Illustration zum bereits kanonisierten Werk eines Künstlers gelesen werden konnte oder, weil es als Erbauungs- bzw. Erziehungsschrift für junge Mädchen Verwendung fand, wie beispielsweise die Tagebücher Eugénie de Guérins (1855) oder Marie-Edmée Paus (1876). Von den wenigen Tagebüchern, die vor Marie Bashkirtseffs Journal überhaupt veröffentlicht wurden, war vermutlich keines mit der Absicht, es zu publizieren, verfasst worden.

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Beim Buchlesen (Marie Bashkirtseff, ca. 1882)

Anders Marie Bashkirtseff – im Mai 1884, im fortgeschrittenen Stadium ihrer Tuberkuloseerkrankung, entwirft die junge Künstlerin ein Vorwort für ihr Tagebuch, das vehement ihren Wunsch es zu veröffentlichen ausdrückt und diesen Wunsch vor den zukünftigen Leser*innen verteidigt:

„Wozu lügen und sich verstellen? Ja, es ist offensichtlich, dass ich den Wunsch, wenn nicht gar die Hoffnung habe, auf dieser Erde zu bleiben, durch welches Mittel es auch sei. Falls ich nicht jung sterbe, hoffe ich, als große Künstlerin zu überleben, aber wenn ich doch jung sterbe, dann will ich mein Tagebuch veröffentlichen, das nicht anders als interessant sein kann.“

Marie befürchtet, dass diese explizit geäußerte Veröffentlichungsabsicht ihre Leser*innen dazu verleiten könnte, die Authentizität des Geschriebenen in Frage zu stellen. Sie versucht, solch einer Lesart zuvorzukommen:

„Zuerst habe ich sehr lange geschrieben, ohne daran zu denken, je gelesen zu werden, und jetzt bin ich, gerade weil ich hoffe, gelesen zu werden, völlig aufrichtig. Wenn dieses Buch nicht die exakte, absolute, strenge Wahrheit ist, hat es keine Existenzberechtigung. […] Im übrigen halte ich mich für zu bewundernswert, um mich zu zensieren. Sie können also sicher sein, meine barmherzigen Leser, dass ich mich auf diesen Seiten ganz und gar ausbreite.“

Trotz dieser leidenschaftlichen Beschwörung eines Authentizitätsanspruchs ist aus Leser*innenperspektive Vorsicht geboten, Maries Tagebuch sollte ungeachtet ihrer vermeintlichen Offenheit nicht als vollkommen authentisches Selbstzeugnis gelesen werden. Verschiedene Strategien der bewussten Inszenierung sind bei genauer Lektüre des Journals deutlich erkennbar und Marie selbst thematisiert, dass sie in ihrem Schreiben längst nicht alles festhalten kann, was ihr durch den Kopf geht: „Zwischen all den geschriebenen Wörtern verbergen sich eine Million gedachter Dinge, nur Bruchstücke meiner Gedanken kommen zum Ausdruck.“

Sie ist sehr bedacht darauf, wie sie sich in ihrem Tagebuch darstellt, immer wieder spricht sie imaginierte Leser*innen direkt an, spielt mit den literarischen Konventionen, die ihr aus ihrer umfassenden Lektüre der Werke von Balzac, Maupassant, Dumas, Stendhal, Sand und anderen Romanciers wohlbekannt sind.  In ihrem Schreiben wird sie selbst zur Heldin ihres „Kopf-Romans“ und lässt dabei die Grenzen zwischen faktentreuer Dokumentation und Fiktionalisierung des eigenen Lebens verschwimmen. In dieser Hinsicht kann Marie Bashkirtseff durchaus als ideelle Vorreiterin des autofiktionalen Schreibens, wie es im 20. und vor allem im beginnenden 21. Jahrhundert Verbreitung findet, betrachtet werden. Angesichts ihres bewegten Lebens verwundert Maries großer Drang, sich literarisch auszudrücken, nicht weiter, denn ihre Erfahrungen fernab einer ruhigen bürgerlichen Existenz bieten reichlich Stoff für eine große Erzählung.

