Kategorie: Kolumne

Abkehr vom Mann – Pauline Harmanges “Ich hasse Männer”

von Christina Dongowski

 

Ich würde Moi les hommes, je les déteste (zu deutsch: Ich hasse Männer) von Pauline Harmange wahrscheinlich nicht kennen, hätte nicht ein Typ namens Ralph Zurmély das Verbot des Büchleins in Frankreich gefordert und den Verlag mit einer Strafe von 45.000 Euro bedroht. Auch wenn es den Anschein haben könnte, Ralph Zurmély ist nicht der klassische sexistische Kommentar-Typ aus dem Netz, mit dem sich jede Frau herumschlagen muss, die etwas äußert, das auch nur entfernt nach Feminismus klingt. Nein, Ralph Zurmély ist Referent im französischen Ministerium für die Gleichstellung von Mann und Frau.

Mit einem Schreiben vom E-Mail-Account seines Ministeriums forderte er die Verantwortlichen beim Verlag Monstrograph zum Erscheinungstermin des Büchleins ultimativ auf, die Veröffentlichung zu unterlassen. Es handele sich hier um einen Aufruf zur Gewalt gegen ein Geschlecht und zu dessen Diskriminierung. Das sei in Frankreich strafbar. Er drohte dem Kleinverlag mit einer Strafzahlung von 45.000 Euro. Als der Verlag die Drohung öffentlich machte, bekräftigte Zurmély in Stellungnahmen gegenüber verschiedenen französischen Medien, man werde gegen das Buch vorgehen.

Natürlich hatte Zurmély das Buch nicht gelesen. Bei dieser Art Text sei das schließlich nicht nötig. Organisationen zum Schutz der Presse- und Kunstfreiheit schalteten sich ein. Unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit distanzierte sich dann das Ministerium von Élisabeth Moreno von seinem Mitarbeiter: Die ganze Aktion sei seine private Initiative. Das Ministerium habe damit absolut nichts zu tun und werde sich auch nicht in der Sache engagieren. Das war Ende August, Anfang September dieses Jahres. Wie belastend die Ereignisse für Monstrograph und die Autorin Pauline Harmange gewesen sind, lässt sich auch in den Einträgen ihres Blogs nachlesen.

Eine von Privilegien geschützte mediokre Gestalt

Aber die Auseinandersetzung mit einem Funktionär der Staatsverwaltung, der sich dazu berufen fühlt, die Ehre der französischen Männer gegen eine 25-jährige Bloggerin und politische Aktivistin zu verteidigen, hat auch ihr Gutes: Die erste Auflage, 400 Exemplare, von Moi les hommes, je les déteste war innerhalb weniger Tage ausverkauft, ein Nachdruck nur wenige Stunden später. Der renommierte Verlag Éditions du Seuil übernahm die Rechte an Harmanges Buch. Seit Anfang Oktober ist es nun in allen französischen Buchhandlungen, im Versandbuchhandel und als E-Book erhältlich. Am 17. November wird die deutsche Übersetzung bei Rowohlt erscheinen, im Januar nächsten Jahres eine englische Übersetzung. Dazu kommen Übertragungen in weitere Sprachen.

Für das zentrale Argument, das Harmange in ihrem knapp hundert Seiten langen Essay ausführt, könnte Ralph Zurmély Beweisstück Nummer Eins sein: Der vom Patriarchat produzierte Standard-Mann ist eine von Privilegien geschützte mediokre Gestalt. Er saugt die sozialen, kreativen und intellektuellen Energie von Frauen (und anderen Nicht-Männern) ab, im Privatleben, im Beruf und in der Öffentlichkeit. Denkfaul, aggressiv, misogyn belastet er das Leben von Frauen. Und in vielen Fällen belästigt er sie auch, übt routinemäßig Gewalt gegen sie aus und tötet sie. Der Mann ist eine Gestalt, der Frauen so wenig Platz wie irgend möglich in ihrem Leben einräumen sollten. Männer sind abzulehnen. Sie haben kein Recht auf die Zeit, das Interesse, die Gegenwart oder gar die Zuwendung von Frauen. #AllMenAreTrash. Misandrie, der Hass gegen Männer, ist für Frauen eine Form der Selbstsorge und sie wirkt ermächtigend. Wenn Frauen sich in Bezug auf Männer erst einmal selbst ihren Frust, ihre Wut, ihre Verachtung und ihren Abscheu eingestehen und sich von ihnen abwenden, entstehen die Freiräume, mental und sozial, in denen Frauen sich selbst entdecken und entwickeln – gemeinsam und in Auseinandersetzung mit anderen Frauen. Soweit zunächst Pauline Harmange.

Auch wenn in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs wieder öfter feministische Stimmen zu Wort kommen, die mehr fordern als Fairness im Rattenrennen um die erfolgreichste Karriere, sind Pauline Harmanges Thesen und Forderungen in Moi les hommes je les déteste von einer Radikalität und Direktheit, die sich gegenwärtig so außerhalb von Aktivistinnen-Gruppen und feministischen Social Media-Bubbles kaum finden lassen.  Auch nicht oder schon gar nicht in Frankreich, auf dessen Staatsfeminismus mit Ganztags-Kinderbetreuung ab den frühesten Lebensjahren und positivem Bild von arbeitenden Müttern viele westdeutsche Frauen immer noch neidisch blicken. Harmange weiß um die Radikalität ihres Feminismus, und sie weiß, was sie an Reaktionen von Männern zu erwarten hat, auch von solchen, die sich selbst als links bezeichnen. Ihr Essay beginnt mit genau dieser Szene:

 

Eines Tages schrieb ich auf meinem Blog, dass mich die Faulheit der Männer, ihr Widerwillen sich mit der Sache der Frauen zu beschäftigen müde macht. Ruckzuck kommentierte einer von den Wohlmeinenden anonym: „Du solltest dich vielleicht fragen, warum die Männer nicht davon sprechen wollen. Ein paar Hinweise: die aggressive, um nicht zu sagen hasserfüllte Haltung von Feministinnen gegenüber jedem Mann, der nicht sagt: „Ich schäme mich ein Mann zu sein! Tod den Männern!“ Der Tag, an dem ihr endlich die Beziehungen zwischen Mann und Frau so seht, wie sie wirklich sind, […] , dann werden wir euch zuhören. Bis dahin sieht man euch als frustrierte Weiber mit Bart und ihr tut eurer Sache keinen Gefallen.“

 

Ein Klassiker der avancierten Feminismus-Kritik also, beliebt mindestens seit Schiller 1789 feststellte: „Da werden Weiber zu Hyänen!“

Bekenntnis zur Misandrie

Statt diesen Vorwurf zu entkräften, wie es vor allem liberale, bürgerliche Feministinnen seit den Anfängen des Feminismus zu tun versuchen, zeigt Harmange, welche Funktion er für die Aufrechterhaltung des Patriarchats hat: Die Forderung nach einem gleichberechtigten, freien und sicheren Leben als Frau wird als Misandrie, als Männerhass diskreditiert; der Mann wird wieder zum Ziel und Gegenstand weiblicher Arbeit an sich selbst etabliert.

Harmange zieht daraus die quasi logische Konsequenz: Sie bekennt sich zur Misandrie, sie plädiert für die Abschaffung des Mannes als relevantem Faktor feministischem Engagements und für ein gutes Leben als Frau. Moi les hommes, je les déteste ist der Text, der diese Abkehr begründet. Dazu setzt sich Harmange vor allem mit den Strukturen auseinander, die Frauen davon abhalten, sich der patriarchalen gewaltvollen Realität der eigenen Beziehungs- und Lebensverhältnisse zu stellen. Gleichzeitig feiert sie die emotionale und intellektuelle Befreiung, die es für sie selbst und ihr weibliches Umfeld bedeutet hat zu erkennen, dass nicht sie selbst irgendwie falsch sind, „hysterisch“, unweiblich, sondern die Situation, in der sie leben. Dass das Ganze im wörtlichen Sinne nicht nur System hat, sondern auch eines ist:

 

Ich glaube, dass mich nur kontinuierliche feministische Praxis dahin gebracht hat, die Selbstsicherheit und das Selbstvertrauen zu entwickeln, um zu dieser Haltung (der offenen Misandrie; CD) zu kommen. Man gewinnt an Unerschrockenheit, weil die Zahlen zur Gewalt gegen Frauen in einem soziologischen Rahmen betrachtet und analysiert werden. Man begreift, dass das, was man selbst in den eigenen Beziehungen empfindet, und das so oft als persönliches, individuelles Problem abgewertet wird, eine politische Dimension hat, einen systematischen Charakter. Dass das nicht nur wir sind, die uns da in unserem Kopf was zusammenphantasieren, weil Frauen bekanntlich ja so gerne Dramen provozieren.

 

Später im Text fällt dann auch der Slogan, der die Frauenbewegung von Beginn an prägte „Das Private ist Politisch!“ – eine Aussage, die auch Harmanges Vorgehensweise beschreibt, die eigenen, individuellen Erfahrungen immer wieder auf deren sozialen und geschlechterdynamischen Kontext zu beziehen und deren Funktion darin zu analysieren. Sie schreibt nicht nur darüber,  ihre langjährige Unfähigkeit, Wut und Zorn nicht artikulieren zu können, sondern sie überhaupt erst einmal als solche empfinden zu lernen. Sie reflektiert ihre Sozialisation in die Rolle der empathischen, emotionalen und sozialen Care-Arbeiterin, ohne die im heteronormativen Patriarchat weder Beziehungen, noch Familien, noch der Berufsalltag funktionieren können.

Über die Unterwerfung der Frauen unter das Diktat der Heterosexualität: die äußerliche und innerliche Selbstzurichtung zur für Männer sexuell attraktiven Frau und Sozialstatus-Markern mit Yoga, Fitness Studio, Kosmetik und plastischer Chirurgie, Psychotherapie und Kommunikationskursen, Diäten und Wellness-Wochenende. Über die permanente psychische Überlastung, die damit einhergeht im Patriarchat eine Beziehung mit einem Mann zu führen, weil man selbst an alles denken muss, vom Geburtstag der Mutter bis zum Wäsche aufhängen und dem Müll rausbringen. Über den Mechanismus, die aus diesen Asymmetrien entstehenden Konflikte, Streitigkeiten und Auseinandersetzungen als eigenes Versagen, als eigene Schuld zu interpretieren, während der Mann cool bleibt.

Er spricht von einer Position der Vernunft aus, weil ihn das alles ja nichts angeht,– und damit auch bestimmt, was in einer Beziehung als wichtig gilt und was niedliche oder nervige Petitessen der Partnerin sind. Mental Load, heterosexuelle Partnerschaft als signifikanter Negativfaktor für die psychische und körperliche Gesundheit von Frauen und ihrem Selbstvertrauen – Harmange untermauert mit typischen Szenen aus dem Leben einer Frau in einer heterosexuellen Partnerschaft ihre These, dass Heterosexualität und Patriarchat zusammengehören. Und dass die Heterosexualität eine Falle ist, nicht nur für die Frauen. (In einer längeren Passage schreibt Harmange darüber, wie die heterosexuellen Machtverhältnisse es Jungen und Männern unmöglich machen, über eigene Verletzlichkeiten, Ängste und weiblich codierte Bedürfnisse zu reden – und damit auch die Gewalt unter Männern, vor allem sexualisierte Gewalt und Übergriffe unaussprechbar macht.) Unter Heterosexualität versteht Harmange vor allem den Zwang zur Mann-Frau-Paar-Bildung, die Sexualisierung von Reproduktions- und Care-Arbeit sowie von emotionalen Beziehungen bereits in früher Kindheit.

Ein Raum für Frust, Wut und eigene Ängste

Leser*innen, die alt genug sind, um sich an die Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre zu erinnern oder einige Texte dieser Jahrzehnte gelesen haben, wird das bekannt vorkommen: Moi les hommes je les déteste ist die Rückkehr des radikalen Consciousness Raising- und Empowerment-Textes in die aktuelle feministische Debatte. Kate Millet, Shulamith Firestone, Andrea Dworkin, Audre Lorde, Adrienne Rich, Gloria Steinem, Monique Wittig – auf fast jeder Seite des Buches meint man Echos ihrer Stimmen zu hören, ihrer Argumente und ihrer Hoffnung, jenseits der Männer eine freiere, gleichberechtigte und liebevolle Welt zu schaffen. Dahin führt auch für Harmange die Fokussierung des eigenen Blicks auf andere Frauen und vor allem die Fokussierung des eigenen Handelns auf den solidarischen Umgang mit anderen Frauen im eigenen Umfeld und den Aufbau stabiler weiblicher Netzwerke.

Dass eine junge Frau aus Lille 2020 einen Essay schreiben kann oder vielleicht sogar schreiben muss, der in großen Teilen bereits vor fast fünfzig Jahren schon einmal geschrieben worden ist, das kann man traurig und deprimierend finden. So wenig hat sich also in der Sozialisation und im Leben von Frauen geändert. Man kann sich darüber ärgern, dass die Traditionsbildung unter Frauen so schlecht funktioniert, dass alle fünfzig Jahre fast dasselbe wieder gesagt werden muss. Man kann sich wundern, dass in Moi les hommes je les déteste fast keine der großen Mütter, weder des französischen, noch des amerikanischen Feminismus explizit genannt wird oder die Autorin sich auf sie bezieht.

Für die Leser*innen, die Pauline Harmange vermutlich eher im Kopf hatte, als sie ihren Essay für Monstrograph schrieb, sind diese Einwände einer Leserin über 50 wahrscheinlich egal – und das ist gut so. Sie schreibt, wie auf ihrem Blog un invincible été, für junge Frauen, die am Anfang ihrer Karriere als Frauen und Mütter im Patriarchat stehen, also am Anfang ihrer Laufbahn als Sex-, Gefühls-, Versorgungs- und Koch-Dienstleisterinnen, und die sich fragen, warum sie jetzt schon so ein schlechtes Gefühl dabei haben, obwohl doch in Frankreich alles so gut eingerichtet ist, um Kind, Mann und Karriere unter einen Hut zu bringen.

