Radikale Kritik

Statement

„Im Grunde fangen wir zu früh an, Kritiken zu schreiben“ zitierte Martin A. Hainz Anton Thuswaldner zu Beginn dieses Experiments literarischer Kritik. Wenn ich mir jetzt die Folge von Kommentaren anschaue, dann bin ich freudig überrascht von dem Ergebnis. Die Diskussion setzt wirklich immer wieder neu an, wirft neue Fragen auf und bringt neue Impulse ein. Die dialogische Kritik hat – und hier schließt sich ein Kreis von Martins Aufschlag zu Kristoffers letztem Kommentar – eine Verortung von Kritiker*in und Autor*in ermöglicht, die zugleich ungewohnt und sehr interessant ist.

Im doppelten Dialog von Verfasser*in und Kritiker*in bleiben beide Seiten sichtbar. Die Interpretation ist hier also beides (und das ist entscheidend!): eine Aneignung des Textes mit den Mitteln der Interpretation und eine Reflektion der eigenen gesellschaftlichen Position, die gewisse ästhetische und normative Rezeptionsraster in Autor*in wie Kritiker*in einschreibt. Mir scheint hier eine Erweiterung jenes Konzepts der totalen Souveränität der Leser*innen angelegt, wie sie nach Barthes Tod des Autors populär geworden ist (und die wir auch in Kritikrunden des Lyrikkollektivs G13 respektieren, indem der Autor / die Autorin bei einer Diskussion des Textes erst einmal den Mund hält).

Im A.H.A.S.V.E.R wie auch in den Jubeljahren geht es mir um Fragen wie: Was wissen wir / wisst ihr von jüdischer Identität? Wie wird dieses (Un-)Wissen erzeugt, welches Begehren steht dahinter und was hat das wiederum mit der Konstruktion einer (deutschen) Identität zu tun? Dabei ist Kristoffers Frage, ob Rache eine unmoralische und daher abzulehnenden Haltung nur eine von vielen, die sich dabei ergeben haben. Als problematisch stellt sich ebenfalls die Überschreitung eines mehr oder weniger geteilten Referenz- und Wissenshorizontes deutscher Kritiker*innen heraus. Eine Rezensentin der FAZ führte diese Ambivalenz jüngst dazu, dem Autor ihr Unwissen zum Vorwurf zu machen. Das erlebe ich häufiger.

All diese Fragen sind eng verbunden mit einem Konzept radikaler gesellschaftlicher Diversität, das gegenwärtig wieder den Charakter einer konkreten weil bitter notwendigen Utopie angenommen hat. In Bezug auf eine literarische Kritik bedeutet das ein Aushalten jener moralischen, ästhetischen und intellektuellen Ambivalenz, die entsteht, wenn der Andere einem als Anderer entgegentritt. Ich denke, das bedeutet kein weniger an Interpretation oder Urteilen, sondern ein mehr an darin enthaltener Reflexivität. Ich denke, unsere Diskussion hat das eindrucksvoll demonstriert.