Deutschland postmigrantisch? Rassismus, Fremdheit und die Mitte der Gesellschaft
Das Thema Migration wird überschattet von der sogenannten Flüchtlingskrise, die ja nun unsere, deutsche Krise ist – für andere hat sie schon vor einiger Zeit begonnen. Aber das interessierte nicht so sehr, solange sie sich hauptsächlich jenseits europäischer Grenzen abspielte oder zumindest nicht nördlich von Lampedusa. Die deutsche Flüchtlingskrise scheint wiederum eine deutsche Identitätskrise auszulösen – pendelnd zwischen Gutmenschen-Willkommenskultur und offenen Grenzen auf der einen Seite, brennenden Flüchtlingsheimen und verschärften Asylgesetzen auf der anderen. Vielleicht am bemerkenswertesten an dieser Entwicklung war für mich allerdings nicht die Zerrissenheit der deutschen Seele, sondern die Amnesie, mit der diese Krise und die Identitätsfragen, die sie hervorrief, behandelt wurden, als seien sie ein völlig unerwartetes Phänomen. Als würden nicht schon seit einem Jahrzehnt jährlich Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, als hätte es Solingen, Mölln oder Rostock nie gegeben, auch keine herzerwärmenden Lichterketten und "Mach’ meinen Kumpel nicht an!"-Kampagnen. Ganz zu schweigen von den kritischen Interventionen rassifizierter und migrantisierter Gruppen und Individuen, die seit Langem auf strukturelle Probleme hinweisen, die durch steigende Zahlen von Flüchtenden vielleicht aktiviert, jedoch keineswegs ausgelöst wurden, da sie eben nicht von außen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommen.[1] Diese strukturellen Probleme wurden mehr als deutlich etwa in der ein Jahrzehnt währenden Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) und ebenso im öffentlichen und offiziellen Umgang mit ihr, von "Dönermord"-Schlagzeilen bis zu staatlicher Aktenvernichtung.Rassistische Gewalt wird dennoch noch stets nicht als strukturelles deutsches – und europäisches – Problem ernst genommen, nicht als Terror(ismus) begriffen, sondern als Exzess randständiger Extremisten und gestörter Einzelgänger – im Gegensatz etwa zu der Attacke auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" im Januar 2015, die nahtlos in den diskursiven Rahmen des "islamistischen Terrorismus" passte.[2] Dies ist ein Terrorismus wiederum, der sowohl als fundamentale Bedrohung Europas als auch als repräsentativ für den Islam an sich verstanden wird. Die "Je suis Charlie"-Kampagne nach dem Pariser Attentat war als Zeichen der Solidarität gemeint, aber funktionierte auch als Symbol der kollektiven Gefährdung des weißen Europas durch muslimischen Terror. Umgekehrt fehlt jeder Ausdruck einer kollektiven europäischen Verantwortung für den rassistischen Terror gegen Migranten und Europäerinnen of color. Und die ist eben nicht das Gleiche wie die kollektive Abgrenzung vom "fremdenfeindlichen" Pöbel, der mit Vorliebe im Osten und in der Unterschicht ausgemacht wird, also weit weg von den aufgeklärten Räumen des Feuilletons oder der Universität.
Postmigrantisch und postrassistisch: USA als Modell?
Genau hier liegt das Problem und liegt einer der fundamentalen Unterschiede zum Umgang mit Migration und Rassismus in den USA, einem Umgang, der in Europa oft als übertriebene "Political Correctness" wahrgenommen wird. Aber was sich hinter diesem anderen Umgang verbirgt, ist ein schwieriger und unabgeschlossener Prozess, der alle Bereiche der US-amerikanischen Gesellschaft berührt. Auch wenn sich die Charakterisierung der USA als "postracial" oder "postrassistisch" seit Barack Obamas Regierungsantritt ungebrochener Popularität erfreut, befindet sich das Land noch immer und notwendigerweise im Stadium des "racial". Hiermit meine ich hier nicht in erster Linie die offensichtlich noch existierenden rassistischen Strukturen, sondern ihre Benennung, das heißt die anhaltenden öffentlichen Auseinandersetzungen darum, was "racial" am US-System ist. Wie unter anderem die Bewegung "Black Lives Matter" betont, ist dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen.[3] Vielleicht ist er sogar noch stets am Anfang, aber er hat seit den 1960er Jahren elementare gesellschaftliche Veränderungen produziert, Veränderungen, von denen Deutschland noch weit entfernt ist.Wenn wir "postmigrantisch" analog zu "postracial" als eine Zustandsbeschreibung betrachten oder als die Postulierung einer Überwindung, des Fortschritts zur nächsten Stufe in einem beständigen Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung, dann lässt sich feststellen, dass Deutschland bestenfalls den ersten Schritt zur Auseinandersetzung mit dem Migrantischen getan hat, von "postmigrantisch" kann gar keine Rede sein. Sicher, seit fast 60 Jahren, also seit zwei Generationen, ist Migration (wieder) ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft, aber gerade die Begeisterung, mit der die sogenannte Flüchtlingskrise und der angeblich beispiellose Zustrom "Fremder" als neues Phänomen dargestellt wird, zeigt etwas Anderes: Die Krise wird benutzt, um die zögerlichen Schritte zur Migrantisierung der Gesellschaft beziehungsweise der gesellschaftlichen Debatten seit den 1980er Jahren ungetan zu machen. Auf einmal ist alles wieder ganz einfach: Hier die weißen deutschen Helfer(innen), die sich ihre Privilegien wohl verdient haben und nicht daran denken, sie aufzugeben, die aber voller Sympathie für die weniger Glücklichen sind – und dort eben jene braunen Opfer legitimer Gewalt (das heißt vor allem Opfer US-amerikanischer militärischer Aggression, nicht europäischer ökonomischer Ausbeutung wie die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge).
Ebenfalls präsent, aber punktuell in den Hintergrund gedrängt (zumindest in der populären Imagination) ist der Gegenpart der guten Lichtgestalten, die bezeichnenderweise sogenannten Dunkeldeutschen – deren erwiesenes Gewaltpotenzial dennoch nicht als fundamentale Bedrohung wahrgenommen wird, zumindest nicht als eine, die nicht durch Willkommensgeschenke an Flüchtlinge neutralisiert werden kann. Und das funktioniert so gut, weil die anderen dunklen Deutschen inzwischen wieder ganz aus der Imagination gefallen sind: Rassifizierte und migrantisierte Deutsche sind in den öffentlichen Debatten fast gänzlich unsichtbar. Wenn sie eine Fluchtgeschichte im direkten Familienhintergrund haben, dürfen sie manchmal erzählen, wie das für sie war mit der Integration, aber ansonsten wird deutsch wieder weiß und christlich (beziehungsweise christlich sozialisiert) gedacht. Was immer sich verschoben und verkompliziert hatte über die vergangenen Jahre, ist im Zuge dieser Krise wieder auf die altgewohnten Kategorien eingenordet worden.