Für die jungen Frauen, deren Energie, Selbstvertrauen und Optimismus, sich ein gutes Leben zu gestalten, bereits in der Schule die ersten Rückschläge erlitten hat und die glauben, das läge an ihnen. Sie strengten sich nicht genug an. Für die ist es am Anfang ihrer feministischen Selbst-Bewusstwerdung egal, ob Harmange die richtigen Theoretikerinnen, die richtigen Begriffe und Konzepte verwendet. Für die ist es wichtig, dass Pauline Harmange ihnen in ihrem Text einen Raum schafft, in dem sie ihren eigenen Frust, ihre Wut, ihre Ängste wiederfinden können – und der ihnen zeigt, dass eine Welt jenseits der Männer nicht nur möglich ist, sondern in Augenblicken weiblicher Solidarität und Freundschaft auch schon da. Und dass Frauen durch praktische Solidarität untereinander diese Welt realer werden lassen – und nicht, in dem man Männer versucht davon zu überzeugen, ihren Arsch in Richtung Gleichberechtigung zu bewegen. Das müssen Männer schon untereinander ausmachen. Das nächste Mal, wenn die Kumpels einen sexistischen Witz machen, ihnen Kontra zu geben, wäre schon mal ein Anfang.

 

Die Übersetzung der Zitate stammt von Christina Dongowski.

Photo by Sinitta Leunen on Unsplash

Kunstautonomie als rechtes Ideal – Von Neo Rauch bis Uwe Tellkamp

von Peter Hintz

 

Wie mit einem ekelerregenden, persönlichen Angriff auf die eigene publizistische Arbeit umgehen? Der neue, gerade bei Wagenbach erschienene Essay Feindbild werden des Kulturwissenschaftlers Wolfgang Ullrich ist nicht nur Resümee seines Konflikts mit dem weltberühmten Leipziger Maler Neo Rauch, sondern zeigt, wie Ullrich im Modus der kunsttheoretischen Analyse wieder Distanz zu Rauch herstellen will. Rauch hatte letztes Jahr ein großformatiges Schmähporträt von Ullrich gemalt, das den ebenfalls in Leipzig lebenden Kritiker als sogenannten “Anbräuner” karikierte, der aus seinen Fäkalien Nazi-Vorwürfe auf eine Leinwand malt. Daraufhin wurde Ullrich zum Ziel rechter Blogs gemacht, die ihn nun mit einem digitalen Shitstorm überzogen, und zum Hohn versteigerte Rauch schließlich sein Gemälde auf einer großen Charityauktion.

Anhand öffentlicher Äußerungen (unter anderem von Rauch) hatte Ullrich zuvor in einem ZEIT-Beitrag gezeigt, wie einige Gegenwartskünstler einerseits rechte politische Positionen beziehen, andererseits aber die Werkautonomie für sich reklamieren – als Schutzschild gegen politische Verantwortung. So hatte Rauch, wie der Maler Axel Krause oder der Schriftsteller Uwe Tellkamp, in Interviews die BRD mit der DDR gleichgesetzt. Nach diesem Geschichtsbild könne man auch jetzt nicht alles – sprich heute in der Regel: Sexistisches, Rassistisches – sagen, ohne als Faschist deklariert und ausgegrenzt zu werden. Folgt man Ullrich, bilden die Werke von Rauch und Krause Landschaften ab, die zwar als antimoderne Imaginationen gedeutet werden können, aber gerade in ihrem Mangel an unverrätseltem Gegenwartsbezug sozial und politisch unabhängig verstanden sein wollen. Ullrich stellte in seinem Essay die These auf, dass vor allem die Idee künstlerischer Autonomie heute zu antiemanzipatorischen Zwecken ausgelegt werde, was ihre ursprüngliche, von linken Künstlern aber aufgegebene Intention – die Befreiung von repressiven Normen – verkehre. Die Kunstautonomie scheine heute also vor allem ein Interesse der Rechten zu sein.

Mit seinem Schmähporträt lieferte Rauch zumindest teilweise einen Gegenbeleg zu Ullrichs These: Dieses Bild macht offen Politik, verunglimpft einen ungeliebten Kritiker und eine vermeintlich insgesamt linksliberale intellektuelle Szene, indem es ihr auf drastische Weise eigenes Talent und Urteilsfähigkeit abspricht. Damit einher geht aber auch die Forderung an diese Kritiker, nicht mehr nach außerästhetischen Maßstäben zu urteilen, was durchaus Ullrichs These entspricht, dass die herrische Forderung nach Autonomie zu einer rechten Strategie geworden ist. Natürlich ist entgegen der rechtspopulistischen Unterstellung das Urteilen nach ‘klassischen’ ästhetischen Maßstäben in der Kritik nie verschwunden. Kolja Reichert etwa wies in einem kritischen FAZ-Kommentar zum Werk von Axel Krause unter anderem darauf hin, dass Krause malerisch “vulgär” und “ungeschickt” sei. Zuvor hatte Ullrich einmal die immer wiederkehrenden, pseudo-bedeutungsvollen Collagen Rauchs kritisiert, eine ähnliche Stilkritik, die Reichert auch Krause gemacht hat. Und Ullrich war in seinem ZEIT-Artikel vorsichtig bemüht gewesen, Rauchs Bildwelten nicht pauschal dem Rechtsradikalismus zuzuschlagen.

Schon durch seine unmittelbare Reaktion auf die Veröffentlichung des Bildes im Juni 2019 wird deutlich, wie sehr Ullrich sich persönliche Distanz zu Rauch wünschte: Wie aus einem damaligen Interview mit dem Deutschlandfunk und nun auch aus seinem Buch hervorgeht, interpretierte er die Figur des “Anbräuners” zunächst gar nicht als Abbildung von sich selbst, sondern als Symbol für einen unter Konformitätsdruck stehenden Gegenwartskünstler. Erst mit der Zeit wurde Ullrich klar, dass tatsächlich er selbst dort verächtlich gemacht werden sollte.

Auf einer neuen distanzierenden, analytischen Ebene verknüpft Ullrich in Feindbild werden seine These vom sich nach rechts verschobenen Autonomiegedanken mit der kultursoziologischen Annahme, dass sich daran auch die deutsche Ost-West-Spaltung ablesen lasse. So seien die heutigen Verteidiger der Werkautonomie in der DDR sozialisierte Künstler, die nach der Wende keinen Anschluss an den westdeutschen Kunstbetrieb gefunden hätten. So sei insbesondere Ullrich, der nicht aus der DDR stammt und erst vor einigen Jahren nach Leipzig gezogen ist, für Rauch zum Symbol westdeutschen Ressentiments gegen ostdeutsche Künstler geworden. Möglicherweise schenkt Ullrich hier der beliebten argumentativen Verknüpfungen von berechtigten Gefühlen des ostdeutschen Abgehängtseins als Ausgangspunkt einer reaktionären politischen Positionierungen zu viel Glauben. Und auch wenn zweifellos der Autonomiegedanke von rechts politisch aufgeladen wurde, ist doch fraglich, inwiefern das ein spezifisch ostdeutsches Phänomen ist. Im Bereich der Literatur ist der Rekurs auf die Werkunabhängigkeit eine Argumentationsfigur, die bei prominenten Autoren aus dem ganzen deutschsprachigen Raum – von Peter Handke bis Uwe Tellkamp – immer beliebter wird, um eine Schutzzone vor politischer und ethischer Wertung aufzubauen. Der rechte Diskurs, an den auch Rauch in seinen Interviews anknüpft, speist sich mindestens zu gleichen Teilen aus ost- und westdeutschen Akteuren, die gern den Osten als Projektionsfläche für gemeinsame, antimoderne Fantasien nutzen.

In der künstlerischen Umsetzung dieser Ostdeutschland-Fantasien spielen aus der DDR stammende Schriftsteller und Maler aber sicherlich bisher die größere Rolle. Uwe Tellkamps vor einigen Monaten erschienene Schlüsselerzählung Das Atelier fiktionalisiert die gegenwärtige reaktionäre Künstlerszene um Rauch. Deren Ateliers erscheinen darin wie eine Mischung aus Bibliothek und Küchentisch, an dem mit Hilfe von Geschichte und Ästhetizismus die sächsische – oder genauer: Dresdner – Identität konstruiert wird. Romantik, Expressionismus, Realismus usw. werden in exkursartigen Monologen von den Figuren vor allem dahingehend vorgestellt, welcher Künstler wann mal was im Elbtal gemalt hat und wie das zur regionalen Eigenart beitrage. Diese steht dabei nicht nur in Differenz, sondern in Dissidenz zur Außenwelt, was die Erzählung bei allem kunstreligiösen Pathos deutlich politisch auflädt. So wird zum Schluss selbst das romantische Vesuvmotiv als “Dresdner Vulkan” gedeutet, weil es diesmal “im Jahr Fünfzehn” in Dresden weltbewegend “gerumst” habe, ein offenkundiger Verweis auf das Entstehen der rassistischen PEGIDA-Bewegung. Interessanterweise vergleicht Ullrich die Ablehnung, die Tellkamp seit seiner zunehmend offen rechtsradikalen Positionierung im Literaturbetrieb erfahren hat, mit der ungebrochenen Popularität Rauchs auf dem internationalen Kunstmarkt. Finanziell hat Neo Rauch ungemein von Liberalisierung und Globalisierung seit der Wende profitiert. Es ist auch dieser schnöde Geldwert von Kunst, der zum Ursprung von Behauptungen künstlerischer Unabhängigkeit gehört.

 

Photo by David Pisnoy on Unsplash

Podcast-Kolumne: “Call Your Girlfriend”

von Svenja Reiner

 

Als ich in die 5. Klasse kam, waren meine Eltern sehr besorgt und drohten mir, alle meine Bücher zu verstecken, sollte ich nicht wenigstens zwei oder drei Nachmittage in der Woche mit Gleichaltrigen verbringen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass diese Anekdote nach einer halbgaren Young Adult-Erzählung klingt, für die mein Vorname zu sperrig ist, und ich bin nicht einmal sicher, ob die angedrohte Maßnahme jemals umgesetzt wurde. Aber ich erinnere mich an eine zweite große Pause, in der ich verzweifelt versuchte, irgendein Mädchen aus meiner Klasse zu überreden, mich nach Schulschluss zu treffen.

Irgendwann habe ich soziale Konventionen gelernt und bis heute sind mir Freund*innenschaften wertvoller als Gold. Bekannte sammelt man in Großstädten in der Toilettenschlange oder auf schlecht gematchten Tinderdates, Affären findet man durch glücklichere Swipes. Aber richtige Freund*innen sind selten und schwer zu bekommen. Selbst wenn es vermutlich bei wenigen Menschen zu ähnlichen Szenarien kam wie auf meinem Schulhof, ist das Finden und Pflegen von Freund*innenschaften eine ganze eigene Herausforderung, über die in unserer Gesellschaft wenig gesprochen und noch weniger gewusst wird. Aminatou Sow und Ann Friedman sind Freundinnen und die Hosts von Call Your Girlfrienda podcast for long-distance besties everywhere – und haben mich in den vergangenen Jahren einiges über  Geld, Queerness in Rural America, Sex Ed, Hautpflege, Scamming, Gossip, Steuern, US-Politik und Shine Theory gelehrt. Als halbwegs anglophiler Mensch mit Twitteraccount hatte ich immer den Eindruck, wenigstens eine ansatzweise fundierte Meinung zu diesen Themen zu haben. Nach den ersten Sätzen jeder Folge erinnerte ich mich regelmäßig daran, dass es schon einen Grund gibt, warum mir nie jemand ein Mikrofon unter die Nase hält. 

Aminatou und Ann treffen in ihren Gesprächen den sweet spot zwischen Millenial’scher Lässigkeit, informiertem Journalismus, intersektionalem Feminismus und tongue-in-cheek teasing. Die beiden wichtigsten Wörter des Podcasts sind Ugh und Structural. Nebenbei führen sie eloquente Gespräche mit Zadie Smith, Jessica Hopper, Gloria SteinemTracy K. Smith, Rebecca Traister und Hillary Clinton, als wäre sie ebenfalls langjährig befreundet. Über ihre eigene Beziehung haben Ann und Aminatou dieses Jahr ihr Buch Big Friendship: How We Keep Each Other Close (2020, Simon & Schuster) geschrieben. In den neun Folgen, die die beiden parallel als quasi digitale Lesereise im Summer of Friendship veröffentlichten, zeigt sich, wie ernsthaft sie ihre Beziehung betrachten.

Das Buch ist kein nostalgisches Memoir großartiger Momente, es geht den beiden um die Untersuchung einer besonderen Verbindung.  Der Umstand, dass Aminatou in Guinea geboren wurde, in Nigeria, Belgien und Frankreich aufwuchs, und Schwarz ist, und dass Ann weiß ist und aus Iowa  kommt, verleiht dieser Freundschaft politische Dimensionen. Race spielt im Miteinander der beiden daher ebenso eine Rolle wie die Entwicklung von Sameness oder Complementary Schismogenesis, die Herausforderung, eine long distance Freund*innenschaft 10 Jahre oder länger zu führen. Die beiden analysieren, wie schwierig es für sie war, Konflikte zu erkennen und anzusprechen – denn sind Big Friendships nicht diejenigen, in denen man sich ohne Worte versteht? Und sie reden offen darüber, wie sie schließlich eine Therapie machten um sich nicht zu verlieren. 