Ein Leben unter dem Drang nach Ruhm und Ehre

Marie Bashkirtseff wird am 24. November 1858 in Gawronzi (Gouvernement Poltawa) in der heutigen Ukraine als Tochter des adligen Grundbesitzers Constantin Bashkirtseff und dessen Frau Marie Babanine geboren. Bereits drei Jahre nach Maries Geburt trennen sich ihre Eltern, Marie wächst fortan auf dem Gut ihrer mütterlichen Großeltern auf. 1870 verlassen Marie, ihre Mutter, ihr Bruder und weitere Mitglieder der Familie Babanine Russland und unternehmen ausgedehnte Reisen nach Wien, Baden-Baden und Genf, bevor sie sich schließlich 1871 in Nizza niederlassen.

Die Verwicklungen in einen aufsehenerregenden Gerichtsprozess, in dem Maries Mutter und ihre Tante Nadine Romanoff als Erbschleicherinnen angeklagt werden, sowie die alkoholischen und gewalttätigen Exzesse von Maries Onkel Georges schmälern das Ansehen der Familie und führen dazu, dass den Bashkirtseff-Babanines der Zugang zu den höchsten Kreisen der feinen Nizzaer Gesellschaft zeit ihres Lebens verwehrt bleiben wird – zum großen Leidwesen Maries. Denn bereits als junges Mädchen sehnt Marie sich nach Ruhm und Ehre, träumt von einer Bühnenkarriere. „Ich bin geschaffen für Triumphe und Erregungen; also das Beste, was ich tun kann, ist, dass ich Sängerin werde,“ notiert sie 1873 in ihrem frisch begonnenen Tagebuch.

Der zweite große Traum ihrer Jugendjahre ist romantischer Art: Marie wähnt sich verliebt in den Herzog von Hamilton, den sie auf der Promenade von Nizza erblickt, mit dem sie jedoch noch nie auch nur ein Wort gewechselt hat. Das hindert sie allerdings nicht daran, in ihrem Tagebuch kühne Pläne zu schmieden:

„Wenn er dann ein junges Mädchen sehen wird, das den höchsten Gipfel des Ruhmes, den eine Frau erreichen kann, erklommen hat, wenn er erfährt, dass ich ihn treu seit meiner Kindheit liebe, dass ich ehrbar bin und rein, so wird ihn das in Staunen versetzen, er wird mich um jeden Preis haben wollen, und er wird mich aus Stolz heiraten. Doch, was sag‘ ich? Warum sollte er mich nicht aus Liebe heiraten?“

Doch keiner dieser kühnen Pläne soll in Erfüllung gehen, beide werden vom Schicksal vereitelt. Eine Kehlkopferkrankung raubt Marie die Singstimme und der Herzog von Hamilton, lange Zeit aus der Ferne umschwärmt, heiratet schließlich Ende 1873 eine andere. Für Marie, die mit ihren 15 Jahren mitten im Teenageralter steckt, bricht eine Welt zusammen, als sie davon erfährt:

„Das drang mir wie ein scharfes Messer in die Brust. Ich fing an, so stark zu zittern, dass ich kaum das Buch halten konnte. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden […] Mein Gott, rette mich von dem Übel! Herr Gott, vergib mir meine Sünden und strafe mich nicht! Es ist aus … aus! Mein Gesicht wird fahl, wenn ich daran denke, dass es aus ist.“

Vom jugendlichen Pathos, der diese Zeilen tränkt, distanziert sich sechs  Jahre später die inzwischen erwachsene, desillusionierte Künstlerin jedoch klar, dann wird sie beim Wiederlesen ihrer alten Tagebücher an den Rand notieren: „All das wegen eines Mannes, den ich ein Dutzend mal auf der Straße gesehen hatte – den ich nicht kannte, und der nichts von meiner Existenz wusste. All das hat beim Wiederlesen im Jahr 1880 überhaupt keine Wirkung auf mich.“

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Der Regenschirm (Marie Bashkirtseff, 1883)

Und tatsächlich findet Marie in den folgenden Jahren schnell Ablenkung auf zahlreichen Reisen nach Paris, Spa, Ostende, London, Florenz, Rom und Neapel, die vor allem durch diverse Flirts und Schwärmereien gekennzeichnet sind. Letztendlich werden sie jedoch alle folgenlos bleiben.

