Harry Graf Kessler, Tagebuch eines Weltmannes – Ulrich Ott (Hrsg.)
Knapp zehn Jahre ist es her, dass man sich Leben und Werk Harry Graf Kesslers kaum fundiert nähern konnte. Die schwer zu transkribierenden Tagebücher, weil wohl in winziger Krakelschrift, nur in einer Auswahl erhältlich, keine seriöse Biographie auf dem Markt, überall waren nur Schnipsel dieses großen, übervollen curriculum vitaes* zu erhaschen. Die beste Einführung gab bis vor einer Dekade der von Ulrich Ott herausgegebene Katalog zur Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum in Marbach von 1988. Am heutigen Tag gibt es zwei ernstzunehmende Biographien, eine bei Klett-Cotta erschienen (inzwischen aber auch wieder vergriffen und nur antiquarisch zu bekommen), eine im Siedler Verlag (im Ergebnis umstritten, aber von FJR gelobt) und die grandiose auf neun Bände angelegte Edition seiner Tagebücher, in denen, wie man sagt, circa 40.000** Zeitgenossen auftauchen. Scheut man aber deren 7000-seitige Lektüre oder die einer umfassenden Biographie, so bleibt der Marbach-Katalog ein wunderbar bebilderter Einstieg.
Die damalige Ausstellung, so der Herausgeber, gehört nur scheinbar zu jenen, deren Thema durch das Leben und Werk einer einzelnen Person umschrieben ist. Wohl bildet dieser Mann den Mittelpunkt, den Schnittpunkt aller Linien, doch in Wirklichkeit wird durch ihn eine europäische Epoche sichtbar, fast Tag für Tag dokumentiert in den Aufzeichnungen seines Lebens, das in einem eigenen Sinne an den Knotenpunkten stand, von denen die Stränge zum Neuen ausgehen. Kessler war weder eigentlich Politiker noch Künstler, aber in seinen unendlichen Beziehungen ein ganz politischer, ganz in der Wirksamkeit für Kunst und Literatur stehender Mensch, homme de lettres in einem in Deutschland sonst kaum vertretenen Typus.
Tagebuch eines Weltmannes ist ebenfalls nur noch antiquarisch zu erhalten, aber mit einem Preis von 10-25 Euro zu einem erschwinglichen Preis, den es auszugeben lohnt.
*Extra nachgesehen: müsste der richtige Genitiv sein.
**Eine kleine, interessante Darstellung Kesslers Netzwerk gibt es dazu hier.
Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich – Xaver Bayer
Was gäben wir dafür zu wissen, wer wir sind.
Eines der eindrucksvollsten Bücher meines bisherigen Jahres und unmöglich zu beschreiben. Zum einen weil es in Geheimnisvolles Knisten aus dem Zauberreich keinen roten Faden, keine Geschichte im eigentlichen Sinne gibt, zum anderen weil Xaver Bayer in einer leichten Sprache über ernste Themen hinweggleitet, erst beim zweiten Blick die Tragik des Erzählten offengelegt wird. Miniaturen von manchmal gerade einer halben Seite und alle stecken voller Schönheit und Geschichten, die große Erzählkunst in wenigen Sätzen riesige Szenen zu bannen beherrscht Xaver Bayer bis zur Meisterschaft und ganz nebenbei gelingen ihm dabei aphoristische Wunderbarkeiten. Ein grandioses Buch voller tiefgründiger Schönheit! Unbedingt lesen!
Kommt, Geister – Daniel Kehlmann
Die Tradition der Frankfurter Poetik-Vorlesungen ist eine wunderbare. Uwe Johnson, Heinrich Böll, natürlich Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Koeppen, Dürrenmatt, Grass, Jens* referierten über die deutsche Literatur. Nun also auch Daniel Kehlmann dessen Vorlesungen in hübscher Ausgabe bei Rowohlt erschienen sind.
Völlig außer Frage steht bei Kehlmann dessen kluger Kopf, ein Großfeulletionist, der leider momentan zu wenig in Zeitungen veröffentlich. Bereits sein Band Lob mit gesammelten Essays und Rezensionen zeigte deutlich wie treffend und klar der Bestsellerautor analysieren und schreiben kann. Das ewige Loblied auf die unsägliche Vermessung der Welt verklärt einen der Intellektuellen dieses Landes leider zu einem Unterhaltung-mit-Niveau-Schriftsteller.
Peter Alexander dient dabei dem Dozenten als Türöffner, um über große Literatur zu sprechen und im wilden Ritt in fünf Vorlesungen durch die Geschichte zu reiten. Shakespeare und Tolkien, Grass und Grimmelshausen – was der Journalist und Essayist Kehlmann anfasst gelingt, anders als es dem Autor von Romanen manchmal vergönnt ist.
*Die Lewitscharoff Vorlesungen Vom Guten, Wahren und Schönen sind auch sehr zu empfehlen, garantiert ohne Rüpeleien über zwittrige Reagenzglaskinder und hässliche Menschen im Sommer.