Es wäre zu kurz gegriffen, Aminatou Sow und Ann Friedman nur als Couple zu betrachten – Sow ist Geschäftsfrau, Digital Strategist und erfolgreiche Mitgründerin von Tech LadyMafia, Friedman ist Journalistin und schreibt sehr lesenswerte Features, Essays, Profiles und Interviews. Aber ihre Verbindung ist etwas Besonderes und hat schon vielen Belastungen standgehalten. Den Wegzug von Ann an die Westküste etwa, der der Beginn des Podcasts war, oder Aminatous Krebserkrankung, in deren Folge Ann eine landesweite Blutspendenaktion organisierte (#Bleedin4Amina). Wenn Corona vielleicht dazu geführt hat, dass viele unserer Freund*innenschaften sich ein bisschen long distance anfühlen oder es tatsächlich geworden sind, ist Call Your Girlfriend ein Vorbild dafür, wie man diese besonderen Beziehungen pflegen und wertschätzen kann. Wem durch Sorgearbeit oder Mehrbelastung die Zeit fehlt, kann zumindest den beiden lauschen oder ihren Newsletter The Bleed lesen. See You On The Internet.

 

Photo by Jukka Aalho on Unsplash

Letzte Ausfahrt “Tatort”-Münster

von Dax Werner

 

Mitte der 2010er-Jahre war ich das erste und einzige Mal auf einem WG-Abend, bei dem wir gemeinsam den Tatort geguckt haben. Das Treffen war konkret als “Tatortabend” deklariert, ich kann mich nicht mehr erinnern, welche:r Kommissar:in oder welches Duo in der Folge ermittelte oder worum es ging. Wir bestellten Pizza und konnten der Handlung gut folgen, obwohl wir uns parallel zum Film von unserem Wochenende erzählten. Es fühlte sich nicht hundertprozentig cool an, aber auch nicht grundfalsch, vielleicht ein bisschen flau, in jedem Fall ziemlich studentisch.

Der Song, der diese Zeit damals, also die Phase vor dem Einzug der AfD in den Bundestag und der gesellschaftlichen Debatte um Flüchtende spätestens ab 2016 zusammenfasst, war für mich Wolke 4 von Philipp Dittberner & Marv. Das Lied hat mich schon damals jedes Mal, wenn es lief, ein bisschen aufgeregt, auch weil ich seine Aussage vermutlich immer missverstanden habe: Dass man zufrieden sein kann mit Wolke 4 und nicht für eine bessere und vielversprechendere Wolke wie zum Beispiel Wolke 7 kämpfen soll. Das las sich wie eine perfekte ideologische Beschreibung der Jahre nach der Finanzkrise 2008 bis zur Mitte der Zehnerjahre: Zufrieden sein, mit dem was man hat, nicht nach mehr streben, sich nicht zu viele Gedanken machen. Zumindest wollte ich den Songtext so verstehen.

Diese Form der Selbstgenügsamkeit und des kulturellen Mittelwegs ließ und lässt sich jedoch auch am Tatort beobachten, der Krimireihe, in der seit nun exakt 50 Jahren gesellschaftspolitische Debatten in populärer Form verrührt werden; eine Selbstgenügsamkeit, in der gar nicht erst versucht wird, mit nationalen oder internationalen Produktionen zu konkurrieren. Stattdessen steht die Thematisierung und Vermittlung von gesellschaftspolitischen Diskursen im Vordergrund, über die man im besten Fall parallel in den sozialen Medien und anschließend in der Runde bei Anne Will miteinander ins Gespräch kommt. Durch das Emotionalisieren von bestimmten Themen, indem abstrakte Probleme an einzelnen Figuren durchgespielt und dramatisiert werden, ist der Tatort häufig Bestandteil einer gesellschaftlichen Debatte über virulente Fragen. Dieser sehr didaktische Ansatz bedingt eine konventionelle Filmsprache, die die Sehgewohnheiten des öffentlich-rechtlichen Publikums im Großen und Ganzen nicht zu sehr herausfordert. Mein Irrtum bestand lange Zeit darin, den Tatort als einen Fernsehfilm wie jeden anderen zu gucken. Beim Tatort aber und seinem Kontext in Form öffentlich-rechtlicher Produktionsbedingungen, Sendungen, die inhaltlich anschließen, und dem bis vor wenigen Jahren populären “Twittern über den Tatort”, kann man einem bestimmten Teil der Gesellschaft zuschauen, wie er über sich selbst ins Gespräch kommt: Der Tatort als jetzt aber nun wirklich allerletztes Lagerfeuer-TV.

Für mich aber stand lange vergeblich die Frage im Mittelpunkt was die dort erzählten Geschichten eigentlich mit mir und meiner Biografie zu tun haben. Ich verfolgte die sonntägliche Krimireihe schon seit vielen Jahren, weil ich immer das diffuse Gefühl hatte, dass man dort einen guten Eindruck von etwas bekam, was ich nicht so richtig benennen konnte (vielleicht den bundesdeutschen Durchschnitt?). Am Anfang mochte ich wie viele andere den Münsteraner Tatort am liebsten, weil er das damals angestaubte Format für Millennials wie mich als eine Art frische Genreparodie zugänglich machte. Später interessierte ich mich dann eher für das Dortmunder Team um den düsteren und weltverdrossenen Peter Faber und die Metaexperimente von Ulrich Tukur als Felix Murot, gegen die sich kleine Schlaumeier wie ich mit ihren vielen Filmreferenzen dann kaum wehren konnten. Doch ganz gleich wie ambitioniert und experimentell der Tatort sich hin und wieder gibt, das Grundgefühl ist für mich immer dasselbe geblieben: Enttäuschung. Denn am Ende waren es immer dieselben Fragen, die mich aus der Story rissen: Warum muss dieser vielversprechende Fall schon wieder in einer Verfolgungsjagd mit Showdown enden? Warum geht dieser übermütige Kommissar zum wiederholten Mal auf eigene Faust in das dunkle Gebäude und wartet nicht fünf Minuten auf Verstärkung? Warum tauchen junge Menschen eigentlich so oft psychisch vollkommen gebrochen auf oder geben sich gegenüber den Polizeikommissar:innen so standhaft störrisch? Warum schreien junge Mädchen im Tatort so viel? Ist die Zeitlupe wirklich die einzige mögliche filmische Form, einen Tod durch Schusswaffe darzustellen? Wieso ist die Tatsache, dass ein:e Zeug:in schweigt, gerade schon wieder der einzige Handlungsmotor? Und schließlich: Warum kennt der Tatort soziale Milieus eigentlich ausschließlich als Extreme (sehr reich oder klischeehaft arm), warum also findet die so viel zitierte bedrohte Mittelschicht so wenig Repräsentation? Um es auf eine Kernfrage zu bringen: Von was will mir der Tatort also eigentlich erzählen?

Vielleicht will er ja auch einfach nur mir gar nicht so viel erzählen, zumindest nicht über mich oder meine Lebensrealität. Oder was mich an langen Filmformaten interessiert. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass der Tatort, wenn schon nicht sein eigenes Genre, so zumindest eine eigene Ästhetik herausgebildet hat. Der Drehbuchautor und Regisseur Robert Bramkamp sprach 2010 beim 6. Bundeskongress des Bundesverbandes für kommunale Filmarbeit unter dem Titel Abschied vom Retrorealismus und skizzierte dabei das Konzept des Retrorealismus so:

Es handelt sich um eine fiktionale Konsensproduktion nach politisch korrekten, aus dem Meinungsjournalismus stammenden Kriterien. Das ist die Basis. Diese Kriterien werden übersetzt in Personenhandeln; dieses Personenhandeln wird mit unterkomplexem Illusionismus illustriert – und fertig ist die retrorealistische Wirklichkeit als eine absichtsvoll unterkomplexe, die Zuschauer gewissermaßen ständig abdämmernde Weltmodellierung.

Zwar sprach er nicht über den Tatort, aber es kam mir beim Lesen ein bisschen so vor. Denn mit dem Retrorealismus wird ja gerade auch eine Anschlussfähigkeit filmischer Produktionen an tagesaktuelle gesellschaftliche Debatten und öffentlich-rechtliche Themenwochen anvisiert, also Fernsehen für ein bestimmtes Segment des Publikums, das tendenziell älter und tendenziell bürgerlicher als ich selbst ist. Diese Kompatibilität wird eben auch dadurch hergestellt, dass die durchschnittliche Tatort-Folge im Laufe ihrer Entstehung viele verschiedene Interessen berücksichtigen muss und dadurch auch in ihren erzählerischen Mitteln limitiert wird. Das unterkomplexe, meist wenig Fragen offenlassende Personenhandeln inmitten von Schauplätzen, die jeder potenziell kennt, erzeugt eine Realität, die es so natürlich gar nicht gibt. Sie verläuft stattdessen immer knapp entlang der realen tatsächlichen Alltagswelt und erinnert so manchmal an den Uncanny Valley-Effekt: So nah an der Realität dran, dass man es als Realität erkennt, aber gerade so weit weg, dass eine diffuse Irritation entsteht; in dem Sinne, dass der Tatort mich eigentlich immer an etwas erinnert, was ich gerne gucken würde, dieses jedoch nie erfüllt. Und so rührte meine immer wiederkehrende Enttäuschung beim Tatort-Gucken vielleicht einfach daher, dass ich als Zuschauer, der gehofft hatte, etwas Neues zu sehen oder zu erfahren, nie gemeint war.

Nun sind die zitierten Überlegungen Bramkamps auch schon wieder zehn Jahre her und die Frage, wie ein auf mich persönlich zugeschnittenes Programm überhaupt aussehen könnte, ist vollumfänglich beantwortet: Netflix. Das komplett personalisierte und subjektivierte Fernseherlebnis ist schon länger Realität und der letzte bewusst wahrgenommene Tatort-Sonntagabend im linearen Fernsehen auch schon ziemlich lange her. Aber so sehr die Flut an internationalen Hochglanzproduktionen zum sogenannten Bingewatchen einladen, so schnell zeichnen sich parallel zu den neuen Sehgewohnheiten auch neue Probleme ab. Einige davon hat Georgen Seeßlen letztes Jahr in einem Essay formuliert:

Mit der Serie, die sich als »speziell« ausweist, reagiert die Produktion direkt auf die Wünsche und Möglichkeiten der Kunden, ohne eine lästige Öffentlichkeit dazwischen, und, abgesehen von Äußerungen des Enthusiasmus oder der Enttäuschung, ohne ein Dazwischenfunken der Kritik.

Der in hohen Maße subjektivierte und hochfrequente Serienkonsum sorgt für eine sich immer weiter fragmentierende Öffentlichkeit, in der man nicht mehr so recht ins Gespräch kommt über das, was man da gerade gesehen hat. Auch mit Folgen für öffentlich-rechtliche Produktionen:

Das Fatale an der Spaltung des TV-Verhaltens liegt in der Kraft der Selbstverstärkung. Um noch akzeptable Quoten zu erlangen, müssen die »alten« Sender, die öffentlich-rechtlichen vor allem, genau die Klientel bedienen, die noch im Geschmack an der »heilen Welt« verharrt. Daraus entsteht ein mehr oder weniger gerontologisches Fernsehen, aus Quiz-Sendungen, »Traumschiff« und Formaten über die »Heimat«, durchsetzt mit der üblichen Krimi-Kost, was wiederum die letzten Zuschauer vertreiben dürfte.

Dass sich die öffentlich-rechtlichen Film- und Fernsehproduktionen unter dem Eindruck der neuen Marktmacht der Streaminganbieter nur immer weiter in ihren retrorealistischen Fiktionen verlieren könnten, klingt zumindest nicht unplausibel. Auf der anderen Seite ist es auch nicht so, dass Netflix, Amazon und die anderen Anbieter nun plötzlich alles richtig machen, was früher falsch gemacht wurde. Die deutsche Netflix-Produktion Biohackers etwa wirkt wie eine Serie, die wie bei Malen-nach-Zahlen nach dem Tatort-Prinzip realisiert wurde, eine Art Tatort für die Generation Netflix in halbstündigen Portionen: Ein gesellschaftspolitisches Thema (Gentechnologie) wird in einem bekannten Setting (Studieren in einer mittleren deutschen Stadt) mit unterkomplexen und motivationslosen Figuren thematisiert. Und so streamt es sich auch. Dass Biohackers auf eine unmissverständliche Einteilung zwischen Gut und Böse sowie eine exakt kalkulierte Mischung aus Liebe, Action und Nerd Culture á la Big Bang Theory setzt, zeigt, wie natürlich auch Netflix mit dieser und anderen gefälligen Produktionen letztendlich ein Konsenspublikum bespielt, das sich von dem der Öffentlich-Rechtlichen nur noch im Alter unterscheidet. Zugleich beobachte ich auch an mir selber inzwischen kaum noch zu rechtfertigende Vorurteile, wann immer es um deutsche Produktionen geht, wie zum Beispiel bei der international sehr erfolgreichen Science-Fiction-Mysteryserie Dark. Während internationale Kritiker:innern die Serie mit Twin Peaks vergleichen, blockieren mich die trostlose Visualität, das mysteriöse Geschwurbel der Dialoge und die bedeutungsvolle Schwere jeder einzelnen Einstellung in Dark gerade deswegen, weil ich so genau weiß, dass es sich um eine deutsche Produktion handelt. Schade eigentlich.

Denn um uns bei Laune zu halten, suchen die großen Video-on-demand-Anbieter ja auch außerhalb der USA immer weiter nach spezifischen Stories, die so nur in ihrem jeweiligen Land spielen können und uns so etwas über dieses Land erzählen wollen. Aber wenn man ganz ehrlich ist, gibt es eigentlich nur ein Format, um jemandem Deutschland in 90 Minuten zu erklären: Auch zehn Jahre nach meinem ersten und einzigen organisierten WG-Abend gibt es immer noch nichts, was das diffuse Gefühl von Stillstand und retrorealistischer Nostalgie besser vermitteln könnte als der Tatort.