1874 tauchen bei ihr erste Anzeichen einer Tuberkuloseerkrankung auf, auch wenn zu diesem Zeitpunkt weder Marie selbst noch ihre Familie den Ernst der Lage erkennen: „Ich bin so fröhlich, dass es mir seltsam vorkommt. Vielleicht habe ich in der linken Brust Krebs, denn von Zeit zu Zeit habe ich Schmerzen. Ich habe Mama ernsthaft davon unterrichtet, aber sie sagt das sei Unsinn.“ Nach wie vor ist Marie hauptsächlich auf ein Ziel fixiert:

„Heiraten und Kinder bekommen! Das kann ja jede Waschfrau! […] Was will ich denn eigentlich? Oh, ihr wisst es ja. Ich will Ruhm!“ Doch wie berühmt werden? Die Ungeduld nagt an der jungen Frau : „Ich bin achtzehn Jahre alt. […] Mit achtzehn Jahren müsste ich schon damit begonnen haben, berühmt zu werden.“

“Was die Männer ganz einfach haben können.”

Doch als Frau im 19. Jahrhundert bleiben ihr viele Wege versperrt, besonders, als sie sich 1877 der bildenden Kunst zuwendet. Frauen dürfen sich nicht an der berühmten staatlichen Kunstakademie École des Beaux-Arts in Paris einschreiben, ihr bleibt daher nur die Anmeldung an der privaten Académie Julian, um ein Kunststudium aufzunehmen. Diese entmutigende Erfahrung führt dazu, dass sie im Dezember 1880 – als große Ausnahme in ihrem Umfeld – dem von Hubertine Auclert gegründeten Verein Le Droit des Femmes beitritt und unter dem Pseudonym Pauline Orell Artikel für die feministische Zeitschrift La Citoyenne verfasst, in denen sie die institutionellen Ausschlüsse und Anfeindungen von Frauen in der Kunstwelt anprangert:

„Es gibt keine [Gründe, Frauen nicht in die Ecole des Beaux-Arts aufzunehmen], man hat noch niemals darüber nachgedacht, und das ist alles. Folglich verkündet Ihr laut, stärker, intelligenter, begabter als wir zu sein, und Ihr nehmt für Euch allein eine der schönsten Schulen der Welt in Anspruch, in der alle Förderungen an Euch verschwendet werden. […] was wir brauchen, ist die gleiche Möglichkeit zu arbeiten wie die Männer und nicht das Aufbringen von größten Anstrengungen, um das zu erreichen, was die Männer ganz einfach haben können.“

Auch in ihrem Tagebuch klagt Marie immer wieder über die Einschränkungen, die ihr als Frau auferlegt werden:

„Oh! wie sind die Frauen zu bedauern! Männer sind wenigstens frei. Völlige Unabhängigkeit im Alltagsleben, die Freiheit zu kommen und zu gehen, auszugehen, im Theater oder zu Hause zu Abend zu essen, zu Fuß in den Wald oder ins Café zu gehen. Diese Freiheit macht schon die Hälfte einer Begabung aus und drei Viertel des… normalen Glücks.“

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Das Treffen (Marie Bashkirtseff, 1884)

Aber Marie zeigt Talent und besitzt Ehrgeiz. Mehrere ihrer Gemälde werden im berühmten Pariser Salon ausgestellt. Doch der Traum vom ganz großen Ruhm bleibt noch immer unerfüllt, und langsam läuft ihr die Zeit davon. Von einer Reise nach Spanien kehrt Marie im Oktober 1881 schwerkrank nach Paris zurück, im Laufe der nächsten Jahre verschlimmern sich ihre Symptome immer mehr. Marie gibt sich aber dennoch voll und ganz ihrem künstlerischen Schaffen hin, verausgabt sich immer wieder, ungeachtet ihres immer schlechter werdenden Gesundheitszustands. Doch immer häufiger schleicht sich auch die Verzweiflung in Maries Schreiben ein: „Mein Leben ist nichts wert, und nichts lässt mich daran festhalten. […] Ich weiß nicht länger, was ich tun soll. Ein neues Bild wird mir wieder Lebensmut schenken, aber bis dahin fühle ich mich verloren!“

Am 20. Oktober 1884 nimmt Marie die letzte Eintragung in ihrem Tagebuch vor: „Seit zwei Tagen steht mein Bett im Salon, aber da es sehr groß ist und Paravents, Puffe und das Klavier darum herum stehen, fällt es nicht auf. Es fällt mir zu schwer, die Treppe zu steigen.“ Sie stirbt elf Tage später am 31. Oktober.

