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7.9.2011 | Von:
Ursula Apitzsch
Marianne Schmidbaur

Care, Migration und Geschlechter-
gerechtigkeit

Mit dem Wandel der Geschlechterordnung werden auch Hausarbeit, Sorge und Fürsorge neu verteilt – überwiegend zwischen Frauen. Migrantinnen aus armen Ländern bedienen die steigende Nachfrage in Ländern des globalen Nordens.

Einleitung

Ein großes Problem von Frauen im Zusammenhang mit Menschenrechten ist die Verteilung von Sorge und Fürsorge (Care). Es geht dabei um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Bezug auf Wertschätzung und Bezahlung, und es geht um Ressourcen, die anscheinend "natürlich" vorhanden sind, die ganz offensichtlich aber auch knapp werden können. Care-Arbeit stellt nicht nur die soziale Einbettung von Produktion dar. Sie ist selbst außerordentlich zentrale gesellschaftliche Produktion, nämlich die Produktion des biologischen und gesellschaftlichen Lebens selbst, die immer Reproduktion ist.[1] Um diese bedeutende Erkenntnis festzuhalten, bleibt der Begriff der Reproduktion neben dem von Care unverzichtbar. Die gegenwärtigen Politiken behandeln Reproduktion mit der global steigenden Frauenerwerbstätigkeit zunehmend als bloßes Anhängsel der Warenproduktion und nur in diesem Rahmen für gesellschaftlich organisierbar.

Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild hat in ihren Arbeiten dazu die weitestgehenden theoretischen Überlegungen angestellt. In ihrem zusammen mit Barbara Ehrenreich herausgegebenen Buch Global Woman [2] hat sie die Folgen der weltweiten "Geschlechterrevolution" beschrieben, die darin besteht, dass sich in reichen wie in armen Ländern immer weniger Familien auf einen männlichen Familienernährer stützen können. Frauen erreichen in großer Zahl die Arbeitsmärkte, ihr Anteil an den Erwerbstätigen ist in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich gestiegen. In diesem Prozess des Wandels der Geschlechterordnungen wird Haus- und Familienarbeit, Sorge und Fürsorge weltweit neu verteilt, und zwar überwiegend zwischen Frauen. Migrantinnen aus armen Ländern bedienen die steigende Nachfrage nach Care-Arbeit aus Ländern des globalen Nordens (vornehmlich den westlichen Industriestaaten) und geben ihre eigenen Care-Verpflichtungen an Großmütter, Schwestern und Schwägerinnen weiter. Weitgehend frei von politischer Gestaltung oder staatlicher Reglementierung werden auf der "Hinterbühne des globalen Marktes"[3] persönliche Dienstleistungen verkauft und gekauft. Dabei wird die Kommodifizierung menschlicher Fähigkeiten und Bedürfnisse immer weiter vorangetrieben.

Forschungen zu kommerzieller Leihmutterschaft in Indien zeigen, wie das Austragen von Kindern als ein marktförmig organisierter, widersprüchlicher, körperliche, emotionale, soziale und kulturelle Ressourcen ausbeutender Produktionsprozess organisiert wird.[4] Was eine Klinikdirektorin als klassisches Win-win-Geschäft schildert - die Leihmutter erhält das Geld, das sie braucht, die Klientin bekommt das Baby, das sie sich wünscht - verdeckt, so Hochschild, weitere Nutznießer. Auch die Klinik oder die indische Regierung, sofern von dem Gewinn Steuern abgeführt werden, und viele andere profitieren von dem Handel. Aber der von der Leihmutter erzeugte emotionale Mehrwert, der diesen Austausch überhaupt erst möglich macht, wird nicht gesehen oder honoriert. Hochschild plädiert dafür, diesen emotionalen Mehrwert sichtbar zu machen, Gewinne und Verluste in all ihren Dimensionen zu berücksichtigen und den wahren Kosten dadurch näher zu kommen, dass das Thema gesellschaftliche Reproduktion unübersehbar in den Vordergrund gerückt wird.[5]

Care-Leistungen, Sorge und Fürsorge im weitesten Sinne, sind, ob unbezahlt oder bezahlt, ob privat oder öffentlich, überwiegend von Frauen geleistete Arbeiten, die weitgehend unsichtbar bleiben. Sie werden gesellschaftlich ungenügend anerkannt und thematisiert, und dies, obwohl Care-Arbeit zu den am stärksten wachsenden gesellschaftlichen Arbeitsbereichen gehört. Die Gründe hierfür liegen auf unterschiedlichen Ebenen:

Wandel der Geschlechterverhältnisse:
Die Frauenerwerbsquote ist stetig angestiegen. Trotzdem ist die Beteiligung von Männern an Putz- und Haushaltstätigkeiten, aber auch im Bereich Sorge und Fürsorge eher gering geblieben. Egalitäre Geschlechterarrangements scheitern nicht selten an "Traditionalisierungsfallen".[6] Hierzu gehören vor allem auch die strukturellen Hindernisse, die sich durch Sorgeverpflichtungen einstellen. Mit der Elternschaft kommt es häufig zu einem Traditionalisierungsschub bei der Hausarbeit. Häusliche Pflege wird überwiegend von Frauen geleistet: Sie stellen über 70 Prozent der Hauptpflegepersonen. Die Beteiligung von Männern an der Pflege hat in den vergangenen 20 Jahren zwar kontinuierlich zugenommen.[7] Ihr Anteil ist von einer Gleichverteilung jedoch noch weit entfernt. Abgestützt wird dieses westliche "modernisierte Versorgermodell" mit einem männlichen Vollerwerbstätigen und einer weiblichen Teilzeiterwerbstätigen,[8] die in der zweiten Schicht für Care-Arbeit zuständig ist, durch erweiterte Unterstützungsnetze.

Demografischer Wandel:
Die Gruppe der Personen im Erwerbsalter schrumpft; der Anteil altersbedingt unterstützungsbedürftiger Personen wird dagegen stark ansteigen. Ende 2009 waren in Deutschland gut 2,3 Millionen Menschen pflegebedürftig, bis 2030 wird mit einem Anstieg auf 3,4 Millionen gerechnet.[9] 2009 wurden 1,62 Millionen Pflegebedürftige[10] (69 Prozent) zu Hause versorgt, davon 1,07 Millionen allein durch Angehörige und 555000 zusammen mit beziehungsweise durch ambulante Pflegedienste. Absehbar ist eine große Lücke zwischen Erwerbstätigen und zu Versorgenden sowie zwischen Menschen, die Care-Arbeit leisten, und dem zu erwartenden Pflegebedarf. Verschärft wird diese Lücke bereits heute durch einen akuten Fachkräftemangel im Gesundheitswesen, in dem etwa zu zwei Dritteln Frauen beschäftigt sind.[11] Nach einer aktuellen Umfrage beklagen bereits heute 80 Prozent der Krankenhäuser und Sozialstationen einen erheblichen Fachkräftemangel. Es wird damit gerechnet, dass bis zum Jahre 2025 bis zu 200000 Pflegefachkräfte fehlen werden.[12] Eine Lösung des Problems wird in der gesteuerten Zuwanderung gesehen.

Umstrukturierung des Wohlfahrtssystems:
Die aktivierende Sozialstaatspolitik, die auf eine Senkung der staatlichen Ausgaben zielt, trägt in vielfacher Hinsicht zu einer widersprüchlichen Re-Familialisierung von Care-Aufgaben bei. Mit einem Ausbau der Kinderbetreuung wird einerseits die Etablierung eines Adult-worker-Modells unterstützt.[13] Andererseits bleibt offen, wie angesichts weiterhin bestehender gravierender Betreuungslücken, zum Beispiel durch die Halbtagsorientierung des Betreuungs- und Schulsystems, eine bedarfsgerechte Betreuung gewährleistet werden soll. Ähnliches gilt für die Verkürzung der Krankenhausverweildauer oder die Privilegierung der häuslichen Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Im Schnittfeld einer doppelten Entgrenzung - der Entgrenzung in den Lebens- und Erwerbsverläufen und der Entgrenzung von Familie - wird Haushalts- und Familienarbeit oftmals "am Limit" erbracht und zunehmend prekär.[14] Neben Au-pairs sind es vor allem Migranten und Migrantinnen in häufig irregulären Beschäftigungsverhältnissen, die zur Unterstützung bei Haus-, Familien- und Pflegetätigkeiten herangezogen werden. Schätzungsweise arbeiten 100000 bis 200000 ausländische Haushaltshilfen in deutschen Haushalten.[15] Belastbare Zahlen sind nicht verfügbar, was nicht nur auf die grundsätzliche Problematik der Erhebung von Daten zu Schwarzarbeit zurückzuführen ist, sondern auch auf eine niedrige Erhebungsmotivation aufgrund mit-wissender Tolerierung.[16]