 

 

Photo by Ajeet Mestry on Unsplash

 

Geschlechtervielfalt lesen – Geschlechtervielfalt schreiben [Queering Literaturbetrieb]

 

Neue Kolumne: Queering Literaturbetrieb
In den letzten Jahren ist ein Trend queerer Literatur auszumachen, in Übersetzung feiern Autor*innen wie Ocean Vuong, Maggie Nelson oder Edouard Louis große Erfolge. Dennoch haben queere Autor*innen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Literaturbetrieb, immer noch zu wenig Präsenz und Mitspracherecht. Diskriminierung, Sexismus, LGBTIQ+-Feindlichkeiten und Ignoranz gehören leider weiterhin zum Alltag. Die neue Kolumne Queering Literaturbetrieb widmet sich in kurzen Essays den Dissonanzen zwischen Literaturproduktion und Verlagswesen. Sie fragt nach dringlichen Themen und Diskursen innerhalb der Gruppe der queeren Schreibenden. Eva Tepest, Katja Anton Cronauer, Kevin Junk und Alexander Graeff haben sich als Autor*innen zusammengeschlossen, um mit dieser neuen Kolumne den aktuellen Wasserstand der queeren, deutschsprachigen Literatur auszuloten. Sie wollen mit ihren Essays individuelle Erfahrungen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensrealitäten zusammentragen und zugleich ein größeres Bild von aktuellen Chancen, Ambivalenzen und Missständen aufzeigen.

 

Eine Kolumne von Katja Anton Cronauer

 

“Ich würde für andere Menschen gerne irgendwann das Vorbild sein, das ich als Jugendlicher nie hatte,” schreibt Linus Giese in seinem autobiografischen Buch Ich bin Linus: Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war (Rowohlt Taschenbuch, 2020), das im August dieses Jahres erschienen ist und es auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat. Vor allem in dem Kapitel Queere Vorbilder schreibt Giese über die Wichtigkeit von Vorbildern und dass er sich „mehr Filme und Serien mit trans Menschen” wünscht, was sicher auch für Bücher gilt. Er beschreibt, wie befreiend und erleichternd es sein kann, Geschichten von Menschen zu sehen und zu lesen, die sind wie eins selbst. Vorbilder ebnen den Weg, um zu sich stehen zu können und um anderen Menschen zu vermitteln, dass es okay ist, trans oder queer zu sein. In diesem Sinne enthält auch das Buch Queer Heroes (Prestel Junior, 2020) von Arabelle Sicardi 53 inspirierende Kurzporträts queerer Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Wissenschaftler:innen, Unternehmer:innen, Sportler:innen und Aktivist:innen, darunter sechs trans Personen.

Sind trans Themen also in der Literatur angekommen? Haben wir ausreichend Repräsentation dieser Bevölkerungsgruppe? Leider nicht. Trans Themen sind eklatant unterrepräsentiert. Mit der Qualität steht es auch nicht zum Besten. Was Intergeschlechtlichkeit und nicht-binäre Geschlechtsidentitäten angeht, sieht es sogar noch schlechter aus (Queer Heroes ist, was die Darstellung von inter und nicht-binären Menschen betrifft, exemplarisch: Es enthält nur ein Porträt einer intergeschlechtlichen und keine Porträts von nicht-binären Personen.). Woran liegt das? Doch zunächst einmal:

Wieviele Bücher zum Thema gibt es?

Dieses Jahr werden laut buchhandel.de insgesamt 153265 [1] Titel (Bücher und e-Books – alle Zahlen vom 13.09.2020) veröffentlicht. Eine Stichwortsuche nach den Begriffen transgender, transgeschlechtlich, transsexuell, transident sowie den zugehörigen Substantiven (mit den Suchbegriffen transgender,*, transsexu*, transident* und transgeschl*) liefert lediglich 183 Titel. Das entspricht 0,12% aller in diesem Jahr veröffentlichten Titel. Schätzungen für den Anteil von trans Menschen in der Bevölkerung liegen bei 0,25 bis 0,6%. Damit ist das Thema Trans eindeutig unterrepräsentiert.

Beim Thema Intergeschlechtlichkeit (Stichwortsuche intergeschl* und intersex*) sieht es noch schlechter aus, dazu gibt es sogar nur 31 Titel, was 0,02% entspricht. Laut der Vereinten Nationen und einer Studie von Anne Fausto-Sterling (siehe S. 51 in Sexing the Body) liegt der Anteil an inter Menschen jedoch bei 1,7%. Die Unterrepräsentation in der Literatur ist hier somit noch ausgeprägter als beim Thema Trans.

Wieviele Menschen in Deutschland sich als nicht-binär verorten ist nicht bekannt. Im Rahmen der ZEIT-Vermächtnisstudie 2016 gaben von 3.104 Befragten 3,3% an, „entweder ein anderes Geschlecht zu haben als bei ihrer Geburt zugewiesen oder sich schlicht nicht als weiblich oder männlich zu definieren“. [2] Ohne die Prozentzahlen für inter und trans Personen, bleiben hier noch zwischen 1,00 und 1,35%. Suche ich auf buchhandel.de mit dem Stichwort nicht-binär, erhalte ich zwei Treffer, von denen sich ein Buch jedoch dem Thema Inter widmet und bei dem anderen unklar ist, ob es tatsächlich um nicht-binäre Geschlechtsidentität geht. Die von Eliah Lüthi herausgegebene Anthologie beHindert& verRückt: Worte_Gebärden_Bilder finden (edition assemblage, 2020), die Beitrage von nicht-binären Personen enthält, erscheint dagegen nicht. Doch selbst wenn mensch in Betracht zieht, dass bei einigen, vermutlich wenigen, Büchern im Sortiment von buchhandel.de die korrekten Stichwörter fehlen, sind trans, inter und nicht-binäre (tin) Menschen in der Literatur insgesamt eindeutig unterrepräsentiert.

Es wäre jedoch keine sinnvolle Lösung, den Anteil an Büchern, die tin Charaktere enthalten oder von tin Autor:innen geschrieben sind, bei bestehenden Standards lediglich zu erhöhen und einfach mehr Bücher zu veröffentlichen, die sich diesen Themen widmen. Gerade in einem Bereich, über den in großen Teilen der Leser:innenschaft noch immer viel Unwissen herrscht, ist es mit der simplen Erhöhung von Repräsentation nicht getan. Denn selbst unter den Büchern, die es hier schon gibt, finden sich zahlreiche, die ihrem Thema nicht gerecht werden. Als Betreiber von trans*fabel – einem Webshop mit Büchern und Kunst zum Thema jenseits des 2-Geschlechtersystems, habe ich den Anspruch, die Bücher vor Aufnahme in den Shop möglichst zu lesen. Auch um für eine gewisse Qualität zu sorgen. Eine oft frustrierende Aufgabe.

Qualitativ fragliche Buchinhalte

Viele der veröffentlichten Bücher stellen tin Personen als Sensation dar, misgendern oder exotisieren sie, wie Frankissstein von Jeannette Winterson (Kein & Aber, 2019), in dem wiederholt auf die vergrößerte Klitoris eines trans Mannes hingewiesen wird und dieser von anderen Charakteren auch immer wieder als Mädchen bezeichnet wird. Die Körperlichkeit von trans Menschen wird dadurch auf ihre vermeintliche Andersartigkeit reduziert, die Aufmerksamkeit erzeugen soll, transphobes Verhalten wiederum wird normalisiert anstatt ein Gegenbeispiel zu realer Diskriminierung zu liefern. Häufig werden tin Charaktere auch lediglich benutzt, um für Verwirrung zu sorgen, wie in Mordfällen, wenn sich spätestens bei der Obduktion herausstellt, dass die getötete Frau einen Körper hat, dem bei Geburt das Geschlecht männlich zugewiesen wurde, oder wie in Ellison Coopers Thriller Todeskäfig (Ullstein Taschenbuch Verlag, 2018), in dem ein Verdächtiger schließlich als Täter ausgeschlossen wird, als er sich als trans outet, da der Täter an seinem Opfer Sperma hinterlassen hat. Auf diese Weise werden tin Menschen und ihre Körper objektifiziert. Statt sie als Individuen darzustellen, liegt der Fokus darauf, ihre körperlichen Eigenschaften für die Entwicklung der Story einzusetzen.

In anderen Büchern werden negative Empfindungen gegenüber eigener Körper derart in den Mittelpunkt gestellt, dass kein Raum bleibt für die Bejahung z. B. intergeschlechtlicher Körper und Empowerment. Gleichzeitig werden die Folgen von Zwangs-OPs an Kindern, durch die bereits in sehr jungen Jahren der Körper in normierte Vorstellungen gezwungen werden soll, nicht thematisiert oder heruntergespielt. Während inter Menschen oft als monströs dargestellt werden, gelten sie in anderen Fällen zum Teil als die besseren Menschen, manchmal gar mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. So auch in dem 2020 erschienenen Buch Arkadien von Emmanuelle Bayamack-Tam, in dem Intergeschlechtlichkeit mal als „krankhafte Mutation“  oder „Irrtum der Natur”, mal als „sagenhafte Metamorphose“ oder „Zukunft der Menschen“ bezeichnet wird und dabei die Adjektive trans und intersexuell synonym verwendet werden. Die Mythisierung und romantische Verklärung von Menschen, die sich nicht in das binäre Geschlechtermodell einordnen, ist aber genauso eine Zurschaustellung von körperlicher Realität wie die Ausnutzung als kurioses Detail einer Erzählung. Neben diesen problematischen Darstellungen von tin Charakteren, finden sich in vielen Büchern auch Heterosexismen, Rassismen und z. B. Diskriminierung nach Alter oder Körperumfang. Und das selbst in Büchern, die ausdrücklich die Absicht äußern, Themen wie Trans und TIN Raum und Repräsentation zu geben und denen mensch ein Bewusstsein für den diskriminierungsfreien Umgang mit Körpern zutrauen könnte. Das Kinderbuch Der Katze ist es ganz egal von Franz Orghandl (Klett Kinderbuch, 2020) erzähle, so der Verlag, vom „Transgender-Kind Jennifer” und sei keine „Problemgeschichte”. Ein Kind darin wird durchweg als der „dicke Gabriel“ bezeichnet, der zudem noch gerade die vierte Klasse wiederholt. Keine andere Person bekommt ein Körper-beschreibendes Adjektiv vorangestellt. Bis auf Jennifers ebenfalls dicken Vater, dessen Körperumfang mehrfach betont wird: Der Papa „blättert mit seinen dicken Fingern” durch ein Heft, landet mit „einem Plumps”, als er sich setzt, und „schlägt mit seiner Speckhand aufs Autodach“. Die anderen, allesamt schlank dargestellten Personen erhalten keine entsprechenden Zuschreibungen. Ein weiteres Beispiel ist der Jugendroman Und morgen sag ich es von Doris Meißner-Johannknecht (Löwenherz, 2018). Laut Verlag thematisiert das Buch „Identität und Geschlecht in einer sensibel und klug erzählten Geschichte und schenkt einen neuen Blick auf die für viele noch immer schwierige Thematik Transgender.” Hier sieht die Hauptfigur Paul vom Balkon aus in einer Hollywoodschaukel aufgrund mangelnder Brille ein „schwarze[s] Riesenteil”, das sich als Mensch entpuppt, dessen „schwarze” Hautfarbe wiederholt thematisiert wird, während die weißen Charaktere nur dann  als weiß bezeichnet werden, als sie auf einer Party die einzigen Weißen sind. Auch hier zeigt sich, dass die reine Darstellung und Thematisierung von trans und tin Menschen noch keine diskriminierungsfreie Repräsentation garantiert, wenn körperliche Merkmale weiterhin stigmatisiert werden. Die meisten dieser Bücher werden von nicht-tin Personen geschrieben.

Ein positives Beispiel für einen Roman, der gelungen ist und in dem nicht, wie sonst häufig, einer medizinischen Sichtweise gefolgt wird, die tin Menschen pathologisiert, ist Sasha Marianna Salzmanns Roman Außer sich (Suhrkamp, 2018). Die Identitätssuche der Hauptfigur Alissa/Ali wird erzählt ohne diese oder andere trans Charaktere in Schubladen zu pressen. Wie selbstverständlich wird von einer Frau am Pissoir geschrieben, die ihren „Schwanz” in der Hand hält. Alissa/Ali gelangt selbstbestimmt und ohne sich Ärzt:innen gegenüber beweisen zu müssen an Testosteron. Auch sonst werden keine Krankheitsbilder hervorgerufen. Denn tin zu sein, ist keine Krankheit und auch kein psychologisches Problem. Informationen hierüber finden sich online, aber auch in Büchern. Genauso wie über die vielen unnötigen OPs an inter Kindern, die negative, lebenslange gesundheitliche Folgen haben, und über die herabwürdigenden Prozesse, die trans Menschen durchlaufen müssen, um die für sie notwendigen Behandlungen zu erhalten.