Zur Femme Fragile gemacht

Mit Maries Tod beginnen die Legendenbildungen – und die Schmähungen. 1887 gibt André Theuriet im Auftrag von Maries Mutter eine erste Edition des Tagebuchs heraus, in der jedoch etwa die Hälfte des Textes radikalen Kürzungen zum Opfer gefallen ist. Nicht nur wird Marie darin als fast zwei Jahre jünger dargestellt, als sie tatsächlich war, Theuriets Eingriffe entschärfen außerdem ihren Stil und ihre Sprache und dämmen ihr Temperament stark ein. Der Herausgeber zensiert Hinweise auf Maries kompromittierende familiäre Situation und schwächt Erwähnungen ihrer verheerenden Krankheit ab, schreibt sogar ganze Passagen komplett um.

Dennoch ist der Erfolg dieser ersten Ausgabe so beachtlich, dass 1891 eine nicht minder fragwürdige Edition ihrer Briefe folgt. Verehrer*innen pilgern fortan zu Maries pompösem Mausoleum auf dem Pariser Künstler*innenfriedhof Passy, Sammler*innen streiten sich um die zahlreichen Photographien, die Marie im Laufe ihres Lebens hat anfertigen lassen. 1925 erscheinen die von Pierre Borel herausgegebenen Cahiers intimes inédits, die behaupten, alles bisher Ungesagte zu offenbaren, in die aber kaum weniger Eingriffe vorgenommen wurden als in Theuriets Edition. Ein 1935 gedrehter österreichischer Spielfilm wird zum Skandal, weil darin Marie als die Geliebte von Guy de Maupassant dargestellt wird.

Schriftsteller*innen wie Henri Bataille und Mrs Humphry Ward bedienen sich ihrer Geschichte als Inspiration für ihre eigenen tragischen Protagonistinnen und auch der deutsche Dramatiker Ferdinand Bruckner veröffentlicht 1935 einen schwülstigen biografischen Roman über Marie mit dem Titel Mussia. Und so verfestigt sich nach und nach das romantische Bild der schönen, kindlichen, tugendhaften, unberührten Schwindsüchtigen, die im Leben zwar ein wenig zu viel gewollt hat, deren viel zu früher Tod sie aber als reiner und unschuldiger Engel in der Vorstellung der Nachwelt fortleben lässt.

Doch selbst dieses geglättete Bild Marie Bashkirtseffs steht immer noch in einem starken Kontrast zu dem Idealbild der jeune fille, wie es im späten 19. Jahrhundert beispielsweise in Benimmbüchern für bürgerliche Frauen propagiert wurde:

„Ein wohlerzogenes Mädchen schaut sich niemals nach jemandem auf der Straße um. […] Weder in der Öffentlichkeit noch im Hause trägt sie außergewöhnliche oder exzentrische Kleidung und verzichtet auf jede auffällige Farbe, die ‚die Blicke anzieht‘. Der Ton ihrer Stimme ist weder laut noch leise, weder schleppend noch schroff oder schrill. Sie spricht ganz natürlich, mit einer ordentlichen, weder zu tiefen noch zu hohen Stimme. Sie enthält sich jeder Überspanntheit in der Konversation […] Sie vermeidet unbändiges Lachen, indem sie sich daran gewöhnt, ihre Gefühle zu beherrschen.“

Marie dagegen zeigt sich in ihrem Tagebuch keinesfalls bescheiden und zurückhaltend, sondern stellt sich überaus extravagant und fordernd dar. Sie liebt es, mit ihren selbst entworfenen Outfits die Blicke im Theater und auf der Promenade auf sich zu ziehen, außerdem sieht sie sich gern nach Männern um und äußert in ihrem Tagebuch auf für ihre Zeit explizite Art ihre sexuellen Wünsche. Auch ihre häufigen Wutausbrüche und Stimmungsschwankungen, die sie gewissenhaft dokumentiert, entsprechen ebenso wenig dem gesellschaftlich akzeptierten Bild einer wohlerzogenen jungen Dame wie Maries grenzenloser Ehrgeiz und ihr Überzeugtsein von der eigenen Besonderheit: „Ich will Cäsar sein, Augustus, Marc-Aurel, Caracalla, der Teufel, der Papst!“