Bisher ist es nicht gelungen, die verschiedenen Diskussionsstränge aus der Frauen-, Familien-, Sozial-, Gesundheits-, Steuer-, Arbeitsmarkt-, Migrations- und Außenpolitik zusammenzuführen. Care-Arbeit wird bis heute nicht als ein gesellschaftspolitisch zentrales, zusammenhängendes Politikfeld gesehen und entsprechend bearbeitet. Genau dies aber wäre nötig, um den künftigen Herausforderungen wirksam begegnen zu können.[17]

Fußnoten

1.
Vgl. Jeff Hearn, The gender of oppression. Men, masculinity, and the critique of Marxism, Brighton 1987.
2.
Vgl. Barbara Ehrenreich/Arlie Hochschild (eds.), Global Woman. Nannies, Maids, and Sex Workers in the New Economy, New York 2002.
3.
Arlie Hochschild, The Back Stage of a Global Free Market. Nannies and Surrogates, in: Ursula Apitzsch/Marianne Schmidbaur (Hrsg.), Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen, Opladen-Farmington Hills 2010, S. 23-39.
4.
Vgl. Amrita Pande, Manufacturing a Perfect Mother-Worker, in: Signs, 35 (2010) 4, S. 969-992.
5.
Vgl. Arlie Hochschild, Globale Betreuungsketten und emotionaler Mehrwert, in: Will Hutton/Anthony Giddens (Hrsg.), Die Zukunft des globalen Kapitalismus, Frankfurt/M.-New York 2001, S. 157-176.
6.
Anneli Rüling, Jenseits der Traditionalisierungsfallen. Wie Eltern sich Familien- und Erwerbsarbeit teilen, Frankfurt/M. 2007.
7.
Vgl. Waltraud Cornelißen (Hrsg.), Gender-Datenreport. 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, München 2005.
8.
Vgl. Birgit Geissler, Haushaltsarbeit und Haushaltsdienstleistungen, in: Fritz Böhle/Günter Voß/Günther Wachtler (Hrsg.), Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden 2010, S. 931-962.
9.
Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Ältere Menschen in Deutschland und in der EU, Wiesbaden 2011.
10.
Vgl. Statistisches Bundesamt, Plegestatistik 2009, Wiesbaden 2011. Erfasst wurden Personen, die Leistungen nach dem SGB XI erhielten.
11.
Vgl. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Gesundheitspersonalrechnung. Beschäftigte im Gesundheitswesen, online: www.gbe-bund.de/oowa921-install/servlet/oowa/aw92/dboowasys921.
xwdevkit/xwd_init?gbe.isgbetol/xs_start_neu/&p_aid=3&p_aid
=55668917&nummer=85&p_sprache=D&p
_indsp=-&p_aid=34456008 (8.8.2011).
12.
Vgl. Doppeltes Demografieproblem, in: iwd, 37 (2011) 21, S. 7.
13.
Vgl. Jane Lewis, Erwerbstätigkeit versus Betreuungsarbeit, in: Ute Gerhard/Trudie Knijn/Anja Weckwert (Hrsg.), Erwerbstätige Mütter. Ein europäischer Vergleich, München 2003, S. 29-52.
14.
Vgl. Karin Jurczyk, Care in der Krise? Neue Fragen zu familialer Arbeit, in: U. Apitzsch/M. Schmidbaur (Anm. 3), S. 59-76.
15.
Vgl. Helma Lutz, Who Cares? Migrantinnen in der Pflege in deutschen Haushalten, in: Christa Larsen/Angela Joost/Sabine Heid (Hrsg.), Illegale Beschäftigung in Europa. Die Situation in Privathaushalten älterer Personen, Mering 2009, S. 41-50, hier: S. 43; Andrea Neuhaus/Michael Isfort/Frank Weidner, Situation und Bedarfe von Familien mit mittel- und osteuropäischen Haushaltshilfen. Projektbericht, Köln 2009, S. 9.
16.
Vgl. H. Lutz (Anm. 15).
17.
Vgl. Maria S. Rerrich, Care und Gerechtigkeit. Perspektiven der Gestaltbarkeit eines unsichtbaren Arbeitsbereichs, in: U. Apitzsch/M. Schmidbaur (Anm. 3), S. 77-93.