Wenn Nicht-Marginalisierte über Marginalisierte schreiben

Trotz der Fülle an verfügbaren Informationen scheinen die wenigsten nicht-tin Autor:innen ausreichend zu recherchieren, wenn es um die Darstellung fiktiver tin Charaktere geht. Zudem scheinen sie tin Charaktere häufig nur wegen zugeschriebener Eigenschaften oder als „special effect“ einzusetzen. Löbliche Ausnahmen sind die Bücher Bus 57 von Dashka Slater (Loewe, 2019) über eine:n agender Jugendliche:n und der Thriller Verschnitt von Jennifer Hauff (mainbook, 2020) zum Thema Inter. Bus 57 basiert auf einer wahren Geschichte. Slater hat den Gerichtsprozess, der den wahren Begebenheiten folgte, monatelang verfolgt, mit Beteiligten gesprochen, Hintergründe recherchiert und sich über nicht-binäre Geschlechtsidentitäten informiert. Das Buch Verschnitt handelt von einer OP-Schwester, die sich an einem Kinderchirurgen, der geschlechtsverändernde Operationen an Kleinkindern vornimmt, rächen will. Vorbild dieses Arztes ist Dr. Money, der die von ihm erzwungene Geschlechtsänderung von David Reimer in den 1970ern fälschlicherweise als Erfolg pries und als Argument für Operationen an inter Kindern nutzte. Hauff hat sich u. a. mit Dr. Milton Diamond getroffen, der die fürchterlichen Auswirkungen der Behandlung durch Dr. Money auf Reimers Leben publik gemacht hatte, und sich gegen die Einstufung von Intergeschlechtlichkeit als Krankheit und Zwangs-OPs an inter Kindern einsetzte.

Im Rahmen von trans*fabel, aber auch als Person, die sich als trans und genderqueer verortet, interessiere ich mich natürlich auch für Bücher, die von tin Autor:innen selbst geschrieben werden. Ich erwarte ein Spektrum, das dem meines Bekanntenkreises ähnelt. Doch:

Welche tin Autor:innen werden veröffentlicht?

Mehrheitlich sind es Autobiografien, die von tin (vor allem trans) Autor:innen auf den Buchmarkt gelangen und im Literaturbetrieb publik gemacht werden. „Geboren als Mädchen, leben als Mann“ – so oder so ähnlich lautet häufig der Untertitel oder heißt es im Klappentext. Vom „falschen Körper“ ist, auch in neueren Büchern, viel die Rede. Nun sind das häufig Eigenzuschreibungen, die für trans Menschen jedoch nicht generalisiert werden dürfen. Trans und TIN sind keine Kategorien mit fest zugeschriebenen Eigenschaften und den stets gleichen Selbstwahrnehmungen. Manche trans Menschen fühlen sich im falschen Körper. Für andere ist ihr Körper richtig, ob sie nun körperliche Veränderungen vornehmen oder nicht. Viele sagen, sie sind seit Geburt weiblich/männlich/nicht-binär; ihnen wurde lediglich aufgrund äußerer Körpermerkmale ein falsches Geschlecht zugewiesen. Warum findet das so wenig Eingang in die Literatur? Ist das für die Vermarktung zu komplex und zu abseits der etablierten zwei Geschlechter?

Veröffentlicht werden offensichtlich vor allem trans Autor:innen, die sehr Intimes erzählen, von ihrem Leidensdruck, ihrer Körperdysphorie, also dem Unwohlsein mit dem eigenen Körper, den medizinischen Behandlungen und Diskriminierungserfahrungen. Während dies für viele Realitäten sind, fehlen häufig die positiven Erfahrungen, die Unterstützung und Solidarität, die tin Personen erhalten, und die erlangte Ausgeglichenheit, die damit einhergeht, öffentlich zu sich stehen zu können (ob nun mit oder ohne Hormoneinnahme, OPs, Namensänderung etc.). Autobiografische Bücher, die empowernd sind, keinen zwingenden Leidens- und Transitionsweg aufzeigen gibt es wenige. Ausnahmen sind die Bücher von Ika Elvau, Jayrôme C. Robinet, Thomas Page McBee und Paul B. Preciado.

Nun schreiben tin Autor:innen ja nicht nur Autobiografien. Neben einigen Romanen, die bei großen Verlagen erschienen sind, gibt es Prosa- und Lyrik-Bücher bei kleinen Verlagen wie Edition Assemblage und im Selfpublishing. Hier finde ich Darstellungen und Eigenrepräsentationen, die über Stereotype und binäre Geschlechtsidentitäten hinausgehen. Im Idealfall zeigt sich hier auch ein Bewusstsein weiterer gesellschaftlicher Diskriminierungen, die thematisiert und intersektional mitgedacht werden (Intersektionalität bezeichnet die Überschneidung verschiedener Diskriminierungsprozesse). Leider sind sie die Ausnahme.

Trends und Tokenisierung

Neben der oben erwähnten Verkaufsfaktoren Sensationalisierung und Exotisierung, werden in vielen der Bücher Frauen und Männer stereotypisch dargestellt. Das ist auch in vielen Büchern, die nicht zum Thema TIN sind der Fall. Doch allein die Bedeutungen von trans, inter und nicht-binär sollte darauf hinweisen, dass diese Stereotypen oft, bewusst und unbewusst, unterlaufen werden. Bei Autobiografien von trans Menschen könnte dieses Stereotypisieren zum Teil daran liegen, dass diese sich gegenüber Ärzt:innen, Krankenkassen und der Gesellschaft beweisen müssen und dabei fast schon gezwungen sind, Rollenklischees, u. a. mit Aussagen wie „Ich denke wie ein Mann“, zu erfüllen, damit sie ihre körperliche Transition beginnen können. Das legitimiert jedoch weder diese zu propagieren, noch fast ausschließlich solche Bücher zu veröffentlichen.

Insgesamt wird somit nur ein kleines Segment aller tin Menschen publiziert und dargestellt. So entsteht der Eindruck eines vermeintlichen Kollektivs, in dem alle, mehr oder minder, die gleichen Erfahrungen durchmachen. Fallen tin Menschen dann nicht in diese Kategorie, stoßen sie auf noch mehr Unverständnis und Intoleranz. Häufig wissen Menschen nicht, was nicht-binär in Bezug auf Geschlechtsidentität bedeutet und bestehen darauf, andere Menschen durch Pronomen oder Anrede in eine der Kategorien männlich oder weiblich zu stecken. Sie akzeptieren nicht, wenn ein Mensch sich trotz vermeintlich weiblichem Äußeren und ohne Testosteron nehmen zu wollen, als Mann identifiziert. Oder fragen sich, wieso die Person sich nicht eindeutig männlich kleidet und gibt.

Die publizierten und in Fiktionen dargestellten tin Personen wirken denn auch wie eine Art Token oder anders ausgedrückt wie Alibipersonen, um zu zeigen: Wir sind inklusiv; wir publizieren Bücher über tin Menschen. Oder vielleicht ist es nur ein Aufspringen auf einen Trend, denn Bücher zum Thema Trans verkaufen sich; zu Inter eher nicht. In Zukunft könnte die Anzahl deutschsprachiger Bücher über nicht-binäre Geschlechtsidentitäten sich erhöhen; in der englischsprachigen Literatur gibt es hierzu schon mehr Veröffentlichungen.

Damit haben wir einige Antworten auf eine wichtige Frage zur Veröffentlichung von Literatur zum Thema TIN: „Welche Angehörige welcher marginalisierten Gruppen werden gemäß Vertriebs- und Vermarktungslogiken als Token eines mutmaßlichen Kollektivs herausgestellt, welche nicht?“

Doch was ist nötig, um die Vielfalt von tin Personen in der Literatur widerzuspiegeln?

Recherche, Eigenrepräsentation und Mut

Zum einen sollten wir darauf achten, dass keine diskriminierenden Inhalte publiziert und die Intersektionalität von Diskriminierung mitgedacht wird. Alle Autor:innen sollten sich hier zu mehr Recherche verpflichten und nicht-tin Autor:innen zusätzlich zu mehr Recherche zum Thema TIN. Außerdem ist wichtig, dass mehr tin Autor:innen veröffentlicht werden, damit diese direkt ihre Erfahrungen mitteilen können und was ihnen wichtig ist. Und ich wünsche mir im Literaturbetrieb etwas Mut zu Neuem, um die Vielfalt der tin Community abzubilden, samt genderfluider Glitzerwesen, die ständig ihr Pronomen wechseln oder keins benutzen, und tin Menschen, die so „normal wie du und ich” sind.

 

[1] Hier sind Doppelaufführungen mit dabei. Da dies jedoch auch in den Stichwortsuchen der Fall ist, ändert dies die Prozentzahlen nicht wesentlich.

[2] Tania Witte: Andersrum ist auch nicht besser: Willkommen im Mainstream. In: Zeit Online. 15. Juni 2017. https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2017-06/trans-gender-non-binary-sexuelle-identitaet

 

 

Photo by Delia Giandeini on Unsplash
Der Aufkleber auf dem Foto stammt von Clara Fridolin Biller (@fffridolin_)

Raunen für Clicks

Von Peter Hintz

 

Botho Strauß spricht wieder zu uns. In gewohnt metaphernreicher Sprache heißt sein neuester Aufsatz Der Leviathan unserer Tage. Es gehört nun zu den etablierten Kuriositäten der deutschen Nachrichtenmedien, dass dort alle 3-5 Jahre ein neuer, kulturkritischer Großessay von ihm erscheint. Diese Texte verstehen sich in der Nachfolge seines Aufsatzes Anschwellender Bocksgesang (1993), der während der Jugoslawienkriege dem bürgerlichen Ressentiment gegen Geflüchtete Ausdruck verlieh und zum Gründungsdokument der Wendegeneration der sogenannten Neuen Rechten wurde. Traditionell wählt Strauß für diese Textsorte nicht etwa – wie in kulturkritischer Praxis zu vermuten – eine Literaturzeitschrift mit winzigem Publikum, sondern entweder den Spiegel, oder, wie für seinen neuesten Essay, Die Zeit. Im Leviathan unserer Tage stellt sich Strauß einerseits gegen das “Populistische und Populäre“, mokiert sich andererseits aber über “Gesinnungs-Minoritäten.“ Strauß bedient sich nämlich selbst gern der Rhetorik des Populismus: Minderheit sein wollen, wenn man als Elite wahrgenommen werden will, und sich in der Mehrheit wähnen, wenn der Rest stört.

Wie Der Leviathan unserer Tage zeigt, hat sich seit Der letzte Deutsche, seinem 2015 erschienenen Spiegel-Text (zumindest essayistisch) nicht sehr viel bei Strauß getan. Strauß ist – so viel Metapher sei hier selbst erlaubt – ein intellektueller Wiederkäuer. Ältere Textstellen hat er, um damaligen verschwörungsideologischen Anklang erleichtert, übernommen. Aus “Uns wird geraubt die Souveränität, dagegen zu sein” (2015) wird “Schaden nimmt die Begabung, dagegen zu sein” (2020). Auf der Höhe der letzten sogenannten Flüchtlingskrise beschwor er Stefan Georges “Geheimes Deutschland” und gab sich als den gleichnamigen “letzten Deutschen” aus. Aktuelle Lieblingsthemen rechter Polemik, die nahtlos nun auch bei Strauß auftauchen, sind “Gendertum”, “Multiminoritäten-Patchwork”, “Klimawandel” und die “Netzgemeinschaft,” über deren angebliche Konformität er allerdings bereits 2013 ein ganzes Buch vorlegte. Gegen die Linken positioniert Strauß noch immer George, den er nun direkt als “geistigen Rechten” bezeichnet. Aber bereits im Anschwellenden Bocksgesang hieß es ja, dass rechte Intellektuelle im Gegensatz zu den linken eine “Phantasie des Dichters, von Homer bis Hölderlin” besäßen. Angesichts dieser Neuauflage alter Lieder bleibt zu hoffen, dass er nach der heftigen Debatte um seinen Text von 2015 keinen ähnlichen Provokationserfolg wird verbuchen können. Strauß ist wohl auch ein Opfer seines eigenen Erfolgs: Er ist längst nicht mehr der einzige Feuilletonist, der mit populären Thesen wie von der deutschen “Schuld- und Verschuldenshybris” und dem “Gutgemeinten unter dem Triebzwang von Gesinnung” für große deutsche Zeitungen Leserschaft erzeugen soll.

Im Leviathan unserer Tage ist man erstaunt, wie leicht einem Autor die politische Klassifizierung von Schriftstellern als “geistigen Rechten” fällt, der im selben Text mit kunstreligiösem Pathos das Werk gegen die Ideologiekritik verteidigt: “wenn die Neuen Mönche in herrenlosen Clouds auf verschlüsselte Archive stoßen, in denen sie etwas Interessantes vermuten, werden große Werke wieder ausgegraben und neu ediert für den Klosterbestand.” Wie immer wirkt es unfreiwillig komisch, wenn der Ewigkeitsdenker Strauß sich an Vokabeln aus der Tagespolitik orientiert, um sein Programm zu formulieren: “Kein Neuerer, kein Umstürzler, nicht einmal ein diabolischer Durcheinanderwerfer in Sicht! Dafür jede Menge denkfaule ‘Querdenker.’”

Nicht besonders originell stellt er George in eine Reihe mit “Jünger, Benn, Schmitt, Borchardt, Heidegger, Hofmannsthal.” Diese Liste liest sich so, als hätte Strauß aus dem Inhaltsverzeichnis der Konservativen Revolution von Armin Mohler abgeschrieben, der nach 1945 damit eine Tradition angeblich antifaschistischer Rechter konstruieren wollte. Und obwohl diese Namen auch sonst, nicht zuletzt bei Linken, außerordentlich bekannt sind, stehen sie für Strauß “entgegen dem Klischee, der Geist und das Gute stünden notwendig links.” Da merkt man dann auch, wie gering der Anspruch an seine Leser tatsächlich ist: Für die Entschlüsselung seines inhaltlich und stilistisch klischierten ‘Raunens’ reicht es, in den letzten paar Jahren mal irgendeine (geschichts-)politische Debatte mitbekommen zu haben, die nicht Strauß selbst betraf.

