Guntram Vespers Roman : Wanderer, kommst du nach Frohburg
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„Für etwaige Zweifler also sei es Roman!“ steht auf dem letzten Arbeitszettel, rotumrandet. Es gibt allerdings, trotz dieses Fontane-Zitates, keinen Zweifel an „Frohburg“. Bild: Daniel Pilar
Tausend Seiten und kein bisschen zu lang: Was Guntram Vespers Roman zur Geschichte seiner Familie so virtuos macht, zeigt sich beim Besuch des Autors und am Ort des Geschehens.
Guntram Vesper wird in diesem Jahr 75 Jahre alt, und in diesem Jahr ist auch sein erster Roman erschienen. Als ob das späte Debüt – natürlich nur als Romancier, denn Vespers Publikationsliste seit seinem ersten Lyrikband, „Fahrplan“ von 1964, ist umfangreich – gerechtfertigt werden müsste, ist das Buch mehr als tausend Seiten dick geworden. Aber es ist ja auch das Resultat einer Materialsammlung, die so lange währt, wie Vespers Leben dauert.

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„Frohburg“ heißt der Roman, nach dem Namen der sächsischen Kleinstadt, knapp vierzig Kilometer südlich von Leipzig, in der Guntram Vesper 1941 zur Welt kam. Gemeinsam mit den Eltern und einem jüngeren Bruder verließ er sie 1957, die Familie zog in die Bundesrepublik. Doch richtig verlassen hat Vesper Frohburg nie: „Nähe, zeitlich, räumlich, in Gedanken, ein Leben lang“, heißt es einmal im Roman mit Blick auf die Stadt. Und ein anderes Mal: „Sie lieferte im rein guten, so es das gibt, und im weniger guten die Meßlatte, die Richtschnur und, im heutigen Sprachgebrauch, die Grundkonfiguration.“
Nur die Erinnerungen blieben
Ursache dafür ist, dass Vesper in Frohburg erfuhr, was Erzählen bedeutet. „Jeden Sonntag, jahrzehntelang, traf sich die Familie im Haus der Großeltern. Es gab endlose Gespräche, die Zeiten griffen tief in das Leben des einzelnen und aller ein.“ Das schrieb er 1985, in einem Artikel für die „Süddeutsche Zeitung“, gerade war wieder einmal ein neuer Gedichtband erschienen, und der trug bereits den Namen „Frohburg“. Seinem Klappentext kann man entnehmen, dass sich diese Gedichte „auf eine umfangreiche Sammlung von Notizen, Erinnerungen und Aufzeichnungen“ stützten, an der Vesper seit Jahren arbeite.
In seinem Arbeitszimmer in Göttingen – Vesper kam 1963 hierhin, um Medizin zu studieren, und blieb auch da, als er sich für den Schriftstellerberuf entschied – liegen fein säuberlich im Regal gestapelt zahllose dunkle Mappen. Das ist der Grundstock für den Roman „Frohburg“. Da die Ausreise 1957 illegal erfolgte, konnte die Familie kaum etwas mitnehmen. Nur die Erinnerungen blieben. Vesper ergänzte sie im Laufe der Jahre durch eine umfangreiche Dokumentation.
Im Lyrikband „Frohburg“ fand sein Heimweh, das nicht an den konkreten Ort, sondern an dessen Erinnerung geknüpft ist, 1985 zum ersten Mal Ausdruck, und es ist verblüffend, wie ähnlich dessen Titelgedicht den Selbstaussagen des mehr als dreißig Jahre später erschienenen Romans ist: „Auf dem Weg in die Schule / durch Thälmannstraße / Schlossergasse, Hintergraben / dem fernen Dröhnen aller / Aufmärsche und Umzüge nach / sah ich die Stadt / wie mich selber / halb ja und halb / nein.“
Eine Filterwirkung namens „Frohburgimpuls“
Zwischen den beiden „Frohburg“-Büchern lag 1992 die Publikation von Vespers Prosasammlung „Lichtversuche Dunkelkammer“, in der er festhielt, warum er von Frohburg nie lassen würde: „Die Jahre der Kindheit in Sachsen bestehen im Rückblick aus Stimmungen und Einfärbungen, die sich als Filter vor die Welt, wie lang oder weit sie auch war, gelegt haben. Aus diesem Kindheitsgefühl treten bis heute einzelne Erfahrungen und Erlebnisse hervor, die so tief gingen oder von so merkwürdigen Umständen begleitet waren, daß sie nicht überlagert wurden im Laufe der Jahre und zerfielen.“ Im Roman nennt Vesper diese Filterwirkung den „Frohburgimpuls“.