Die Offenheit und Nonchalance, die Bashkirtseff in ihrem Tagebuch an den Tag legt, rufen vernichtende Kritiken an Maries Person auf den Plan. Simone de Beauvoir sieht in Marie den Prototyp der weiblichen Narzisstin, die sich durch Entfremdung in ein „imaginäres Double“ selbst vernichtet und ihre Leidenschaft für die Kunst nur gespielt habe. Der englische Reformer William Stead ist so schockiert von Maries mangelnder weiblicher Demut, dass er sie gar zur “antithesis of the true woman” erklärt und fürchtet, dass sich andere junge Frauen an ihr ein Beispiel nehmen könnten.

Und Stead liegt richtig: Maries unerschrockene Selbstdarstellung als Künstlerin birgt ein hohes Identifikationspotenzial für spätere Künstlerinnen und Schriftstellerinnen. In ihren eigenen Tagebüchern, von denen einige später ebenfalls große Bekanntheit erreichen werden, halten sie den großen Einfluss fest, den die Lektüre des Journals auf ihr Denken und Schaffen hat. So berichtet Franziska zu Reventlow im Jahr 1901: „Ich lese Marie Bashkirtseff, das möchte die einzige Frau gewesen sein, mit der ich mich ganz verstanden hätte, vor allem auch in der Angst, etwas vom Leben zu verlieren und vor dem unerhörten Prügelbekommen vom Schicksal.“

Auch Anaïs Nin ist tief beeindruckt von ihrer Lektüre, am 23. September 1921 schreibt sie in ihr Tagebuch: „There are things [Marie Bashkirtseff] says that are reflected word for word here in my own diary. It’s enough to make me think I am mad and that I copied them – or else that Marie’s soul has been reincarnated in me.“

Für den verzerrten Mythos von Marie Bashkirtseff als tragischer, engelsgleicher Kindfrau zeichnet größtenteils die Rezeption ihres Tagebuchs durch männliche Leser und Kritiker verantwortlich. Wir verdanken es der Arbeit und Recherche von Frauen, dass wir heute ein verlässlicheres Bild von Bashkirtseffs Leben und Werk haben. Deutschen Leser*innen bleibt aber ein authentischer Eindruck davon, wie sich Marie Bashkirtseff in ihrem Tagebuch selbst präsentierte, bis heute vorenthalten. Es wird höchste Zeit für eine unverfälschte Neuübersetzung.

Anmerkung:
Doris Langley Moore verfasste 1966 die erste Biographie Marie Bashkirtseffs, die auf einer Lektüre der originalen Tagebuchmanuskripte anstatt auf den verfälschten Editionen Theuriets und Borels aufbaut – sie behandelt allerdings hauptsächlich das Jahr 1873 und Maries Schwärmerei für den Herzog von Hamilton. Colette Cosnier machte mit ihrer 1985 erschienenen Biographie „Marie Bashkirtseff – Un Portrait sans retouches“ erstmals ein breites Publikum auf das verfälschte Bild, das bis zu diesem Zeitpunkt von Marie Bashkirtseff kursierte, aufmerksam. In Frankreich ist inzwischen dank der Bemühungen des „Cercle des Amis de Marie Bashkirtseff“ eine vollständige Transkiption aller 103 Tagebuchmanuskripte, die sich im Besitz der Französischen Nationalbibliothek befinden, erschienen. Englische Leser*innen können seit einigen Jahren auf eine zweibändige Übersetzung der Tagebücher von Phyllis und Katherine Kernberger zurückgreifen, die im Gegensatz zu den früheren englischen Übersetzungen nicht auf Theuriets Edition, sondern auf den Originalmanuskripten basiert. In deutscher Sprache dagegen ist Bashkirtseffs Tagebuch noch nie in einer unzensierten Version erschienen. Die letzte deutsche Ausgabe von 1983, seit Jahren vergriffen, basiert auf der ersten deutschen Übersetzung von Lothar Schmidt aus dem Jahr 1897 und setzt die massiven Eingriffe in den Text, die Bashkirtseffs erster Herausgeber Theuriet vornahm, nicht nur fort, sondern wurde sogar gegenüber der Ausgabe von 1897 noch weiter gekürzt.