Podcast-Kolumne: “How Was Your Week?”

von Svenja Reiner

 

Erinnerungen sind eine tricky Angelegenheit. Im Rückblick fällt es schwer zu unterscheiden, welche Details wichtig sind und welche nostalgisch-romantische Erinnerung an das frühere Ich. Daher mache ich es kurz: Durch Umstände, die anderswo ausführlicher erzählt werden könnten, immatrikulierte ich mich vor 11 Jahren ohne ausreichende Sprachkenntnis in einen englischsprachigen Studiengang. Aus Furcht darüber, direkt wieder rausgeworfen und in meine Heimatstadt zurückgeschickt zu werden, begann ich, möglichst viele englischsprachige Medien zu konsumieren und landete schließlich bei Podcasts, weil man sie sogar zwischen Audimax und Netto hören kann.

How Was Your Week war mein und  Julie Klausners erster Podcast. Vermutlich stimmt das nicht, aber das ist nicht weiter schlimm. Wichtig ist vor allem, dass ich damals zum ersten Mal in einer Stadt mit Straßenbahn lebte, ‘particular’ und ‘peculiar’ nicht unterscheiden konnte und deswegen unter schlimmen Impostersyndrom litt. Meine Orientierungslosigkeiten manifestierte sich noch in allerlei weiteren Merkwürdigkeiten und erreichte einen komischen Höhepunkt als ich eines Morgens die Schuhe meiner Mitbewohnerin anzog und einen Tag lang mit Chucks All Stars über den Campus lief, die mir eine Nummer zu klein waren. 

Katja Petrowskaja hat die Theorie, dass es charakterliche Wachstumsphasen gibt, in denen Literatur noch die DNA formt, organisch wird und ins Blut übergeht. Ab einem bestimmten Alter wird alles Gelesene zu Wissen und Theorie, aber davor kann sie sogar Herkunft und Familiengeschichte ersetzen. Ich las nicht, ich hörte Julie Klausners dichten Monologen zu, und mir ging alles unter die Haut: Ihre Popkulturverweise, ihre ironische Selbstkritik, die zahllosen Namen queerer Künstler*innen und Musicalstars, ihre große Aufmerksamkeit für Absurditäten des Alltags und die Liebe zu The Monkees und Basset Hounds und ihre Sprache. Ich habe noch nie zuvor jemanden so eloquent und so entschlossen über Kultur reden hören. Endlich sagte mir jemand seine Meinung, aber es klang anders als das kühle Kunsturteil des Literaturseminars, sprunghaft, assoziativ und spielerisch. In ihrer ersten Folge interviewt Klausner ihre eigenen Eltern über The King’s Speech, der 2011 für 11 Oscars nominiert war und vier davon gewann. Wären Klausners Eltern Teil der Jury gewesen, wäre die Entscheidung anders ausgefallen.

Dass Julie Klausner sich auch in dieser ersten Episode nicht vorstellt, fällt mir erst heute auf. Sie verschweigt ihre Ausbildung an der New York University, der Upright Citizens Brigade und der School of Visual Arts, ihr bereits erschienenes und von HBO optioniertes Memoir I Don’t Care About Your Band, ihre vielen Schreib- und Schauspielaufträge (u.a. für Mulaney, Best Week Ever, Saturday Night Live, The Awl, Vulture). Anders als die meisten Hosts von Podcasts holt sie sich keinen Vertrauensvorschuss durch alte Karrierelorbeeren ab. Stattdessen benennt sie die sehr schlichte Prämisse: “I’m going to talk to a guest and ask them how their week went. And hopefully in the process we will learn – this is a very pedantic endeavour – we will learn about each other and get to know each other and what have you.

Neun Jahre später kenne ich Irene M. Pepperberg, David Rakoff, David Sedaris und Natasha Vargas-Cooper. Ich bin dabei, als Klausners Katze Smiley Muffin stirbt, sie sich von ihrem langjährigen Partner trennt, David Rakoff dem Krebs erliegt, ihre Fernsehserie Difficult People von Hulu gekauft wird, sie und Billie Eichner die Hauptrollen spielen, Klausner alle Drehbücher selbst schreibt, und die Show nach drei Staffeln abgesetzt wird. Dazwischen höre ich ihre Kritiken über John Waters, The Real Housewives of New York City, Kermit The Frog, Salt-N-Peppa, House of Cards, Frozen, DJ Khaled, Rosemary’s Baby, Alice Cooper, SMASH und Marina Abramovic an, ihre Überlegungen, wer in die Redhead Hall of Fame des Podcasts aufgenommen werden sollte, ihre Ausführungen zu zeitgenössischem Feminismus, Hollywoodgossip oder Verschwörungstheorien (Johnny Depp is bold! You read it here first!). Ich lerne Wörter wie zeitgeisty, cautionary tale, soulpatch und gentleman friend, während die Show heute genauso klingt wie in der ersten Folge und lediglich die Hintergrundmusik des Monologs angepasst wurde.

Mittlerweile habe ich mein Studium beendet, HWYW läuft unregelmäßiger und ich habe knapp 40 weitere Podcasts mit meinem iTunes-Account abonniert. Um die soll es hier in den nächsten Monaten gehen. HWYW war mein Einstieg und ich weiß nicht, ob er heute jemand anderem taugen kann. Ich habe Julie Klausner 236 Episoden lang zugehört, wie andere Susan Sonntags 48 Notes on Camp gelesen haben: Auf der Suche nach Orientierung und Geschmack, einer großen Schwester oder einer älteren Freundin. Und natürlich hoffe ich, dass bald irgendjemand über sie sagen wird: “This is all I’m going to say about the Oscars: I am glad that Céline Dion no longer needs an introduction.

 

Photo by Jukka Aalho on Unsplash

Spaßmaschine – Weibliche Autorenschaft und Ambition

von Katharina Hartwell

Anfang des Jahres erkundigte sich ein Bekannter nach dem Stand meiner Arbeit. Er wusste, dass ich seit einigen Jahren an einer Trilogie schrieb, deren erster Band kürzlich erschienen war. Da der zeitliche Abstand zwischen dem Erscheinen der einzelnen Bände höchstens ein Jahr betragen sollte, ich aber länger zum Schreiben brauchte, arbeitete ich seit einer geraumen Weile vor. Unmittelbar nach Erscheinen des ersten Bandes hatte ich also bereits mit dem dritten begonnen. Als ich dies meinem Bekannten  erklärte, gab er ein Prusten von sich, „Du Maschine“.

Interessant, ein paar Wochen zuvor hatte ein anderer Bekannter in einem anderen Gespräch exakt dasselbe zu mir gesagt: „Katharina, du bist so eine Maschine.“ Beide Männer schnaubten, kurz bevor sie die Worte sprachen, als würden die Worte unwillkürlich, wie ein Niesen aus ihnen hervorbrechen.

Du Maschine ist eine Beleidigung, die vorgibt ein Kompliment zu sein, in Wahrheit aber eben bloß eine Beleidigung ist. Wollen wir ihren Implikationen auf die Spur kommen, tun wir gut daran, Maschine zunächst einmal ganz wortwörtlich zu betrachten. Die Vorstellung einer schreibenden Maschine negiert alle gegenläufigen Assoziationen kreativen Arbeitens oder Literatentums. Feingeistige Intellektuelle, fühlende, denkende Poeten sind keine Maschinen, im Gegenteil, ihr Schaffen hat nichts mit Effizienz, Markt oder Kommerz zu tun, dafür umso mehr mit Genie, geistigen Höhenflügen und einer Literatur, die sowohl ästhetisch als auch inhaltlich der Trivialliteratur überlegen ist, die sich bedauerlichen Zwängen unterwirft. Im Gegensatz zum Poeten ist die Maschine seelen- und verstandlos. Weil alles, was sie schreibt, dem Diktat der Effizienz unterworfen ist, kann es weder ambitioniert noch außergewöhnlich sein. Die Maschine verfasst keine Literatur, sie produziert Schund.

„Du Maschine“ beschwört für mich die Erinnerung an ein anderes Kompliment herauf, das mir ebenfalls gleich mehrmals gemacht wurde, ausschließlich von männlichen Bekannten, immer in einem Ton irgendwo zwischen Anerkennung und Ekel: „Du willst es wissen!“

„Du willst es also wissen!“, erklärte grinsend ein Moderator nach meiner ersten  öffentlichen Lesung vor gut fünfzehn Jahren.

„Na, du willst es aber wissen!“, stellte ein Veranstalter fest, nachdem ich auf seine Nachfrage hin die drei Verlage genannt hatte, die ich mir für meinen Debütroman wünschte.

„Du willst es wissen, was?“, fragte mich erst kürzlich ein Bekannter, als ich ihm erzählte, dass ich neben der Trilogie an einem essayistischen Projekt arbeitete.

Unklar ist, was ich wissen wollte und noch immer wissen will. Vielleicht: Wie weit ich gehen kann. Was ich mir alles nehmen kann, bevor mich jemand stoppt. Wie gut ich bin. Was mir zusteht. Es wissen zu wollen ist jedenfalls eine Herausforderung, eine Kampfansage an die Welt. Du willst es wissen spricht von einer Anmaßung, du Maschine! von dem Versuch, sie durchzusetzen. Gesprochen wird in jedem Fall von einer Ambition, die unmenschlich, vor allem aber unweiblich ist. Ich habe mich zu begreifen als eine Art Terminator, nicht nur als Maschine, sondern als Kampfmaschine, als jemand, dem moralische und ästhetische Bedenken fremd sind. Skrupellos folge ich meiner eigenen Ambition.

Diesem nicht besonders attraktiven Bild wird ein anderes komplett gegenläufiges, dabei aber nicht unbedingt verheißungsvolleres, gegenübergestellt: das spielende Kind. „Das hat bestimmt viel Spaß gemacht!“, wird mir oft anvertraut, wenn andere Menschen mir meine Arbeit beschreiben. Nach dem Spaß erkundigen sich immer nur meine Kolleginnen und weiblichen Bekannten. Den Männern ist egal, ob ich Spaß hatte oder nicht, sie interessieren sich für Vorschuss- oder Auflagenhöhen.

Die Frage nach dem Spaß ist legitim und scheint mir umso legitimer je ferner die Fragende der eigentlichen Tätigkeit des Schreibens ist. Gleichzeitig würde mich interessieren, ob Michel Houellebecq, Daniel Kehlmann und Philip Roth auch oft gefragt wurden, ob ihre Arbeit ihnen viel Spaß mache. Nun, im Falle Roths zumindest kennen wir die Antwort ja.

Ich möchte mich hier keinesfalls generell gegen das Konzept von Spaß bei der schriftstellerischen oder jeder anderen kreativen Tätigkeit aussprechen. Es ist mir vollkommen gleich, wer wie viel Spaß beim Schreiben hat oder nicht hat. Ganz sicher will ich nicht argumentieren, dass ein Text, der mit Spaß geschrieben wurde, qualitativ einem unterlegen ist, der unter Qualen entstand. Mir geht es ausschließlich um das auffällige Bedürfnis, Autorinnen Spaß zuzuschreiben, ein Bedürfnis, das bei männlichen Autoren sehr viel weniger stark ausgeprägt scheint. Sie denken ja so angestrengt, wer käme da auf die Idee nach Spaß zu fragen!

Mit Spaß verbinden wir Leichtigkeit, Tätigkeiten, bei denen wenig oder nichts auf dem Spiel steht. Das spielende Kind hat Spaß. Selbstvergessen, ohne großen Plan oder Ziel spielt es vor sich hin. Doch je höher die Anforderungen sind, die man an sich selbst stellt – so empfinde ich es zumindest –, umso prekärer ist es um den Spaß bestellt. Gleichzeitig müssen Frauen aber scheinbar Spaß beim Schreiben haben. Es ist ja der Grund, aus dem wir überhaupt schreiben. Erfolg ist uns immer irgendwie passiert, zufällig, unbeabsichtigt. Wir sind fast ein wenig beschämt, befangen erröten wir, zucken die Achseln und gestehen: „Es war ja schon immer mein Traum, aber natürlich hätte ich nie gedacht, dass ich eines Tages tatsächlich …“ Wir versichern wieder und wieder, zu bescheiden zu sein, als dass wir irgendwelche Erwartungen an jene Tätigkeit geknüpft hätten, die unsere gesamte berufliche Existenz ausmacht. Wir setzen Familienplanung, Freizeit, unsere Miete und Versicherung, unsere Gesundheit und unseren Freundeskreis aufs Spiel und beteuern trotzdem, ziemlich überrascht zu sein, dass uns irgendwer bezahlen wolle, für unsere Gedanken, unsere Worte. Wir sind doch bloß unserem Herzen gefolgt und reingestolpert in die Autorinnenexistenz. Ich kann mir nicht recht erklären, wie irgendwer diesen steilen Abhang allen Ernstes hinaufgestolpert sein will, trotzdem halten wir weiter an der Fiktion fest und den Kopf unten.

„Ich finde es toll, dass du denkst, was du zu sagen hast, ist so wichtig, dass andere es lesen sollen“, sagte vor vielen Jahren eine Freundin zu mir. Noch ein Kompliment! Ein paar Jahre später umarmte sie mich und erklärte: „Ich freue mich so, dass du deinen Traum lebst!“ Dass sie es aufrichtig meinte, glaube ich ihr. Alles vergeben und vergessen, solange wir uns darauf einigen können, dass ich meinen Traum irgendwie aus Versehen lebe, dass ich Autorin geworden bin, um Gottes Willen nicht, weil ich dächte, ich hätte etwas zu sagen, sondern einzig und allein, weil es mir so viel Spaß macht! Ich habe mich aus Versehen bis hierher gespielt.

