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Frühkritik | Beitrag vom 06.12.2019

Hannelore Cayre: "Die Alte"Eine Frau trickst Dealer und Polizei aus

Von Thomas Wörtche

Auf dem Buchcover "Die Alte" von Hannelore Cayre ist Feuerwerk auf schwarzem Hintergrund zu sehen.  (Argument Verlag + Ariadne / Deutschlandradio)
Die Autorin und Anwältin Hannelore Cayre ist hierzulande besonders mit Romanen um den schmierigen Winkeladvokaten Leibowitz bekannt geworden. (Argument Verlag + Ariadne / Deutschlandradio)

Die Heldin aus "Die Alte" arbeitet als Arabisch-Dolmetscherin für die Polizei - und startet eine bemerkenswerte Dealerkarriere. Die französische Schriftstellerin Hannelore Cayre kreuzt in ihrem Krimi Genderfragen, Alltagsrassismus und Systemkritik.

Systeme, bürokratische, politische und soziale Systeme, sind immer angreifbar, wenn man nur weiß, wie es geht. Patience Portefeux, die Heldin von Hannelore Cayres neuem Roman "Die Alte", ist eine Virtuosin darin. Sie stammt aus einer ehemals reichen und gierigen Familie, die zunehmend verarmt ist und muss sich ihren kargen Lebensunterhalt als Arabisch-Dolmetscherin für die Polizei verdienen.

Sie hört hauptsächlich Telefonate von Dealern ab, die auf Arabisch miteinander kommunizieren. Als eine Tonne Haschisch auf dem Weg nach Paris "verloren" geht, schlägt ihre große Stunde: Verkleidet als maghrebinische Geschäftsfrau, die man bald respektvoll "die Alte" nennt, vertickt sie den Stoff an die lokalen Dealer, und trickst dabei die Polizei gleich mit aus - auch und gerade weil sie sich einen Polizisten als Lover hält. Die Alte ist ausgekocht, nicht aufs Maul gefallen, schnell im Kopf und vor allem bei der Durchsetzung ihrer Ziele ohne jeden Skrupel.

Krieg gegen die Menschen aus den Banlieus

Hannelore Cayre, geboren 1963, ist Anwältin, genauer Strafverteidigerin. Mit zwei Romanen um den schmierigen Winkeladvokaten Leibowitz ist sie bei uns bekannt geworden. Zwei Romane, die gnadenlos die grotesken Defizienzen des französischen Rechtssystems sezierten und es Spott und Häme schon fast wollüstig aussetzten.

So auch in "Die Alte". Die Polizei ist auf den absurden Krieg gegen die Drogen fixiert, der auch ein Krieg gegen die Menschen aus den Banlieus ist. Sie interessieren die Polizei so wenig, dass sie prekär und unterbezahlt beschäftige Dienstleister einsetzen muss, um sie überhaupt ansatzweise zu "verstehen". Und auch deswegen kann Madame Portefeux als weiße Frau aus der Mittelklasse unbeachtet agieren.

Lakonisch, boshaft und sensibel

Mit dem Banlieu-Thema sind gleichzeitig alle Probleme des französischen (Post-)Kolonialismus und des Alltagsrassismus verbunden, von Hannelore Cayre dialektisch geschickt kontrastiert durch eine chinesische Familie, die mindestens genauso kriminell ist wie die Alte und genauso clever unter dem Radar bleibt. Man versteht sich auch ohne Worte. Und natürlich spielt das Ganze in einer Welt, in der Frauen a priori marginalisiert sind, von den Cops genauso wie von arabischen Dealern. Patience Portefeux muss eigentlich nur den Umkehrschub all dieser unguten Verhältnisse zünden, um mit fröhlichem Zynismus ihre eigene Agenda durchzuziehen. 

Cayres Prosa ist von rasanter Lakonie, biestig, boshaft, ätzend, tödlich präzise, scheuklappenfrei und dabei sensibel. Ihre Komik balanciert dabei clever zwischen Handlungs- und Sprachkomik, aber wer in "Die Alte" eine Satire sehen möchte, irrt, so fürchte ich. Satire überzeichnet. Hannelore Cayres Romans dagegen trifft die gesellschaftlichen Verhältnisse schon fast hyperrealistisch.

Hannelore Cayre: "Die Alte"
aus dem Französischen von Iris Konopik
Argument Verlag + Ariadne, Hamburg 2019
203 Seiten, 18 Euro

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