Das spielende Kind und die Maschine bilden unterschiedliche Enden eines Spektrums, haben dabei aber erschreckend viel gemein. Ihnen beiden fehlt jeder Ernst, jedes intellektuelles Verständnis für Literatur und ihre Bedeutung. Die Autorinnenmaschine ist zerfressen von Ambition, sie will es wissen –  aber ob sie überhaupt etwas von Literatur versteht? Unklar! Die Autorin, die einfach nur Spaß hat, eine tollpatschige Prinzessin, der oft ein Preis auf den Kopf fällt – sie weiß eigentlich auch nicht, warum – und die irgendwie bei einem Verlag gelandet ist, ohne dass sie es sich selbst erklären kann, muss auch nicht als ernstzunehmende Denkerin, als Schreibende, als Konkurrentin gefürchtet werden.

Beide Betrachtungsweisen im Übrigen sind entkoppelt von jeder ökonomischen Realität, als gelte diese für Frauen weniger als für ihre männlichen Kollegen. Dass ich mir als Autorin einen Vertrag für mein nächstes Buch wünsche, einen guten Vorschuss, einen neuen Auftrag, eine angemessene Bezahlung ist wohl weniger Ausdruck meines skrupellosen Bestrebens nach intellektueller Selbstverwirklichung (auch wenn der Wunsch nach Anerkennung immer und durchaus ein valider Grund ist), sondern eben unabdingbar für die Sicherung meiner Existenzgrundlage. Ob es ambitioniert ist, nicht aus der Künstlersozialkasse geworfen zu werden, weil das eigene Einkommen so niedrig ist? Ob es ambitioniert ist, die eigene Miete zahlen zu wollen, ohne dass Partner oder Familie einspringen müssen? Vielleicht. Sonderbar jedenfalls, dass diese Ambition in Gesprächen mit Kollegen so selten Thema ist, oder wenn geäußert, belächelt wird, als habe man sich die Behauptung, auf Bezahlung angewiesen zu sein, gerade ausgedacht. Der wahre Intellektuelle steht über Geld – vielleicht hat er welches geerbt oder einen lukrativen Nebenjob als Hedgefondmanager?

In jedem Fall scheint die Erkenntnis, dass das Bedürfnis, angemessen bezahlt zu werden, einen literarischen Anspruch nicht ausschließt, wohl primär für jene überraschend, die das Privileg genossen haben, stets finanziell abgesichert zu sein. Tatsächlich kann beides friedlich ko-existieren – und muss es oftmals sogar.

Herunterbrechen lässt sich die Konstruktion weiblicher Ambition meiner eigenen Erfahrung nach also oftmals wie folgt: Der offen ambitionierten Frau wird ein obsessiv, unmenschliches, sie zur Maschine machendes Streben nach Macht, Anerkennung oder Reichtum unterstellt. Dass eine ökonomische Notwendigkeit besteht, finanziell tragbar zu sein, wird ausgeschlossen oder zwar gesehen, aber dann herangezogen zur Abwertung der intellektuellen, literarischen Leistung (“Es ging nur ums Geld.” oder “Hast du gehört, wie hoch der Vorschuss war, den sie kassiert hat?”). Hieran schließt nahtlos die fatale Annahme an, Integrität und Ambition schlössen einander aus, eine Annahme, die wohl öfter für Frauen als für Männer zum Fallstrick wird. Ein defensiver weiblicher Umgang mit diesen Strukturen ist die Priorisierung von Spaß und einer damit einhergehenden Negierung jedes angestrengten und anstrengenden Strebens, welches die Frau in unangenehme Konkurrenz zu männlichen Kollegen rückt oder gar den Verdacht nahelegt, sie wolle es wissen.

Ich wünsche mir, dass das Bedürfnis, ernst genommen zu werden, nicht primär als symptomatischer Auswuchs eines krankhaften Ehrgeizes verstanden wird – vor allem bei Frauen. Ich wünsche mir, dass die Annahme, man habe etwas zu sagen, das womöglich wert ist, gehört zu werden, nicht als Anmaßung und Kampfansage betrachtet wird – vor allem bei Frauen. Denn wenn wir grundsätzlich an unserem Recht, zu sprechen und zu denken – nichts anderes ist Literatur –, zweifeln, machen wir uns selbst handlungsunfähig und stumm. Eine stumme Autorin kann aber überhaupt keine Autorin sein. Den weitläufigen Raum zwischen textproduzierender Maschine und spielendem Kind müssen wir uns also weiter schreibend erschließen und tun es Jahr um Jahr, Buch um Buch. Wenn ich mich in der aktuellen literarischen Landschaft umschaue, bin ich optimistisch, dass es gelingen kann und bereits gelingt. Wir leben in aufregenden Zeiten, wir kommen, wir sind schon fast da, wir wollen es wissen.

Photo by Cinq1 on Unsplash

Wir sind nicht so – Über Diversität, Tokenism und „Migrationsliteratur“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

von Simoné Goldschmidt-Lechner

Obwohl man Amazon-Rezensionen zu Büchern bekanntlich niemals lesen soll, stieß ich auf den folgenden Kommentar unter dem Sammelband Eure Heimat ist unser Albtraum, der 2019 bei Ullstein erschienen ist:

„Ich würde jeden bitten, sich seine Meinung über türkischstämmige Deutsche nicht über so ein Jammerbuch zu bilden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Nichte eines Gastarbeiters wirklich die Beweggründe ihres Großvaters nachvollziehen kann.”

Der Titel dieser Rezension lautet „Wir sind nicht so“. Das Spannende ist hier, dass die rezensierende Person sich offensichtlich in dem Kontext des provokativ-binären Titels nicht mit der Rolle der Angesprochenen (Eure Heimat) identifizieren konnte. Das heißt, sie identifiziert sich nicht mit Ihr, sie verwendet ein anderes Framing, nämlich das des kollektiven Wir. Sie möchte sich jedoch gleichzeitig von dem Wir des Buchtitels distanzieren und eine dritte Kategorie aufmachen: nämlich die von BIPoC-Personen (bzw. „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „türkischstämmigen Deutschen“, wie der/die Kommentator*in selbst schreibt), die integriert seien. Für diese Gruppe sei die Heimat der anderen eben kein Albtraum. Es geht also um Ein- und Abgrenzung von Identitätszuschreibungen, die interessanterweise nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft vorgenommen werden kann, sondern auch von anderen Personen aus marginalisierten Positionen, zuweilen aus derselben marginalisierten Position wie der eigenen. Die Person, die diese Rezension verfasst hat (mit deren Meinung, das sei an dieser Stelle deutlich gesagt, ich natürlich nicht übereinstimme), verwehrt sich also folglich einem Kategorisierungsversuch, den sie als übersimplifiziert wahrnimmt. Sie sieht sich und ihre Identität in ihrer Komplexität in diesem Sammelband nicht repräsentiert.

Obwohl der Literaturbetrieb zu großen Teilen immer noch ein exklusiver Club ist und erst langsam vereinzelte Stimmen von BIPoC und weißen Menschen mit Migrationshintergrund sowie Stimmen von Frauen zu Wort kommen, scheint es gerade in letzter Zeit einen Trend zu geben, verschiedene Identitäten in der Literaturszene greifbar und eben auch repräsentierbar zu machen. Das trifft auf Frauen zu (siehe die Debatte zu Sexismus im Literaturbetrieb von 2017 sowie #VorschauenZählen), auf Personen der LGBTQI+ Communities, und in letzter Zeit auch besonders auf Personen mit „sichtbarem Migrationshintergrund“, also BIPoC Personen. In der Regel sind es nicht nur die Autor*innen, die diese verschiedenen Identitäten, diese „Diversität“, repräsentieren sollen, sondern auch die Inhalte ihrer Werke. Beispiele sind mannigfaltig, über Romane und Gedichtbände der letzten Jahre, wie Saša Stanišić‘ Herkunft (2019), Fatma Aydemirs Ellbogen (2017), Shida Bazyars Nachts ist es leise in Teheran (2016) und Özlem Özgül Dündars gedanken zerren (2018), bis hin zu jüngst erschienenen Romanen, 1000 Serpentinen Angst von Olivia Wenzel (März 2020), Im Bauch der Königin von Karosh Taha (April 2020) oder Die Sommer von Ronya Othmann (August 2020). Es geht um Familiengeschichten, autofiktionale Erzählungen und die Geschichten von Communities, aus denen man selbst kommt, in Vierteln, in denen man selbst groß geworden ist. Immer auch um die Identität, die sich aus einer postmigrantischen Perspektive ergibt, dieses Dazwischen, wenn es beispielsweise aus der Perspektive der 18-Jährigen Hazal in Ellbogen heißt:

„Irgendwas hat ‚Gegen die Wand‘ gerade mit mir gemacht, irgendwas ist jetzt für immer anders. Aber Mama hat nur mit der Zunge geschnalzt und ‚Allah, Allah‘ gemurmelt, und dann behauptet, die hätten den Film nur gemacht, damit wir Türken schlecht dastehen. Punkt. Das war alles, was sie dazu zu sagen hatte. Ich habe sie nur wortlos angeschaut und mir den Film noch wochenlang heimlich zum Schlafengehen reingezogen.“

Während ich die steigende Anzahl an Veröffentlichungen von fellow BIPoCs vorbehaltlos begrüße – schließlich sind es diese Werke und Erzählungen, die mich dazu bewegt haben, mich überhaupt näher mit jüngerer deutschsprachiger Literatur zu befassen und die mich dazu ermutigt haben, selbst zu schreiben – klingen trotzdem oft die Worte aus Rezensionen, wie aus der eingangs zitierten, für mich als Woman of Colour[1] nach, legen sich bitter auf meine Zunge und wollen nicht recht weichen. Der Grund dafür liegt nicht darin, dass Wir so nicht sind, denn kollektiv sind Wir es: Wir machen alle Rassismuserfahrungen in verschiedenen Kontexten. Aber ich, bzw. das Wir meiner Familie, das Wir meiner Herkunft und Geschichte, die zu einer sehr bestimmten Art von verschiedenen komplexen Diskriminierungsmechanismen nicht nur in Deutschland, sondern auch im „Herkunftsland“ meiner Mutter geführt haben, sind in all diesen Werken nicht vertreten. Diese Geschichte kann nur ich schreiben. Und die Frage, die unter der Oberfläche schwelt, ist, ob es dafür in der deutschsprachigen Literaturszene noch genügend Raum gibt, oder ob das Kontingent für Frauen of Color nicht mittlerweile ausgeschöpft ist.

Die von mir manchmal empfundene Bitterkeit ergibt sich genau daraus, dass es eine Begrenzung der Plätze in Verlagen, Agenturen und Wettbewerben für uns zu geben scheint. Eine Begrenzung, die eine Vielfalt unseres Wir nicht zulässt, die im Feuilleton fortgeführt wird, wenn Rezensionen die Komplexitäten eines bestimmten Werkes einer mehrheitlich weißen Leserschaft nicht begreifbar machen können, geschweige denn die verschiedener Werke unterschiedlich positionierter Personen innerhalb derselben Gruppe. Ein Beispiel hierfür sind die Kommentare weißer Feuilletonist*innen in Bezug auf den angeblich unauthentischen Sprachgebrauch in Aydemirs Ellbogen (“Ordentlich Milieu drübergeschnoddert” lautete etwa der Titel der Zeit Online Rezension, die Aydemir vorwirft, sie würde “Migrationsklischees” reproduzieren.) Hier nämlich liegt die zweite Gefahr: Dass unsere Geschichten, wenn sie denn aufgeschrieben werden, dass diese singulären Geschichten letzten Endes unverstanden bleiben. Dass die wenigen von uns, die es in die kollektive Wahrnehmung eines Wir schaffen, vereinfacht aufgenommen, die Singularität unserer Geschichten einer Lesegewohnheit der Mehrheit zum Opfer fällt.[2] Dass also diese Geschichten, die gelesen werden, nicht für BIPoC-Personen als Repräsentation dienen, sondern für die Unterhaltung der Mehrheitsgesellschaft zu einer Art Token verkommen, der „Migrationsliteratur“ heißt.

Der Begriff des Tokens und des Tokenism kommt aus der anglophonen Antirassismusforschung. Im Cambridge Online Dictionary wird Tokenism folgendermaßen definiert: „[A]ctions that are the result of pretending to give advantage to those groups in society who are often treated unfairly, in order to give the appearance of fairness”, das heißt also, solche Aktionen, die zum Schein einer Bevorzugung marginalisierter Personengruppen erfolgen, aber nicht das Ziel einer tatsächlichen Gleichstellung im Sinne von fairer Behandlung haben, die also einer rein symbolischen Funktion dienen. Alice Hasters nennt dies in Bezug auf BIPoC-Personen auch den Maskottcheneffekt, ich verwende hier entweder den englischen Begriff oder den der Tokenisierung (auch weil mir die Doppeldeutigkeit des Begriffes aus der Computerlinguistik, die Segmentierung des Textes bis auf die Wortebene, gefällt, denn letzten Endes geht es auch um eine Zerstückelung der Möglichkeit einer gemeinsamen, sich gegenseitig verstärkenden Stimme marginalisierter Personen).

Mit einer PoC-Freundin, die auch literarisch schreibt, sprach ich kürzlich über diese Tokenisierung, die unserer Meinung nach mit der Undurchsichtigkeit des Literaturbetriebes zusammenhängt, die sich für diejenigen Player verschärft, die nicht schon Teil des Spiels sind. Wenn wir uns zunächst einer vereinfachten Pauschalisierung hingeben, so kommen wir schnell zu dem Ergebnis, dass der Literaturbetrieb, wie alles innerhalb eines marktwirtschaftlichen Systems, nach zwei sehr grundsätzlichen Regeln funktioniert:

1. Es muss mehr Konsument*innen (d.h., Leser*innen) geben als Produzierende und
2. Diese Produzierenden müssen auf dem Markt profitabel sein.

Für den ersten Punkt muss eine künstliche Güterknappheit gewährleistet werden. Im deutschsprachigen Raum ergibt sich diese aus der Verzahnung unterschiedlicher Gatekeepingmechanismen: Literaturagenturen und Verlage, die darüber entscheiden, was veröffentlicht wird, Stipendien und Preise, die darüber entscheiden, wer Verlagen, Agenturen und ersten Leser*innen auffällt, und Kritiker*innen und Reviewer*innen, die eine stellvertretende Bewertung für die Leser*innenschaft vornehmen, und Bücher empfehlen, verreißen oder ignorieren können. Damit die Produzierenden auf dem Markt profitabel sind, müssen sie bei den Kosument*innen das Verlangen auslösen, die von ihnen erschaffenen Produkte zu erwerben, d.h. also Bücher oder andere Formen literarischen Outputs, Onlinelesungen etwa oder Diskursformate.

Wenn wir nun also die gesellschaftliche Norm als cis-männlich, weiß und heterosexuell definieren[3], dann verwundert es zunächst nicht, dass die Eigenschaften, die Leser*innen gerne in ihren Protagonist*innen und Autor*innen sehen wollen, eben diese cis-männlich, weiß und heterosexuell normierten Eigenschaften sind. Das heißt, alle Positionen, die dieses Verlangen nicht erfüllen, werden zunächst als weniger profitabel gewertet, und werden tendenziell vom Markt ausgeschlossen. Dadurch wird verhindert, dass sich die Nachfragestrukturen im Mainstream des Literaturbetriebs grundlegend ändern können, weil Leser*innen so Gewohnheiten und Erwartungen entwickeln, die sich durch die Angebotsstruktur des Marktes erst bedingen.

Gleichzeitig ändert sich aber die Zusammensetzung unserer Gesellschaft stetig weiter, und die Ideen und Grundsätze der Leser*innenschaft ändern sich ebenso. Durch gesellschaftlichen Wandel kommt es außerdem immer wieder zu Situationen, in denen bestimmte marginalisierte Positionen in den Fokus rücken, ihre Stimmen mehr Gehör finden. Momentan findet im Rahmen von Black Lives Matter eine globale Solidarisierungsbewegung statt, die dazu führen könnte, dass tatsächlich auch im deutschsprachigen Literaturbetrieb eine Vielfalt an Stimmen längerfristig gehört wird. Problematisch bleibt aber das Sättigungspotential, das aus den oftmals weißen, cis-männlich, heterosexuellen und bildungsnahen Gatekeeperpositionen bestimmt wird. In anderen Worten: Trends bleiben für Entscheider*innen Trends. Auf den Trend aufzuspringen ist profitabel, aber um dem Trend zu folgen reicht es vielleicht, ein bis zwei neue Autor*innen, die Schwarz oder People of Color sind, unter Vertrag zu nehmen. Dies kann aber natürlich niemals die Bandbreite unserer Stimmen abdecken. Wichtig ist und bleibt also zum einen die Solidarität miteinander. Wir müssen einander ermutigen, helfen, empowern, damit möglichst viele Geschichten aus marginalisierten Positionen gehört werden.[4] Wir müssen als Leser*innen diejenigen Verlage, Literaturförderungen und Agenturen stärken, die sich um eine größere Bandbreite an Literatur bemühen und von denen es zum Glück immer mehr gibt. Gerade wenn wir in Entscheider*innenpositionen hineinrutschen müssen wir dafür Sorge tragen, dass wir so viele Geschichten wie möglich sichtbar machen. Dazu gehört, dass wir natürlich auch besonders die Stimmen derjenigen Personen, die noch gar kein Gehör finden, stärken. Dazu gehört auch, uns nicht davon abhalten zu lassen, aus kleinteiligen Wortsegmenten zurück zu unserer eigenen Stimme zu finden. In anderen Worten: Unsere Geschichten sollen nebeneinander stehen können, und nicht für einander und sie können und sollen mehr sein als eine Einordnung in eine Zuschreibung von innen oder von außen. Diese erzählerische Vielfalten müssen, wie sie es jetzt bereits begonnen haben zu tun, die Fesseln der zugeschriebenen „Migrationsliteratur“ sprengen dürfen.

Es stimmt also, wir sind so nicht. Wir sind viel mehr als das. Und im Literaturbetrieb muss Raum geschaffen werden, diese Vielfalt abzubilden, eine echte Diversity zu schaffen, anstatt sich auf Symbolhaftem auszuruhen.

 

[1] Ich schreibe in Selbstbezeichnung Woman of Colour nicht of Color, auch wenn die amerikanische Schreibweise in Deutschland gängiger ist. Die britische Schreibweise verwende ich, um auf die britische Kolonialvergangenheit in Südafrika hinzuweisen.

[2] Vgl. Chimamanda Ngozi Adichies TED Talk: „The danger of a single story”.

[3] Auf identity politics möchte ich an dieser Stelle auch nicht näher eingehen, empfehle aber für eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit dem Thema den Sammelband Trigger Warnung, erschienen 2019 im Verbrecher Verlag.

[4] Ich beziehe mich in diesem Artikel aus gegebenem Anlass besonders auf BIPoC-Personen, möchte aber andere marginalisierte Positionen explizit mit einschließen.

Photo by Jan Genge

Fantasierte Maulkörbe – Über den Offenen Brief des PEN zu Lisa Eckhart

von Andrea Geier

Die Präsidentin des deutschen Ablegers des Schriftsteller*innenverbandes PEN, Regula Venske, warnte am 10. August 2020 in einem Offenen Brief vor einer falschen Reaktion auf Gewaltdrohungen gegen Künster*innen und Veranstaltungen: „Ob die Gewalt von rechten oder linken Extremisten, von religiösen Eiferern oder Psychopathen angedroht wird: Wir dürfen uns ihr nicht in vorauseilendem Gehorsam beugen.“

Das klingt nach einem Statement für Meinungs- und Kunstfreiheit, das man von einem Schriftsteller*innenverband erwarten darf. Der Haken an der Sache ist der Anlass: Die Absage einer Lesung von Lisa Eckhart beim HarbourFront Literaturfestival in Hamburg. Als der Offene Brief des PEN veröffentlicht wurde, gab es bereits eine Presseerklärung des Veranstaltungsortes Nochtspeicher Hamburg, dass es, anders als zuvor behauptet, keine konkreten Drohungen gegen die Lesung von Lisa Eckhart gegeben hat:

Angesichts der Erfahrung mit der MartensteinLesung (sic!) und nach besorgten Warnungen aus der Nachbarschaft (nicht, wie inzwischen kolportiert, ‚Drohungen‘) waren wir uns sicher, daß die Lesung mit Lisa Eckhart gesprengt werden würde, und zwar möglicherweise unter Gefährdung der Beteiligten, Literaten wie Publikum.

Diese Presseerklärung ist selbst in hohem Maße interpretationsbedürftig. Denn die Lesung von Harald Martenstein aus dem Jahr 2016 wurde zwar offenbar unterbrochen, konnte aber insgesamt bis zum Schluss wie geplant stattfinden. Aber ein Punkt lässt sich trotzdem klar entnehmen: Es gab keine Drohungen gegen den Auftritt von Lisa Eckhart. Kein „Schwarzer Block” „der Antifa“ (Michael Hanfeld, FAZ), nirgends. Diese Korrektur war auch in der Presseberichterstattung bereits aufgegriffen worden. So hatte etwa Dirk Peitz auf ZeitOnline am 8. August treffend kommentiert, dass die Cancel Culture-Debatte im Fall Eckhart eine „Gespensterdebatte“ ist, und dabei auch einige der wüsten Fantasien aus anderen Beiträgen kurz zitiert. Regula Venske übergeht nun in dem Offenen Brief noch Tage später die Korrektur der Veranstalter*innen und rückt stattdessen das Thema Gewalt in den Mittelpunkt. Blöd gelaufen? Uninformiert? Wichtiges Thema, nur falscher Anlass, einmal gemeinsam genickt zur Bedeutung von Kunstfreiheit und abhaken?

Der Offene Brief des PEN hat mehr Gewicht als nur ein weiterer ärgerlicher Zeitungsartikel, in dem von „Blockwartmentalität“ schwadroniert wird. Und es ist offensichtlich, dass es sich bei der verzerrenden Darstellung nicht um ein Versehen handelt. Denn sie steht im Einklang mit einer Positionierung, die Regula Venske als Präsidentin des PEN bereits in der Debatte um das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer im Jahr 2017 bezogen hatte. Auch damals war die Freiheit der Kunst nicht bedroht. Die Alice Salomon Hochschule machte lediglich von ihrem Hausrecht Gebrauch, die Südfassade ihres Gebäudes zu gestalten. Das Gedicht konnte und kann weiterhin von allen, die es lesen wollen, gelesen werden. Trotzdem warnte der PEN 2017: „Wir sind zutiefst beunruhigt über eine Entwicklung, die darauf abzielt, der Kunst einen Maulkorb vorzuspannen oder sie gar zu verbieten.“ Der herbeigeschriebene „Maulkorb“ wurde auch schon im Gomringer-Fall durch den Begriff „Zensur“ ergänzt, und genau das wiederholt sich nun im Offenen Brief anlässlich der Lesungsabsage 2020:

Es gibt vielfältige Formen von Zensur, klassisch durch staatliche Obrigkeit, moderner (aber vielleicht nicht einmal das) durch organisierte Kriminalität und/oder politischen Terror, verschärft in beiden Fällen durch die Duldung und Straflosigkeit seitens eines handlungsunfähigen Staates. Und, noch moderner, durch ‚Volksabstimmung‘ im Internet.

Was da „im Internet“ vor sich ging, ist Teil einer nun mittlerweile lang andauernden, kontroversen Auseinandersetzung beispielsweise darüber, ob Eckharts Comedy antisemitisch ist oder Antisemitismus entlarvt. Diese Diskussionen haben aber nicht die Absage der Lesung verursacht. Kritische Debatten „im Internet“ pauschal zu einer von verschiedenen „Formen von Zensur“ zu erklären, ist ein Armutszeugnis für den PEN, eine Organisation, die aus der eigenen Arbeit für verfolgte Autor*innen den Unterschied zwischen Zensur und Kritik sehr wohl kennt.

Es handelt sich um eine bewusste Dramatisierung, der jedes Mittel Recht scheint, um ein Feindbild aufrecht zu erhalten. Dieses Feindbild heißt wahlweise ‚Political Correctness‘ oder neuerdings, gewissermaßen als Variante, welche die Effekte einer angeblich machtvollen ‚PC-Kultur‘ beschreibt, ‚Cancel Culture‘. Dieses Feindbild wird von Teilen eines sich selbst als liberal verstehenden Milieus offensichtlich dringend gebraucht, um sich der eigenen Werte zu versichern. Dabei stößt die liberale Warn-Rhetorik nicht nur diejenigen vor den Kopf, die in Übereinstimmung mit den Prinzipien von Kunst- und Meinungsfreiheit Kritik formulieren. Sondern sie ist in ihrer verallgemeinernden Bedrohungs- und Warn-Rhetorik auch kaum mehr von der Agitation einer Rechten unterscheidbar, die wiederum durchaus konkrete Vorstellungen von den Grenzen der Kunstfreiheit hat. Das jedoch scheint diese liberalen Verfechter*innen von Freiheit und Kunst nicht zu bekümmern. Sollte es aber. Wer Kritik Zensur nennt, wer sich für die Bewertung eines Einzelfalles nicht mehr interessiert, sondern unterschiedliche Ereignisse nur mehr in eine feststehende Projektion einsortiert, um sich als Verfechter*in von Freiheitsrechten in Szene zu setzen, schadet der Debattenkultur.

Was bleibt? Lisa Eckhart wurde eingeladen, in Hamburg an einem anderen Ort zu lesen, hat dies aber offenbar mittlerweile abgelehnt. Prächtige öffentliche Promotion für ihr Buch hat sie so oder so erhalten. Mit Unterstützung des PEN. Zum wiederholten Mal gab und gibt es weiterhin eine fehlgeleitete, geradezu schon klischeeartige Skandalisierung. Die Anzahl der Artikel, die sich bemühen, auch nur einzelne Aspekte des Streits sachlich darzustellen, etwa indem sie darauf hinweisen, dass es eine gefühlte und keine reale Bedrohungslage war, die die Absage verursachte, sind den „Hexenjagd“-Rufen an Zahl weit unterlegen. Aber es gibt sie. Und es gilt, diesen Stimmen Gehör zu verschaffen. Um eins klarzustellen: Das Problem unserer Debattenkultur ist nicht, dass es dabei auch zu Skandalen kommt. Skandalkommunikationen lassen sich im Wesentlichen als Kristallisationspunkte für strittige, gesellschaftlich als relevant angesehene Fragen verstehen. Problematisch ist deshalb nicht, dass etwas skandalisiert wird, sondern was von wem zu welchen Zwecken skandalisiert wird. Mit Lisa Eckhart als Fall für ‚Zensur‘ oder ‚Cancel Culture‘ haben wir einen fantasierten Skandal, an dem sich viele öffentlichkeitswirksam abarbeiten, und der innerhalb der knappen Aufmerksamkeitsressourcen den Raum für andere Debatten wegnimmt. Wer wirklich möchte, dass man angesichts neuer Diskussionen über Ethik und Ästhetik im Kulturbetrieb auch über gefühlte Bedrohungen und den Umgang damit sprechen kann, muss dafür einen Raum jenseits plakativer Feindbilder schaffen. Die Preisfrage lautet: Haben diejenigen, die bei Kritik zu den schlimmstmöglichen Vergleichen wie „Zensur“ greifen, daran Interesse?

Photo by Nick Fewings on Unsplash